Hamburg. Experten erklären, ob Kunst noch von Können kommt, ob sie auch wirklich alles darf. Und ob sie nicht auch am Ende Geschmackssache ist.
Kunst begeistert, inspiriert, sorgt aber auch für Irritation und Verstörung. Und wer entscheidet eigentlich darüber, ob etwas gute, für die Ewigkeit geschaffene Kunst ist – oder eben nicht. Zwei, die sich damit auskennen, sind der Kunsthistoriker Frank Fehrenbach und der Musikwissenschaftler Friedrich Geiger.
Wann haben Sie zuletzt gedacht, ist das Kunst oder kann das weg?
Frank Fehrenbach Zuletzt habe ich das auf der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig im Mai gedacht. Weil es zu eindeutige Aussagenkunst war. Inhaltskunst. Es ging eher darum, einen Inhalt, in dem Fall den Klimawandel, zu verpacken, teilweise zu verklausulieren, um am Ende dann eine doch relativ simple Antwort zu geben und das Thema totzureiten.
Friedrich Geiger Mir ging das ganz ähnlich vor zehn Tagen im Hamburger Bahnhof in Berlin. Man erkennt eine Idee, ein politisches oder gesellschaftliches Anliegen, das transportiert werden soll. Aber die Kunst bestünde darin, dafür eine Form zu finden, die ästhetisch aus sich heraus überzeugt und nicht nur platte Staffage ist.
Was ist das überhaupt – Kunst? Sie besagt ja gemäß Definition eine Tätigkeit, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gründet. Wer befindet aber darüber, was Kunst ist und was nicht?
Geiger In der Musik gibt es den merkwürdigen Begriff der Kunstmusik. Damit ist Musik gemeint, die einen künstlerischen Anspruch erhebt und keinen Zweck außerhalb ihrer selbst verfolgt. Sie soll also nicht zum Essen oder zum Tanz gespielt werden, sondern nur für sich stehen. Der Begriff ist problematisch, weil er nahelegt, dass alles andere eben nicht Kunst und damit von vornherein minderwertig ist. Es gibt Sparten, die sich dagegen wehren, zum Beispiel der Jazz. Und wenn man sich den Eurovision Song Contest anschaut, dann werden da auch ganz selbstverständlich „Künstler“ angesagt. Das Problem ist, wer hier entscheidet. In der Musik ist Kunst ein Begriff, der ständig verhandelt werden muss. Der auch mit Machtstrukturen und Hierarchien zu tun hat.
Fehrenbach Ich würde sagen, es wäre sinnvoll, von den Künsten im Plural zu reden. Das würde dann die ersten, 40.000 Jahre alten künstlerischen Artefakte auf der Schwäbischen Alb genauso wie die auf der Biennale gezeigten Arbeiten umfassen. Ich hätte hier eine kurze Definition: Der minimale Anspruch, den der Begriff Kunst hat, ist der, dass es sich um ein Artefakt handelt, das eine dauerhafte Faszination ausübt und zwar so, dass die Faszination nicht verbunden ist mit üblichen Bereichen der Konsumption, des Handels, des Verbrauchs und auch nicht mit denen des bloßen sinnlichen Genusses.
Kommt Kunst eigentlich immer noch von Können?
Geiger Können spielt eine zentrale Rolle, selbst dann, wenn es gezielt unterlaufen wird. Es gibt ja auch Konzepte in der bildenden Kunst und in der Musik, die auf der Verweigerung des Könnens beruhen, etwa auf Zufall. Ich denke an John Cage, der eine Komposition auswürfelt. Oder an Jackson Pollock, der nicht genau kontrollieren kann, was mit der Farbe passiert. Da liegt aber auch ein gesteuertes Moment drin, das wieder ästhetisches Können ist – wenn ich etwas bewusst dem Zufall überlasse, gehe ich auch planvoll vor. Eine andere Art, Können zu unterlaufen, ist der bewusste Dilettantismus, etwa in der Punkbewegung.
Fehrenbach Man kann ja auch sagen, das wahre Können zeigt sich darin, dass es sich verbirgt. Die größten Meister schaffen mit leichter Hand, besagt das Argument, und niemand sieht, wie viel Mühen es ihnen bereitet. Michelangelo zum Beispiel hat seine Zeichnungen verbrannt, damit niemand sehen kann, welche Anstrengung in seine Werke gegangen ist. Andererseits gibt es eben die Formen des Aleatorischen und Zufälligen. Ich habe erst neulich wieder den „Block“ von Joseph Beuys im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt angeschaut. Diese Installationen sind mit mir 20 Jahre älter geworden, und es gibt da faszinierende Alterungsprozesse von Materialien wie Fett. Das hat auch eine unglaubliche Kraft. Andererseits kann man sagen: Das Handwerk ist in letzter Zeit wieder wichtiger geworden, wie mir scheint. Der teuerste lebende Künstler der Welt, Jeff Koons, führt das ja vor. Seine Hochglanzpolituren sind von einer unglaublichen Materialperfektion. Da stehen allerdings große Werkstätten dahinter.
Joseph Beuys wandelte ja das Zitat von Novalis „Jeder Mensch kann ein Künstler sein“ in „Jeder Mensch ist ein Künstler“ um. Für ihn war das Schöpferische das Künstlerische. Ist denn wirklich jeder, der sich Künstler nennt, damit automatisch auch schon einer?
Fehrenbach Das Konzept hat Vorläufer in der Zeit um 1900. Der italienische Kunsthistoriker Benedetto Croce verstand alles, was wir tun, als Gestaltung, als Ausdruck. Auch bei ihm sind wir alle Künstler. Es ist aber eine anthropologische Tatsache, dass wir künstlerisch tätig sind. Hans Jonas hat das in seinem Text über den „Homo Pictor“ auf den Punkt gebracht. Der Mensch wurde zum Menschen, als er anfing, Formen dauerhaft nachzuahmen, zu malen. Insofern hebt Beuys etwas ins Bewusstsein, das vorher schon in der Diskussion war.
Geiger Ich möchte gerne auf die Komponente der dauerhaften Faszination zurückkommen, die Herr Fehrenbach genannt hat. Denn die Musik unterliegt wohl noch stärker Moden als die bildende Kunst. Es gibt einen unglaublich schnellen Turnus in der Popmusik, wo die Charts von letzter Woche schon veraltet sind. Dem steht dann ein Kanon ewiger Meisterwerke gegenüber. Es stellt sich die Frage, welche Rolle dauerhafte Faszination spielt und inwieweit das zur Kunstdefinition mit dazugehört. Kann etwas, das mir nur heute gefällt, keine Kunst sein?
Was ist denn dann gute, was eher schlechte Kunst?
Fehrenbach Es gab den Versuch, das Qualitätsurteil im 20. Jh. stark an einen situativen Moment zu knüpfen. Beuys sagte sinngemäß, man müsse am richtigen Ort zur richtigen Zeit die richtige Sache tun; das sei Kunst. Es gibt aber auch Kunst, die wirkt ganz situationsunabhängig fort. Zum Beispiel die schon erwähnten 40.000 Jahre alten Knochenskulpturen aus Süddeutschland. Man stellt andererseits auch an sich selbst fest, dass schlechte Kunst der Vergangenheit manchmal so etwas wie Rührung erzeugt. Das kann man zum Beispiel bei manchen Gebäuden der Nachkriegszeit beobachten.
Geiger Ich orientiere mich bei der Bewertung an den Ansprüchen, die von den Produzenten selbst erhoben werden. Der von mir hoch verehrte Paul McCartney beispielsweise zählt auf seinem Gebiet zu den Genies der Musikgeschichte. Aber für die großen Oratorien, die er auch veröffentlicht hat, sind seine künstlerischen Mittel nicht geeignet. Da entsteht kein ästhetisches Gelingen, ebenso wenig, wenn man eine zwölftönige Fuge komponiert, um den Eurovision Song Contest zu gewinnen. Das ästhetische Anliegen und die künstlerischen Mittel müssen zusammenstimmen.
Fehrenbach Mir kommt es vor, als könnte das Qualitätskriterium sehr stark zusammenhängen mit dem, was in der Ästhetik um 1800 passiert ist: Ein Artefakt macht ein Angebot an mich Rezipienten, in einer ganz bestimmten Weise innerlich in Bewegung zu kommen. Der Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, hat diese Begründung in die Ästhetik-Geschichte hineingebracht – später wurde sie von Friedrich Schiller aufgegriffen. Bei Kant und Schiller geht es, platt gesagt, darum, mich selbst in ein spielerisches Verhältnis zur Welt zu bringen, sodass ich hinterher anders in ihr stehe als zuvor.
Geiger Darum sind wir auch geneigt, Kunstwerke am höchsten zu schätzen, die unendliche Deutungs- und Verständnismöglichkeiten bieten. Dass ein Werk wie Beethovens 9. Sinfonie ein Dauerbrenner ist, liegt auch daran, dass man es immer wieder anders hören und verstehen kann.
Für Friedrich Schiller war die ästhetische Erziehung des Menschen entscheidend. Er schrieb, dass der Mensch zum ästhetischen Idealzustand mit größtmöglicher persönlicher Freiheit finde über das ästhetische Spiel, also echte Kunst, die weder darstellend noch repräsentativ ist, aber empfunden werden muss. Was sagt uns das heute?
Geiger Ich würde dem ersten Teil voll und ganz, dem zweiten nur bedingt zustimmen. Es gibt auch Kunst, zum Beispiel naturalistische Stilrichtungen, deren ästhetische Faszination im Abbilden der Wirklichkeit liegt, die aber gleichzeitig ein bisschen von dieser differiert, also eine Hyperrealität erzeugt. In der Musik gilt das zum Beispiel für Programmmusik, für musikalische Deskription, die nicht per se unkünstlerische „Tonmalerei“ ist. Die Wirklichkeit im Spiegel der Musik wahrzunehmen, kann unglaublich erhellend sein.
Fehrenbach Schillers Hauptprogramm würde ich gerade heute für unendlich wichtig halten. Dass durch Formen ästhetischer Wahrnehmung überhaupt so etwas wie Mündigkeit und Freiheit ermöglicht wird, müsste Grundlage eines jeden Erziehungsprogrammes sein. Es ist ja leider eine Tatsache, dass Politik heute weitgehend Bilderpolitik geworden ist. Man will manche Bilder unbedingt vermeiden und andere produzieren. Das hängt damit zusammen, dass man mit Bildern ein unspielerisches Verhältnis eingegangen ist und sie für Realität hält. Man traut ihnen zu, direkt ansteckend zu wirken. Dagegen müsste so etwas wie Kompetenz im Umgang mit Bildern schon im Unterricht verankert werden.
Seit der Aufklärung sind ja Wissenschaft und Kunst getrennt. Der Begriff des künstlerischen, subjektiven Geschmacks spielt auf einmal eine Rolle im Gegensatz zur objektiven Erkenntnis. Aber ist Kunst Geschmackssache?
Geiger Ja, in der Musik ist das ganz stark der Fall. Das Problem beim Geschmack ist tatsächlich, dass er nicht verhandelbar ist. Geschmack ist heute eine viel weniger sozial definierte Kategorie ist als früher. Heute gibt es in allen Schichten Menschen, die von Madonna bis Schönberg ganz unterschiedliche Musik hören – in der Musiksoziologie hat sich dafür der Begriff „Omnivoren“, Allesfresser, eingebürgert.
Fehrenbach Geschmack ist eine Kategorie aus der höfischen Welt des 17. und 18. Jh. Es gibt aber eine Pointe bei Kants These, dass die Kunst auf Geschmack beruht. Sie besagt nämlich, dass es in meinem Geschmacksurteil gleichzeitig darum geht, ihm zuzutrauen, dass es alle teilen. Heute ist das Qualitätskriterium häufig allein der Marktpreis, und das ist natürlich unbefriedigend.
Kunst ist ja immer geprägt von den Bedingungen ihrer Entstehung. Das war im barocken Feudalismus eine Abhängigkeit von weltlichen oder kirchlichen Fürsten. Mit der Zeit befreiten sich die Künstler, etwa Mozart, von einem Auftraggeber. Gibt es heute den autonomen Künstler?
Geiger Es gibt ja Menschen mit Kompositionsprofessuren, deren primäre Aufgabe es ist zu komponieren und ihr Können weiterzugeben. Die sind zwar finanziell unabhängig, aber darum noch nicht autonom. Niemand komponiert doch nur für sich. Man will immer gehört werden. Selbst der radikalste Avantgardist bezieht sich in der Verweigerung noch auf die Erwartungen seiner Hörer. Insofern gibt es völlige Autonomie nicht.
Fehrenbach Vielleicht ist Autonomie inzwischen zur Zwangsjacke geworden. Die jüngeren Künstler macht es schon wieder unfrei, weil sie immer die Attitüde der Autonomie vorführen müssen.
Darf Kunst alles? Nicht alle finden etwa die Aktionen des Zentrums für politische Schönheit gelungen, die mit bewusstem Tabubruch Erregung und Aufmerksamkeit suchen?
Geiger Kunst darf alles, aber die Künstler dürfen nicht alles. Es gibt beispielsweise Musik, die extrem grenzüberschreitend ist, die auf physische Schocks setzt, wo Leute körperlich bedrängt werden durch enormen Lärm oder extrem hohe Töne. Da gibt es eine sensible Grenze zur Gewalt. Zugleich ist jeder frei, ein solches Konzert auch zu verlassen.
Fehrenbach Es gibt natürlich schützenswerte Gruppen wie Kinder, die man nicht pornografischer Kunst aussetzen will. Ich tendiere dazu zu sagen, die Kunst darf alles, muss aber auch über den Schock hinausführen. Man hat ein Gespür dafür, wenn die Kunstfreiheit nur als Deckmantel benutzt wird, um sich der Kritik zu entziehen oder einfach nur Tabus brechen will.
In Deutschland ist Kunstfreiheit ja ein durch Art. 5 Abs 3 des Grundgesetzes geschütztes Grundrecht. Braucht Kunst Schutz?
GeigerIn dem Gesetz steckt natürlich die Erfahrung der NS-Zeit, man hat Lehren gezogen aus der Gängelung von Kunst. Dass Menschen nun dieses Grundrecht vielleicht auch missbrauchen, ist vermutlich zu den Gestehungskosten zu rechnen. Aus meiner Sicht sind die verschmerzbar.
Wie steht es um Einflussnahmen in der Kunst? In osteuropäischen Ländern ist ja deutlich zu beobachten, dass der Staat bestimmt, was Kunst ist und was nicht, was gefördert und gezeigt werden darf und was diffamiert und mit Verboten belegt wird. Kann wahre Kunst nur demokratisch sein?
Fehrenbach Es ist Teil der Kunstfreiheit, dass sie ähnlich wie die Philosophie in der Lage sein muss, radikale Einzelpositionen zu vertreten. Man hat ja auch bei uns inzwischen häufiger den Eindruck, dass die Künstler Themenbereiche antizipieren, die gut ankommen. Es gibt zum Beispiel recht selten Kunst, die die heuchlerischen Seiten der politischen Korrektheit entlarvt oder den Begriff insgesamt infrage stellt.
Geiger Die Künste haben ein großes Potenzial, Mechanismen der Lüge, der Propaganda und der Heuchelei aufzudecken und bloßzustellen. Und das geschieht viel zu selten, weil es oft eine starke ökonomische Abhängigkeit gibt, eine Verflechtung mit genau den Instanzen, die zu kritisieren wären. Aber gute Kunst ist immer auch mutige Kunst.