Hamburg. Abendblatt-Gespräch: Hamburgs Bürgermeister erläutert wann welche Maßnahmen geboten sind – und ob Ausgangssperren drohen.

Gespräche mit Virologen und Behörden, Abstimmung im Kreise der Länderregierungschefs, Telefonkonferenzen mit der Kanzlerin – das Coronavirus bestimmt derzeit den Tagesablauf von Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD). Dem Abendblatt erklärte er seine Sicht auf diese beispiellose Situation, auch aus Sicht eines Mediziners.

Hamburger Abendblatt: Herr Tschentscher, Hand aufs Herz: Fühlen Sie sich dieser Tage nicht auch manchmal wie ein Darsteller in einem Katastrophenfilm?

Peter Tschentscher: Es hat manchmal den Anschein, aber ich würde derzeit noch nicht von einer Katastrophe sprechen. Es ist eine sehr ungewöhnliche und ernste Lage. Aber wir sind handlungs­fähig, und wir nutzen alle Möglichkeiten, die wir haben, um über diese schweren Wochen und Monate, die uns bevorstehen, hinwegzukommen.

Als uns im Januar die ersten Meldungen über das Virus aus China erreichten, startete in Hamburg gerade der Wahlkampf. Hätten Sie damals gedacht, dass uns in Europa das Thema auch so stark betreffen würde?

Tschentscher: Was ich aus China erfahren habe, war, dass dieses Virus sehr infektiös und leicht von Mensch zu Mensch übertragbar ist. Angesichts der Maßnahmen, die China ergriffen hat, und der dennoch sehr schnellen Ausbreitung war mir daher bewusst, dass dieses Virus auch nach Europa gelangen wird. Natürlich lassen sich solche Entwicklungen und Dynamiken nicht vorhersagen. Aber mir war immer bewusst, dass wir auch Maßnahmen ergreifen müssen und dass es dabei nicht realistisch ist, die Ausbreitung des Virus auf null zu fahren. Das wäre auch nicht sinnvoll, denn der beste Schutz gegen ein neuartiges Virus ist langfristig, dass unser Immunsystem es kennenlernt und Abwehrmechanismen entwickelt.

Wir also nach und nach immun werden?

Tschentscher: Genau. Es darf sich nur nicht zu schnell verbreiten. Das ist das eigentliche Pro­blem. Es ist die Geschwindigkeit, auf die es ankommt. Wir müssen die Verbreitung verlangsamen, damit das Gesundheitssystem mit den behandlungsbedürftigen Erkrankungsfällen nicht überfordert wird. Dabei ist es wichtig, die einzelnen Maßnahmen jeweils zum richtigen Zeitpunkt im Verlauf der Epidemie durchzuführen. Es wäre zum Beispiel nicht sinnvoll gewesen, Veranstaltungen zu einem Zeitpunkt abzusagen, an dem das Virus noch gar nicht im Land war.

Aber das Virus war doch Ende Februar längst im Land, als noch alle Veranstaltungen stattfanden, inklusive Fußballspielen.

Tschentscher: Man muss das tun, was in der jeweiligen Situation geboten ist. Ich bin schon seit einigen Wochen täglich im Austausch mit der Gesundheitssenatorin und anderen Fachleuten, die sich mit der Corona-Lage befassen. Am Tag vor der Ministerpräsidentenkonferenz in der vergangenen Woche habe ich das UKE besucht, um mir einen Eindruck von der Lage vor Ort zu machen und mit den dortigen Experten zu sprechen. Ich habe immer gesagt, dass die Corona-Pandemie ein erns­tes Thema ist und wir verantwortungsvoll damit umgehen müssen. Da niemand vorhersagen kann, wie der Verlauf genau sein wird, können wir auch nicht vorhersagen, wann welche Maßnahme erforderlich wird. Wir handeln schnell und konsequent und tun alles, was notwendig ist. Diese Entscheidungen treffen wir immer auf Grundlage der aktuellen Empfehlungen der Gesundheitsexperten, vor allem des Robert-Koch-Instituts

Die sich seit Anfang März dramatisch geändert haben.

Tschentscher: So ist es. Lange Zeit galt noch die Empfehlung, keine Schulen zu schließen. Anfang letzter Woche hat auch Bayerns Ministerpräsident Söder noch gesagt, Schulschließungen halte er nicht für erforderlich. Im Laufe der Woche haben die RKI-Experten und andere Virologen ihre Einschätzungen dann aber verschärft. In der Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag gab es die neue Empfehlung, über Schulschließungen nachzudenken. Wir in Hamburg hatten zu diesem Zeitpunkt ja ohnehin Ferien. Aber mir war nach dieser Empfehlung klar, dass wir die Schulen nach den Ferien nicht öffnen werden. So haben wir es dann am Freitag beschlossen und am Wochenende noch weitere Maßnahmen ergriffen.

Noch mal einen Schritt zurück: Muss man nicht im Nachhinein festhalten, dass in Europa und auch in Deutschland zu wenig unternommen wurde, um frühzeitig das Einschleppen des Virus zu verhindern?

Tschentscher: In Deutschland waren wir früher aufmerksam als viele andere europäische Länder. Auch in Hamburg haben wir genau beobachtet, ob das Virus bei uns auftritt, und uns darauf vorbereitet. Ende Februar gab es dann den ersten Erkrankungsfall, tragischerweise ein Arzt des UKE, der von einer Reise zurückgekehrt und dann für kurze Zeit auch in der Klinik tätig war. Dort sind dann sofort alle Maßnahmen ergriffen worden. Bis auf eine Kontaktperson, die ebenfalls schwer erkrankte, ist es gelungen, alle Kontaktpersonen zu identifizieren und zu isolieren. Das UKE hat da sehr vorbildlich reagiert.

Dennoch hatten zu dem Zeitpunkt viele Menschen noch die Haltung: Das ist doch nur ein Grippevirus, an der normalen Grippe sterben doch auch Menschen. War diese Haltung gefährlich?

Tschentscher: Die Bürgerinnen und Bürger haben tatsächlich sehr verschiedene Sichtweisen. Einerseits gibt es Menschen, die sehr sorglos sind und unsere Maßnahmen noch heute für übertrieben halten. Und dann gibt es eine zweite Gruppe, die sehr besorgt ist und Angst hat. Von den Verantwortlichen in Hamburg nimmt die Coronavirus-Epidemie jedenfalls niemand auf die leichte Schulter. Ich bitte alle, die Anordnungen der Behörden ernst zu nehmen.

Coronavirus: So können Sie sich vor Ansteckung schützen

  • Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Händewaschen
  • Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
  • Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
  • Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten, die Infektionssymptome zeigen
  • Schutzmasken und Desinfektionsmittel sind überflüssig – sie können sogar umgekehrt zu Nachlässigkeit in wichtigeren Bereichen führen

Aber weitergehende Schutzmaßnahmen hat man damals noch nicht ergriffen, obwohl das Virus in der Stadt war.

Tschentscher: Die Empfehlung der Experten war zu diesem Zeitpunkt so. Ein bekannter Virologe hat sogar ausdrücklich und öffentlich von Schulschließungen abgeraten. Wir müssen ja auch immer die Folgewirkungen abschätzen. Wenn Sie plötzlich Schulen schließen, und alles andere läuft normal weiter, hat ein Großteil der Beschäftigten ein Problem und kann möglicherweise nicht zur Arbeit gehen. Wir brauchen aber zum Beispiel jeden Arzt und jede Krankenschwester, auch die mit Kindern. Jede Maßnahme ist zu einem bestimmten Zeitpunkt sinnvoll, kann aber zu einem anderen Zeitpunkt noch nicht oder nicht mehr sinnvoll sein. Deshalb gilt: Wir achten auf die Einschätzungen der Gesundheitsexperten. Ich bin zwar Mediziner und als Laborarzt diesen Themen sehr nah. Trotzdem ist es noch einmal eine sehr spezielle Frage, was in den einzelnen Phasen einer solchen Epidemie zu tun ist.

Viele Menschen haben sich gewundert, dass am Freitag zwar die Schließung von Schulen und Kitas angekündigt wurde, aber Bars und Diskotheken geöffnet blieben. So konnten mutmaßlich Infizierte, etwa Rückkehrer aus den Skiferien, noch das ganze Wochenende auf dem Kiez feiern – eine bessere Virendrehscheibe ist kaum vorstellbar.

Tschentscher: Wir haben gleich am Freitag entschieden, dass wir dazu Anordnungen treffen, haben diese noch im Laufe des Wochenendes ausgearbeitet und in Kraft gesetzt. Damit waren wir mit die Ersten in Deutschland.

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Was gibt Ihnen Hoffnung, dass Deutschland glimpflicher davonkommt als Italien?

Tschentscher: Dass wir ein sehr gutes Gesundheitssystem haben und handlungsfähig sind. Wir waren sehr früh aufmerksam, haben schnell reagiert und die notwendigen Maßnahmen angeordnet. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass wir eine gute Koordination zwischen Bund und Bundesländern hinbekommen. Wenn ein Land etwas entscheidet, hat das sofort Auswirkungen auf die Nachbarländer. Ein Beispiel: Wenn Sie nur in Hamburg die Läden schließen, fahren die Menschen ins Nachbarbundesland zum Einkaufen. Im umgekehrten Fall kommen alle nach Hamburg. Das sollten wir vermeiden, das schafft nur zusätzliche Probleme und neue Risiken. Daher habe ich in der Ministerpräsidentenkonferenz gesagt, dass wir eine gesamtdeutsche Strategie brauchen. Die haben wir nun seit Montag.

Die Situation, dass die Bundesländer nicht einheitlich reagieren, war ja einige Tage da. Stößt der deutsche Föderalismus in solchen Situationen an Grenzen?

Tschentscher: Das war für wenige Tage so, aber die Unterschiede waren gering: Die ersten Schulen wurden am Montag geschlossen, wie bei uns in Hamburg, die letzten am Mittwoch. Auch in diesem Punkt gilt, dass man die Folgen bedenken muss. Daher bieten wir an unseren Kitas und Schulen einen Notbetrieb an, damit nicht das eintritt, was wir unbedingt vermeiden wollen: dass nämlich Ärzte, Krankenschwestern oder andere Berufstätige, die jetzt dringend im Job gebraucht werden, nicht zur Arbeit gehen können, weil sie keine Betreuung für ihre Kinder haben. Jede Maßnahme muss vernünftig und zu Ende gedacht sein – und sie muss richtig umgesetzt werden. Darauf haben wir in Hamburg geachtet.

Werden Schulen und Kitas, die vorerst bis Ende März geschlossen sind, noch länger keinen Regelbetrieb haben?

Tschentscher: Es ist wahrscheinlich, dass wir diese Maßnahme schrittweise verlängern – so lange, wie es nötig ist.

Wird es in Hamburg Ausgangssperren geben wie in Frankreich oder Österreich?

Tschentscher: Momentan ist das in Deutschland kein Thema. Es kann aber eine Lage eintreten, in der dies nötig ist. Die jetzt getroffenen Maßnahmen sind zu diesem Zeitpunkt erforderlich. Es braucht einige Tage, bis ihre Wirkung erkennbar wird. Wenn die Experten uns weitere Einschränkungen empfehlen, werden wir auch diese erwägen.

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In Supermärkten etwa haben die Menschen noch relativ engen Kontakt ...

Tschentscher: Es ist ja unser Appell, wenn es irgendwie geht, zu Hause zu bleiben und die Kontakte so weit wie möglich einzuschränken. Auch im privaten Bereich und auch, wenn es schwerfällt. Vor allem sollte darauf geachtet werden, dass Kinder ihre Großeltern nicht anstecken. Ebenso sollte auf nicht dringend erforderliche Reisen verzichtet werden, auch innerhalb Deutschlands. Bund und Länder sind da ja gemeinsam schon sehr weit gegangen. Aber das tägliche Leben der Menschen muss weiter funktionieren. Essen und trinken müssen wir alle weiterhin. Deswegen haben wir zum Beispiel für die Läden des täglichen Bedarfs die Sonntagsöffnung erlaubt. Wir können jetzt jeden Tag einkaufen, die Nahversorgung wird sichergestellt. Niemand muss sich ins Getümmel stürzen, vordrängeln oder große Vorräte anlegen. Ich war Anfang der Woche spätabends noch einkaufen, und das war problemlos möglich.

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Wie gehen Sie persönlich mit dem Risiko um? Schütteln Sie noch Hände?

Tschentscher: Nein, derzeit nicht. Aus meinem früheren Leben ist mir ja bewusst, dass unser gewohntes soziales Verhalten unter infektiologischer Sicht nicht immer sinnvoll ist. Aber Händeschütteln gehört eben zu unserer Kultur. Das führt normalweise ja auch nicht zu Problemen. Es nützt uns sogar, wenn unser Immunsystem immer wieder in der Lage ist, sich mit Krankheitserregern auseinanderzusetzen und spezifische Abwehrreaktionen zu entwickeln. Aber in einer so besonderen Situation, in der sich ein neues und hochinfektiöses Virus sehr schnell verbreitet, auf das kein Immunsystem vorbereitet ist, brauchen wir eine Art Wellenbrecher. Das sind Maßnahmen, die uns Zeit verschaffen und den Verlauf der Epidemie insgesamt verlangsamen, damit unser Gesundheitssystem nicht überfordert wird, indem gleichzeitig zu viele Schwerkranke zu versorgen sind.

Haben Sie zu Hause den Vorrat an Nudeln, Konserven und Toilettenpapier kontrolliert?

Tschentscher: Nein, wir sind in einem normalen Einkaufsmodus. Es reicht immer für ein paar Tage.

Sie erwähnen häufig Ihre Vergangenheit als Mediziner am UKE. Denken Sie in diesen Tagen mehr als Arzt oder als Politiker?

Tschentscher: In erster Linie handele ich als Bürgermeister. An alles denken, die richtigen Prioritäten setzen und vernünftig entscheiden, darauf kommt es jetzt an. Der medizinische Hintergrund hilft mir aber, die Sachverhalte, auf die es jetzt ankommt, schnell zu verstehen und einzuordnen, zum Beispiel die Empfehlungen der RKI-Experten und der Virologen. Ich werde auch aktiv angesprochen von früheren Kollegen und sogar ehemaligen Kommilitonen. Mit denen diskutiere ich die Dinge gerne, denn es hilft mir, mich in der konkreten Lage des Gesundheitswesens zu orientieren. Am liebsten würde ich manchmal meinen weißen Kittel wieder anziehen und mitmachen. Aber jetzt habe ich eine andere Aufgabe und sorge im Rathaus dafür, dass die notwendigen Maßnahmen für unsere Stadt getroffen werden.