Hamburg. Im Prozess gegen einen SS-Mann schildert eine 92-jährige Zeugin per Video ihr Martyrium. Mit der Aussage löse sie ein Versprechen ein.
Sie wurde „verfluchtes Schwein“ und „Untermensch“ beschimpft. Sie musste in einer Baracke hausen, ohne Bett, nur auf einem Lager von Stroh, ohne fließend Wasser, nur mit einer Latrine und so eng mit anderen Frauen eingepfercht, „dass wir uns vorkamen wie Sardinen in der Dose“, erzählte Halina Strnad. Aber bald hätten sie und die anderen Frauen mehr Platz gehabt. „Es sind sehr viele sehr schnell gestorben.“
Die 92-Jährige war Monate lang Gefangene im Konzentrationslager Stutthof, in einem Bereich, der „Judenlager“ genannt wurde. Am Dienstag schilderte die betagte Frau grauenhafte Details aus ihrer Zeit im KZ. Ihre Aussage machte die Rentnerin im fernen Melbourne, wo Halina Strnad jetzt lebt. Per Video wurde sie live in den Gerichtssaal geschaltet, wo sich der frühere Wachmann Bruno D. im Prozess vor dem Landgericht verantworten muss.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem 93-Jährigen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vor. Durch seinen Wachdienst von August 1944 bis April 1945 soll er „die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“ haben. Zu seinen Aufgaben habe es gehört, die Flucht, Revolte und Befreiung von Gefangenen zu verhindern.
Zeugin: Wachmann hätte Tote sehen müssen
Die Bedingungen in ihrem Bereich des Lagers seien so schlimm gewesen, dass von den 100 bis 200 Gefangenen in ihrer Baracke nur 20 bis 25 die Räumung des Lagers vor Kriegsende erlebten, schilderte die Zeugin. Viele seien der im Winter 1944 ausgebrochenen Typhus-Epidemie erlegen. Viele andere seien aber auch an Hunger, Erschöpfung und körperlichen Qualen gestorben. Etliche weitere seien absichtlich in den unter Strom gesetzten Stacheldraht gelaufen, um Suizid zu begehen. Überall im Lager hätten Leichen gelegen.
Das hätten auch die Wachleute vom Turm aus „sehen müssen“, war die Zeugin sicher. „Sie können es nicht nicht gesehen haben.“ Vom nahen Wachturm aus hätten die SS-Männer ebenfalls sehen können, wie die Häftlinge geschlagen wurden oder zur Bestrafung oft stundenlang in der Kälte beim Appell stehen mussten.
Sie selbst, erzählte Halina Strnad, sei von weiblichem Wachpersonal auch getreten, geschlagen und bespuckt worden. Auch habe man ihr die Nase gebrochen. Eine Frau habe sich darüber beschwert, dass die Deutschen ihr Eigentum beschädigt hätten. Daraufhin habe ihre zusammen mit ihr inhaftierte Mutter zu der Frau gesagt: „Es geht nicht um Eigentum. Der schlimmste Schaden ist der Schaden in den Köpfen der Kinder. Falls sie überleben – ob sie jemals normal werden.“
Zeugin musste totes Baby beseitigen
Ein besonders furchtbares Erlebnis sei gewesen, so die Zeugin weiter, als eine Frau offenbar eine Totgeburt hatte. Andere Inhaftierte aus der Baracke hätten eine Fensterscheibe einschlagen müssen, um mit einem Stück Glas die Nabelschnur des Kindes durchzuschneiden. Die Frau sei an Blutverlust gestorben. Dann sei es ihre Aufgabe gewesen, so erzählte es Halina Strnad, „das Baby in die Latrine zu stülpen“. Mit einem Stück Holz habe sie den kleinen Körper in die Flüssigkeit drücken müssen. „Einige Tage später schwamm der Körper des Babys obenauf. Das war ein Bild, das ich jahrelang in meinen Alpträumen hatte.“
Die Galgen in Stutthof seien nicht weit von ihrer Baracke entfernt gewesen, so die 92-Jährige weiter. Bei Hinrichtungen am Strang hätten immer alle zusammenkommen und zusehen müssen. So wurde die damals 17-Jährige unter anderem Zeuge, wie ein junger Russe gehängt wurde. „Er sang die Nationalhymne in einer wunderschönen Tenorstimme, bis er gehängt war.“
Zeugin: Es ist meine Pflicht auszusagen
Bei der Typhus-Epidemie sei auffällig gewesen, dass sehr viele Menschen innerhalb von zwei Tagen erkrankt seien. „Es gab das Gerücht, dass die Epidemie absichtlich hervorgerufen wurde, denn normalerweise entwickelt sie sich langsam.“ Sehr viele Menschen seien wegen ihrer Erkrankung ohne Bewusstsein gewesen, viele gestorben. Die Kranken seien nicht von den Gesunden getrennt worden. „Ich habe immer tote Körper um mich herum gesehen. Die wenigen, die nicht krank waren, suchten nach Überlebenden.“
Das könnte Sie auch interessieren:
- Hamburg will Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge unterstützen
- Bertini-Preisverleihung in Hamburg mit Gänsehaut-Moment
- Das erste Mal in Auschwitz – zwischen Wut und Trauer
Auch unter der extremen Kälte hätten die Inhaftierten sehr gelitten, schilderte die Zeugin. Manchmal habe der Schnee ihnen bis zu den Knien gereicht. Die Kleidung sei vollkommen unzureichend gewesen. „Wir haben Kleidung von den Toten gestohlen, um uns davon anzuziehen.“ Im Konzentrationslager hätten die Gefangenen sich gegenseitig versprochen, „falls wir überleben, dass wir darüber aussagen müssen, bis wir sterben“, sagte Halina Strnad. „Und das mache ich jetzt. Es ist eine Pflicht. So sehe ich das.“