Hamburg/Jersbek. Der Tierforscher kann die anmutigen Vögel anhand ihrer Rufe unterscheiden – und hat so ihr Verhalten untersucht.
In der linken Hand trägt er das Aufnahmegerät, den Daumen immer auf der Starttaste. In der rechten hält er das große Richtmikrofon. Im Rucksack stecken Datenspeicher und Verstärker. So wandert Bernhard Weßling durch den Duvenstedter Brook. Oder sitzt stundenlang im Gebüsch. Bis er etwas hört. Den Ruf, auf den er die ganze Zeit gewartet hat. Auf den er, wenn man so will, seit Jahrzehnten wartet.
„Die Kraniche sieht man die meiste Zeit gar nicht, sie leben überwiegend versteckt“, sagt Bernhard Weßling. Trotzdem kennt der 68-Jährige die Tiere im Duvenstedter und Hansdorfer Brook genau – und vor allem versteht er sie. Denn wer glaubt, die erhabenen Vögel trompeten einfach so vor sich hin, der irrt. Wenn Kraniche beginnen, im Duett zu rufen, dann verraten sie eine ganze Menge über sich, ihre Lebensweise, ihre Intelligenz. Man muss nur richtig zuhören. Das hat Bernhard Weßling getan – und ist heute der weltweit führende Experte für Kranichkommunikation.
Beitrag zum Umweltschutz
Weßling stammt aus dem Ruhrgebiet. Als Kind konnte er beobachten, wie die saubere Wäsche auf der Leine beim Nachbarn durch die über den Himmel ziehende Rußwolke aus der nahen Kokerei schwarze Flecke bekam und wie die Autos vor lauter Smog nur noch im Schritttempo fahren konnten. Als Student, nach dem dritten Semester Chemie, untersuchte er Fässer mit Giftmüll auf einer illegalen Mülldeponie, ein Ferienjob in Vollatemschutzkleidung zwischen hochgiftigem Cyanid und toten Tieren, die aus dem Tümpel getrunken hatten. Das hat ihn geprägt.
Als promovierter Chemiker leistete er einen Beitrag zum Umweltschutz, indem er eine Technologie entwickelte, mit der unter anderem Korrosion gestoppt werden und Material länger haltbar gemacht werden kann. Denn jede Neuproduktion erzeugt CO2. Den wohl noch größeren Beitrag leistet Weßling aber seit fast 40 Jahren in seiner Freizeit im Naturschutzgebiet hinter seinem Haus.
Mensch kommt den Tieren oft gefährlich nah
„Als wir 1981 hierherzogen, gab es in Hamburg und Schleswig-Holstein nicht mal eine Handvoll Kranichpaare“, sagt Weßling, „doch ausgerechnet in dem Jahr tauchte ein Graukranichpaar im Brook auf und gründete hier ein Revier“. Mit seinen Söhnen zog Weßling los, die anmutigen Vögel, in der griechischen Mythologie ein Symbol des Glücks, zu beobachten – und schloss sich schnell dem Kranichschutzprogramm an. „Es wird kaum einen anderen Ort auf der Welt geben, an dem wilde Kraniche in so enger Nachbarschaft mit Menschen leben wie hier“, sagt Weßling.
Das heißt aber auch: Der Mensch kommt den Tieren oft gefährlich nah, zum Beispiel beim Picknicken oder Fotografieren abseits der Wege. „Also haben wir die Kraniche bewacht – oder die Besucher, wie man es nimmt“, sagt Weßling. In der Brutzeit sogar von morgens bis abends, manchmal auch in der Nacht. Mit Erfolg: Im vergangenen Jahr kamen mehr als 30 Kranichpaare in den Duvenstedter Brook, von denen etwa ein Dutzend auch ein Revier verteidigen konnten.
Kraniche können Entscheidungen treffen
Während dieser vielen Stunden und Tage bei den Kranichen fiel Bernhard Weßling allerdings auf, dass da etwas nicht stimmen konnte. „Es hieß immer, Kraniche seien instinktgesteuert“, sagt Weßling. „Doch wenn man sie sehr genau beobachtet, dann erkennt man, dass sie planen, Probleme lösen und Entscheidungen treffen können.“ Weßlings Neugier war geweckt.
Aber es gab ein Problem: „Um das Verhalten eines Tieres studieren zu können, muss ich vorher wissen, mit wem ich es zu tun habe – also ob es dasselbe Paar ist oder ein anderes“, sagt Weßling. Da Beringen nicht in seine Philosophie passt, weil er die Tiere nicht stören will, musste er sich etwas anderes einfallen lassen, um sie auseinanderzuhalten. Dabei landete er bei ihren Rufen. „Der Duett-Ruf ist typisch für Kranichpaare“, erklärt Weßling.
Kraniche haben Emotionen, sie zeigen Trauer und Freude
„Das Männchen macht einen längeren, tiefen Ton, uuuooo, das Weibchen drei bis vier kurze Töne, iii, iii, iii, und das fünf- bis achtmal hintereinander.“ Da aber jeder Kranich anders uuuooo und iii macht, hat Weßling angefangen, die Klangmuster dieser Rufe am Computer zu analysieren. Damit kann er den einzelnen Vogel wiedererkennen – an dessen Stimme. Klingt kompliziert – ist es auch. Doch die jahrzehntelange Arbeit habe sich gelohnt, so Weßling: „Die Ergebnisse sind Durchbrüche in der Erkenntnis des Verhaltens einer ganzen Gattung.“
Jetzt weiß man: Die erhabenen Tiere sind nicht nur schön anzusehen, sie sind auch wesentlicher intelligenter als angenommen. So seien sie beispielsweise nicht genetisch gezwungen, im Winter in den Süden zu fliegen – und sie entscheiden laut Weßling darüber, wohin sie genau fliegen. Und sie haben Emotionen. „Ich habe beobachtet, wie sie in tiefe Trauer verfallen oder überschäumende Freude zeigen“, sagt der Forscher, der auch gleich noch mit einem Mythos aufräumt: Kraniche sind beileibe nicht monogam.
Erstaunliche Erkenntnisse
So kamen Männchen und Weibchen, die über Jahre als Paar unterwegs waren, plötzlich mit jeweils einem anderen Partner in den Brook. Und waren im nächsten Jahr dann wieder zusammen. „Kraniche sind eben auch nur Menschen“, sagt Weßling und lacht. Er hat ganz offensichtlich Spaß bei seiner Forschung.
Über seine erstaunlichen Erkenntnisse hat Weßling nun auch ein unterhaltsames Buch geschrieben. Darin erzählt er auch, wie er mit seinen Rufaufnahmen dabei geholfen hat, von Menschen aufgezogene Schreikraniche in Nordamerika auszuwildern. Die Aufnahmen wurden von einem Ultraleichtflugzeug abgespielt, was die Vögel dazu brachte, diesem zu folgen – mehr als 2000 Kilometer bis nach Florida. So lernten die Schreikraniche, ins Winterquartier zu ziehen. Überlebenstraining für eine vom Aussterben bedrohte Art.
Am Ziel ist Bernhard Weßling damit aber noch nicht. „Wir sind noch immer auf dem Weg, ein Massensterben der Arten zu vollenden“, sagt er. „Wir müssen endlich anfangen, richtigen Naturschutz zu betreiben.“
Dafür brauche es viel mehr Schutzflächen, in die der Mensch wirklich keinen Fuß setzt, viel mehr Bio-Landwirtschaft und sehr viel mehr Respekt vor der Natur. Solange er aber nicht die ganze Welt retten kann, macht Weßling bei sich im Brook weiter. Und kämpft dagegen, dass die zahlreichen Gräben, die dem Boden das Wasser entziehen, immer wieder ausgehoben werden. Denn Kraniche, das weiß nicht nur Weßling, brauchen Feuchtwiesen. Damit sie auch weiterhin Jahr für Jahr in den Brook kommen und hier aus ihrem Leben erzählen.