Hamburg. Experten erklären, unter welchen Umständen Roboter zuverlässiger sein können als Menschen und wie Patienten profitieren.

Krankenhäuser und die Digitalisierung – in Deutschland sind sie noch keine großen Freunde. Warum das schade ist, erklären Prof. Dr. Christian Gerloff und Prof. Dr. Martin Spindler. Sie wissen auch um die Vorteile einer digitale Patientenakte, wie ein Chip im Gehirn eine Hand steuern könnte, und warum künstliche Intelligenz (KI) einen Arzt niemals ersetzen wird.

Hamburger Abendblatt: Was kann KI im Gesundheitsbereich momentan schon leisten und was zukünftig?

Prof. Dr. Martin Spindler: Es gibt verschiedene Anwendungen im Versicherungsbereich; beispielsweise kann sie Betrug von Abrechnungen bei privaten oder gesetzlichen Krankenkassen herausfinden. Solche Fälle sind leicht zu erkennen. Im medizinischen Bereich wird KI bereits für schnellere und genauere Diagnosen eingesetzt, der Arzt wird also unterstützt. Momentan gibt es viele spannende Entwicklungen. Man wird zum Beispiel bald Prothesen durch seine Gehirnströme steuern können.

Ich denke also künftig: „Ich will gehen.“ Und dann gehe ich?

Prof. Dr. Christian Gerloff: Genau. Es gibt bereits bemerkenswerte Experimente aus den USA dazu. Sie zeigen, dass es zum Beispiel möglich ist, über einen Chip auf der Hirnrinde mit wenigen Elektroden durch Gedanken einen Cursor auf einem Computer-Bildschirm zu steuern. Für eine Prothesensteuerung ist das noch nicht gut genug, aber genau hier kann KI weiterhelfen.

Es würde sich aber doch niemand einen Chip ins Gehirn operieren lassen.

Gerloff: Jein. Es gibt Tausende Parkinsonpatienten mit Elektroden, die in das Gehirn hineinoperiert wurden. Dennoch sind die Vorbehalte gegen solche Operationen in Deutschland eher hoch. Es gibt auch die Möglichkeit, die Signale von der Oberfläche des Kopfes abzuleiten, auch mit Elektroden, aber ohne Operation. Die Signale sind dann nicht so klar, es kommt dann darauf an, wie viel Informationen aus dem verrauschten Signal herausgelesen werden können. Ich bin zuversichtlich, dass es mit KI gelingen kann, einfache Muster wie „Hand schließen“ oder „Hand öffnen“ auch auf diese Weise herauszulesen. Schlaganfall-Patienten beispielsweise können häufig ihre Hand schließen, bekommen sie aber nicht wieder auf. Die Handöffnung könnte man durch eine sogenannte aktive Orthese, also in diesem Fall eine Art Handschiene mit Elektromotoren erreicht werden, und die Orthese könnte man mit einfachen Befehlen aus der abgeleiteten Hirnaktivität steuern.

Aber sprechen wir von einer nahen oder einer fernen Zukunft?

Gerloff: Bis diese Möglichkeit für Patienten breit verfügbar wird, gehen noch fünf bis zehn Jahre ins Land. Leider.

Wenn Sie „leider“ sagen, dann scheint Ihnen das nicht schnell genug zu gehen. Wo steht Deutschland derzeit? Sind andere Länder in der Entwicklung weiter als wir?

Gerloff: Wir sind ein Schlusslicht! KI ist nur einsetzbar, wenn Gesundheitsdaten in digitaler Form vorliegen. Selbst bei den Unikliniken haben bislang nur 58 Prozent eine digitale Patientenkurve, in der immer aktuell alle wichtigen Werte dokumentiert werden, bei den kleineren Krankenhäusern sind es sogar nur sechs Prozent. Wenn wir also die gesamte Krankenhauslandschaft Deutschlands anschauen, haben wir einen minimalen Grad an Digitalisierung. Wir brauchen flächendeckend eine digitale Akte mit digitaler Kurve, also einen vollwertigen Electronic Medical Record. Das ist die Priorität Nummer eins in Deutschland.

Spindler: Selbst wenn ein Krankenhaus Daten hat, gibt es keine Chance für uns Wissenschaftler, da ranzukommen. Die Hürden sind einfach zu groß.

Woran liegt’s?

Gerloff: „Datenschutz“ und „Sektorengrenzen“ sind hier die Stichwörter. Typisch deutsche Dinge. Das gibt es in dieser blockierenden Form in anderen Ländern nicht, hierzulande gibt es eine unfassbare Angst davor, Daten an zentraler Stelle zusammenlaufen zu lassen.

Natürlich empfinden viele Menschen die Digitalisierung in der Medizin als Bedrohung. Wie könnte man diese denn bändigen?

Spindler: Indem wir den Fokus nicht nur auf die negativen Aspekte legen. Jede Technologie hat Vor- und Nachteile. Die Technologie wird vieles verändern und hat viele Vorteile für den Patienten. Das Ziel ist eine bessere Behandlung. Es geht um den Patienten – nicht darum, dass irgendwelche Daten missbraucht werden.

Gerloff: Plakativ könnte man sagen: In Deutschland geht nicht selten Datenschutz vor Patientenschutz. Das ist eine Bremse.

Dann lassen Sie uns doch die von Ihnen versprochenen Vorteile herausarbeiten. Kann ein Algorithmus beispielsweise ein EKG besser lesen als ein Kardiologe? Ein Roboter besser operieren als ein Chirurg?

Gerloff: Ein Schachcomputer schlägt jetzt schon die besten Spieler. Wenn ein KI-AIgorithmus zehn Millionen Röntgenbilder von der Lunge analysiert hat und dabei gute Lehrer an der Seite hatte, die seine Befunde immer wieder korrigiert und das System so trainiert haben, dann wird er ein Assistent sein, den wir nicht mehr missen wollen. In der Luftfahrt läuft schon vieles über Assistenzsysteme, und auch da fürchteten die Piloten in den Anfangsjahren, ihre Skills zu verlieren, doch es wurde daraus kein Verlernen, sondern ein Umlernen. Die Luftfahrt ist heute sicherer. Warum sollte das in der Medizin nicht gehen?

Na ja, wenn ein anderer anstatt meiner operiert?

Gerloff: Das macht ja keiner. Diese Roboter, die heute im Einsatz sind, übersetzen Bewegungen, die ein Arzt macht, in kleinere, präzise Bewegungen. Das hat mit AI eigentlich gar nichts zu tun, dabei handelt es sich um ein hochpräzises Instrument, aber wir sind weit davon entfernt, dass so ein Roboter sagen kann: „Ich mache die Prostata mal schnell alleine raus.“

Sieht man mithilfe der Technik besser und schneller, und spielt Zeit bei einer Behandlung den entscheidenden Faktor?

Gerloff: Klar. Ich bin ein völliger Verfechter dieser Entwicklung und habe überhaupt keine Angst davor, denn unser Arbeiten wird besser und die Qualität für den Patienten somit auch. Beispiel Notaufnahme: Ich habe einen Patienten, dem geht es nicht gut, mir liegen seine Laborwerte und ein EKG vor, die Werte gebe ich ein, und der Computer sagt: „Denk an diese sechs Sachen.“ Ich alleine denke vielleicht nur an fünf. Es ist ein checklistenartiges Unterstützen beim Abarbeiten von wichtigen Schritten in der Diagnostik. Das nächste Level wäre: Es gibt viele Studien. Wenn die gut miteinander vernetzt sind, kann mir der Computer wichtige Informationen aus aller Welt auf Zuruf ausspucken. Ich gebe ein: „Seltener Tumor im Bauchraum“ und bekomme eine neue Leitlinie der amerikanischen onkologischen Gesellschaft und eine Studie, die vorgestern zum ersten Mal einen Antikörper XY getestet hat, und der war effektiv.

Dann gäbe es kein Herrschaftswissen mehr.

Gerloff: Und das ist gut für die Gesamtheit! Früher gab es den einen Arzt in München, der sollte der Beste auf diesem und jenem Gebiet sein, aber wer in Hamburg sitzt, hat nichts davon. Die Systeme können für den Zugang zu maximaler Information sorgen.

Man kann ja heute schon Bilder von etwa einem komischen Hautfleck von einer einsamen Insel zur Diagnose mailen.

Spindler: Die Bilderkennungsverfahren sind relativ gut, es kommt jedoch auf die Fachrichtung an. In der Radiologie treffen die Befunde häufig zu. Da ist die Trefferquote so gut wie bei richtig guten Spezialisten oder sogar ganzen Teams. In der Pathologie jedoch verlieren die Algorithmen noch gegen jeden Pathologen.

Gerloff: Das wundert einen eigentlich.

Spindler: Da sind wir wieder bei unserem Problem. Die Technologie bekommen wir hin, aber der Schatz sind die Daten. Ohne sie kann ein Algorithmus nicht lernen.

Gerloff: Und wir brauchen nicht nur ein Bild, sondern sehr viele, gerne mal 1000 Bilder oder mehr pro kernspintomografischer Untersuchung, oder zig pathologische Schnitte bei einer Untersuchung einer Gewebeprobe. Da ist es nicht trivial, Muster richtig zu erkennen.

Spindler: In China sind ganze Industrien entstanden, in denen Menschen Millionen von Bildern anschauen und auswerten für Algorithmen in verschiedenen Bereichen. Aber für die Medizin ist das eben sehr schwierig. Künstliche Intelligenz ist im Grunde nicht wirklich intelligent. Die erkennt nur Muster anhand von riesigen Datensätzen. Ein Beispiel: Menschen, die ein Feuerzeug mit sich tragen, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, um an Lungenkrebs zu erkranken. Vorhersagemodelle schließen daraus: Feuerzeuge verursachen Lungenkrebs. Das ist natürlich Blödsinn. Einfache Vorhersagemodelle funktionieren nicht für kausale Fragestellungen.

Kann KI in Zukunft ein Demenzrisiko vorhersehen?

Gerloff: Die Frage ist: Kann es das besser? Und ich glaube schon. Heute haben wir ein paar Marker aus dem Nervenwasser, neuropsychologische Tests, eine Familienanamnese, ein Bild vom Gehirn und ein paar genetische Marker, da können wir als Arzt sagen: Das Risiko ist erhöht oder nicht. Wenn man aber 100 weitere Marker dazunimmt, dann wird es für einen Arzt unübersichtlich, da steigt man nicht mehr durch, aber KI hat damit kein Problem, die kann 1000 oder mehr Marker übereinanderlegen und so viel genauere Vorhersagen treffen.

Kann die Technik die sprechende Medizin fördern?

Gerloff: Bei einem optimalen digitalen System hätten wir mehr Zeit für die Patienten, ja. Das setzt aber voraus, dass die Dokumentation in vielen Bereichen automatisiert wird. Aus Sicht der Therapeuten oder Pflege gibt es auch Vorteile, zum Beispiel bei der Medikation. Wenn man eine unleserliche handgeschriebene Anordnung hat, die mühsam entziffert und um 3 Uhr nachts sortiert und für den Patienten vorbereitet wird – dann hat man fast 40 Prozent Abweichungen. Die sind meistens harmlos wie zum Beispiel zwei Tabletten mit je 50 mg statt einer mit 100 mg, aber eben nicht immer. Im UKE machen wir das in einem Closed-Loop-System: die Verordnung geht digital an die Apotheke, wird gecheckt, und ein Roboter packt das später ab, die Medikamente kommen individualisiert und beschriftet per Rohrpost direkt auf die Station. Ein Roboter wird nie müde und macht keine Fehler. Dadurch haben wir im UKE nur 1,6 Prozent Abweichung, auch diese typischerweise harmlos. Eine absolute Steigerung der Patientensicherheit.

Die Experten

  • Martin Spindler ist Professor für Statistik und Ökonometrie an der Universität Hamburg. Seine Forschungsgebiete sind maschinelles Lernen, künstliche Intelligenz und die Kombination von kausaler Folgerung und KI. Er unterstützt Unternehmen dabei, KI für betriebliche Fragestellungen anzuwenden.
  • Christian Gerloff ist Neurologe, leitet seit 2006 die Klinik und Poliklinik für Neurologie des UKE und ist seit 2013 stellvertretender Ärztlicher Direktor des UKE. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind die Organisation des menschlichen Gehirns als neuronales Netzwerk, seine Plastizität und die Diagnostik und Therapie von Schlaganfällen.

Spindler: Die Arbeit von Ärzten und Pflegern verlagert sich dadurch, sie werden aber sicher nie überflüssig. Das ist ja die große Angst bei jeder Form von Digitalisierung.

Herr Gerloff, Sie plädieren für eine Integration von Daten über die Sektorengrenzen hinweg. Warum?

Gerloff: Wir wissen doch im Moment gar nicht, was aus einem Patienten nach fünf Jahren beispielsweise geworden ist. Es gibt den Sektor Krankenhaus, den Sektor Reha, den ambulanten Sektor. Zwischen diesen Sektoren herrscht keine standardisierte Kommunikation, keine Datenübertragung. Warum? Das machen die Dänen auf Knopfdruck.

Könnte nicht die Krankenkasse die Schnittstelle für die Daten sein?

Gerloff: Hätte ich auch gedacht, aber die Krankenkassen sehen sich eher nicht in dieser Rolle. Dort wird davon ausgegangen, dass es den Patienten lieber wäre, die Daten bleiben bei den Ärzten.

Ermöglicht KI auch eine Kostensenkung?

Gerloff: Ein System wird immer teuer, wenn die Patienten schlecht behandelt werden, und wir haben ja nun schon aufgezeigt, wie sich die Behandlung durch Digitalisierung KI-basierte Assistenzsysteme verbessern würde. Aber Geld sollte bei der Entwicklung nicht im Vordergrund stehen.

Spindler: Neue Technik erfordert erst einmal ein Investment. Doch die Investitionen ermöglichen eine bessere und effizientere Behandlung. Am Ende müssen wir uns fragen: Was ist uns unsere Gesundheit wert?

Gerloff: Wir haben beim UKE beispielsweise in unbemannte Fahrzeuge investiert, die fahren unterirdisch die Sachen hin und her. Wenn man denen zufällig im Keller begegnen würde, halten sie an und sagen höflich: „Bitte gehen Sie aus dem Weg!“ Das passiert aber nur selten, denn die haben eigene Aufzüge, eigene Gänge – eine ganz eigene Logistik.

Das UKE ist also komplett unterwandert von Robotern?

Gerloff (lacht): Ja, so sieht es aus.