Harburg. Der 64-jährige Sauerländer streichelt die Seelen der Konservativen. Er will die CDU noch stärker bei ihrer Erneuerung unterstützen.
Die Einladung ist ein Statement: Friedrich Merz, im Herbst 2018 vorübergehend Hoffnungsträger vieler Christdemokraten, ist fünf Jahreszeiten und eine Parteitags-Niederlage später erneut ein Hoffnungsträger. Am Mittwochabend sprach er im Hotel Lindtner in Harburg – auf Einladung des CDU-Kreisverbandes Harburg und der Bürgerschaftsabgeordneten Birgit Stöver und André Trepoll. Spitzenkandidat Marcus Weinberg stand als Papp-Aufsteller in der Ecke, er saß zur selben Zeit auf einem Podium bei der Gewerkschaft.
Auf der Website der CDU Hamburg gehörte der Auftritt des Hoffnungsträgers nicht gerade zu den Spitzenereignissen. Unter Termine fand sich der Eintrag: „Neujahrsempfang Kreisverband Harburg“, stand da in großen Lettern und kleingedruckt „Ehrengast Friedrich Merz. Fragen zur Veranstaltung bitte an geschaeftsstelle@cdu-harburg.de“.
Aber Werbung musste man für Friedrich Merz nicht machen. Die ersten Gäste, einige ältere Damen, kamen gegen 16 Uhr ins Hotel Lindtner. Kurz vor Beginn um 19.10 Uhr platzte der Saal aus allen Nähten, immer wieder wurden neue Stühle hinein getragen, manche Besucher mussten stehen. 600 Zuhörer dürften es am Ende gewesen sein – die vielleicht größte Wahlkampfveranstaltung der Stadt.
Merz verspätete sich um eine knappe Stunde
Mehrere Nachrichten schwirrten durch den Raum. Kurz vor seinem Auftritt hatte Merz via Twitter mitgeteilt, dass er seine Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender von Blackrock Ende März beenden wolle. Der 64-jährige Sauerländer will seine Zeit „nutzen, die CDU noch stärker bei ihrer Erneuerung zu unterstützen“.
Die Notwendigkeit sahen am Mittwoch viele im Saal allein durch die Erschütterungen in Thüringen. Dass CDU, AfD und FDP in Erfurt gemeinsam für den Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP) stimmten, nannte Trepoll eine „Katastrophe“, die den Wahlkampf der Union erschweren werde. Die CDU-Politikerin Herlind Gundelach erwartet gar, dass es die FDP „reißen“ könne.
Weil Merz sich wegen seines Auftritts bei „Lanz“ um eine knappe Stunde verspätete, spielten sich Stöver und Trepoll in einer extrem langen Aufwärmphase über 45 Minuten die Bälle gekonnt zu – ein politischer Torfall von Harburg. 1988 überbrückten Marcel Reif und Günther Jauch wegen eines umgefallenen Tors beim Champions-League-Halbfinale gar 76 Minuten.
Friedrich Merz nennt Kemmerich-Wahl Tabubruch
Um 19.55 Uhr legte Friedrich Merz dann los. „Die Thüringen-Wahl wird uns noch lange beschäftigen. Das ist ein Tabubruch.“ Die CDU habe die Verantwortung, dass sich so etwas nicht wiederhole. „Wir müssen nicht die Radikalen, aber die Vernünftigen, die AfD gewählt haben, zurückgewinnen – dann passiert so etwas nicht.“ Deutschland war stabil, so lange es zwei Volksparteien in der Mitte gab. „Und Helmut Schmidt war nicht der schlechteste Kanzler Deutschlands“, sagte Merz unter dem Beifall der meist älteren Zuhörer.
Merz malte die großen Linien der Innen- und Außenpolitik, sprach über die Fehler der Vergangenheit und die Herausforderungen für die Zukunft.
Merz: „Der Populismus zerfrisst die politischen Systeme“
„Es geht uns heute verdammt gut. Was aber werden wir sagen, wenn wir uns 2030 wiedersehen?“ Die Welt erlebe derzeit einen Epochenwandel. Wie aber reagiere Europa auf Brexit, Trump, Russlands Expansionsstrategie und Chinas Machtpolitik? „Europa sei routiniert ratlos.“ Deutschland müsse einen überdurchschnittlichen Beitrag leisten, damit Europa erfolgreich ist.
„Der Populismus zerfrisst die politischen Systeme – auch in Thüringen“, warnte Merz. Sein Rezept: „Die Mitte muss wieder stärker werden“. Merz rief zu mehr Engagement auf – und zu mehr Rückgrat: „Wir müssen den Mut haben, kontroverse Standpunkte einzunehmen und zu diskutieren.“ Die Grünen seien der Hauptgegner der Union, sagte Merz. Darauf solle die CDU inhaltlich reagieren. Klimaschutz etwa müsse mit den Menschen und den Unternehmen, aber nicht gegen sie betrieben werden: „Ökonomie und Ökologie gehen zusammen.“ Das Klimaengagement der Generation Greta lobte der frühere CDU-Fraktionschef, die Vorwürfe Gretas aber weist Merz zurück: „Es hat noch nie eine Generation gegeben, die solche Chancen hatte. Aber die Frage ist, ob das auch für die kommende Generation gilt.“
Derzeit tingelt Merz durchs Land – mehr als viele Spitzenpolitiker
Von der Politik der Kanzlerin setzte er sich auffallend homöopathisch ab. Den Ausbau deutscher G5-Netze mit chinesischer Technik sieht Merz kritisch. „Wir müssen souverän bleiben“, sagte er. Und in der Flüchtlingspolitik betonte er den Grenzschutz. Zudem mahnte er mehr europapolitisches Engagement in Berlin an. „Ich hätte mir gewünscht, dass Macron aus Deutschland mehr Reaktion bekommt als ein lautes Schweigen“.
Derzeit tingelt Merz durchs Land – mehr als viele Spitzenpolitiker. Erst in der vergangenen Woche feierte ihn die CDU im Kreis Pinneberg mit Standing Ovations, nun war Harburg dran. Auch wenn es im Hotel Lindtner kaum einen aus der Sesseln reißt, lieferte Merz eine 45-minütige Tour d’horizont zur Lage der Welt. Engagiert, klug, streitbar.
Am Ende war vielen klar: So spricht kein Ehemaliger, so redet jemand, mit dem noch zu rechnen sein wird. Angesichts der personellen Lage der Union spricht vieles dafür, dass – wie der „Spiegel“ schreibt – in der CDU der Vor-Merz angebrochen ist.