Hamburg. ... und Thalia-Intendant Joachim Lux wird Chef der UKE-Jugendpsychiatrie. Was Bühne und Klinik eint – zwei grandiose Reportagen.
PROFESSOR DR. SCHULTE-MARKWORT
Vorspiel: Das Mobiltelefon vibriert. Und das im Theater … „Ist gerade ganz schlecht“, flüstert Professor Dr. Michael Schulte-Markwort in sein Handy. „Ich stehe hier auf der Bühne.“ Nein, er ist kein Spieler, wie es verkürzt im Theaterbetrieb heißt, er ist Intendant für einen Tag. Man könnte auch sagen: „Moin, Herr Austauschdirektor!“, so wie es dem hochgewachsenen Mann, der an jedem anderen Tag Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKE ist, in den verwinkelten Katakomben des Thalia Theaters entgegenhallt, nachdem er sein Haus um kurz vor neun Uhr über den Bühneneingang betreten hat.
Ja, tatsächlich ist das Thalia schon seit einem Vierteljahrhundert sein Haus. Also aus der Perspektive des Zuschauers. Seit 25 Jahren ist er Abonnent, immer Reihe 3, Mitte. Neuerdings, seit er sich mit seiner Frau ein Premieren-Abo gönnt, Reihe 5, Mitte. Nach der ersten Vorstellung von „Die Nacht der von Neil Young Getöteten“ steht der Mediziner mit Intendant Joachim Lux zusammen. Beim ersten Glas Rotwein sprechen sie über das Stück. Beim zweiten darüber, ob ein Rollentausch, ein Terminus des Theaters und der Kinderpsychiatrie gleichermaßen, nicht ein spannendes Experiment sein könne. Wie unterschiedlich sind die beiden Berufe? Theater gibt es doch überall. Und Drama auch. Also geht Lux in die Klinik, und Schulte-Markwort macht Theater.
Kurz die Bühne inspizieren
Erster Akt: Kurz die Bühne inspizieren, bevor 900 aufgeregte Schulkinder den Saal stürmen. „Die Rote Zora“ steht auf dem Plan, zum 62. Mal. Und direkt im Anschluss zum 63. Mal. Doppelvorstellung gleich Doppelbelastung für die Spieler. „Wo sind die eigentlich gerade alle?“, fragt Schulte-Markwort. Es sei ja noch fast Nacht, antwortet Andreas Bloch, der Künstlerische Betriebsdirektor, lachend. Die Techniker lachen nicht, sie werkeln – und das bereits seit sieben Uhr in der Früh. Nein, die Spieler seien natürlich auch alle längst da, sagt Bloch, sie bereiteten sich in Ruhe vor. „Ich weiß, viele sind ja privat ganz zurückhaltend, fast scheu und brechen dann auf der Bühne, die ja auch eine Art Schutzraum ist, aus“, sagt der Intendant, und es spricht der habilitierte Psychiater, der neben Medizin auch Philosophie in Marburg und Kiel studiert hat.
Nächste Frage: „Was sind das hier für Zeichen, für Markierungen und Striche auf den Bühnenbrettern?“ Das sei ein bisschen wie beim Kardiologen, vergleicht Bloch. „Da siehste auch Bilder und verstehst nix.“ Es sei die „Geheimsprache“, damit jeder wisse, ob er richtig stehe, wenn das Licht ausgeht.
Corinna Fussbach stellt sich vor, die Inspizientin. „Ich bin wie der Dirigent. Spiele selbst kein Instrument, halte aber am Pult alles zusammen.“ Sie lässt die Bühne drehen, das Podium herabsinken und ruft die Spieler aus – mit Humor. Bei der „Orpheus“- Premiere, so erzählt man es dem neuen Intendanten später, habe sie gerufen: „Jetzt die Götter, bitte. Und damit ist nicht der sechste Stock gemeint.“ Im sechsten Stock sitzt die Intendanz. Heute also Michael Schulte-Markwort. „Ach, das Büro sieht ja fast aus wie meins“, sagt er. „Hansen-Stühle von Arne Jacobsen. Habe ich auch.“ Es soll nicht die einzige Parallele bleiben.
Ein typischer Tag
Zweiter Akt: Fahrt zum Thalia Gaußstraße, wo alle Proben stattfinden, mit Dramaturgieassistentin Hannah Stollmeyer. „Das ist ein typischer Tag“, erklärt sie im Auto des Austauschdirektors. „Erst ist immer irgendwas im Haupthaus, und dann geht es nach Altona rüber.“ Meist nehme sie das Rad, weil schneller. Dramaturgin Christina Bellingen begrüßt und erläutert die Produktion „Hereroland“. Es sei kein Frontaltheater, sondern eine „begehbare Installation“. Alle acht Minuten wechselt der Zuschauer aktiv die Szene. „Finde ich nachvollziehbar, denn so läuft aus der Sicht des Touristen eine Rundreise durch Namibia auch ab“, sagt Schulte-Markwort.
Der Stoff ist allerdings hochpolitisch und sehr komplex, es geht um den Völkermord an den Herero in Deutsch-Südwestafrika ab 1904. Namibische und deutsche Künstler arbeiten gemeinsam, alle Positionen sind 50/50 besetzt. So gibt es auch zwei Regisseure: Gernot Grünewald und den Herero-Namibier David Ndjavera, der die Idee des Stücks auf Englisch erklärt: „Alles basiert auf wahren Begebenheiten und persönlichen Schicksalen.“ Am 19. Januar feiert das Stück an der Gaußstraße Premiere. „Das ist ja gefühlt morgen“, sagt Schulte-Markwort erstaunt. „Dafür sind hier aber alle sehr gelassen.“ Andererseits sei er auch ruhig, wenn er mit einem suizidalen Patienten zu tun habe. „Da fragen mich andere auch: Wie machst du das bloß?“
Parallelen zwischen den Jobs
Wie es für die deutschen Spieler sei, an so einer Produktion mitzuwirken, will Schulte-Markwort wissen: „Berührend“, sagt Jörg Pohl, Thalia-Ensemblemitglied seit 2009 und ausgezeichnet mit dem Max-Ophüls- und dem Rolf-Mares-Preis. „Hereroland adressiert die großen Fragen: Schuld, Sühne, den Umgang mit Trauer und Trauma.“ Und so bricht es plötzlich aus vielen namibischen Schauspielern heraus. Sie erzählen, wie Urgroßmütter von deutschen Kolonialisten vergewaltigt wurden, wie ganze Familien ins Exil flohen. „Wenn wir nur einige Zuschauer zum Nachdenken bringen und dazu, sich für uns Herero einzusetzen, dann haben wir viel erreicht“, sagt der Regisseur. Auf der Fahrt zurück zum Haupthaus, sagt Schulte-Markwort: „Wie wir da im Kreis zusammensaßen und ich zugehört habe – das war nicht anders als meine Arbeit.“
Dritter Akt: Käsebrötchen und Kaffee in der Kantine. Julia Wilms, seit 21 Jahren Chefin der Maske, kommt dazu. Fast jeden Tag sei das elfköpfige Team für vier Vorstellungen zuständig, der Aufwand unterschiedlich hoch. „Beim Stück ,Eine Familie‘ meinten viele im Haus: Ach, da hattet ihr ja nichts zu tun. Von wegen! Das sollte eben eine ganz naturalistische Maske sein.“ Nie würde man etwas gegen den Willen des Spielers machen, sagt die Maskenbildnerin. „Dafür ist unser Job zu viel Psychologie.“ Weiter geht es in den dritten Stock, Bühnenbildner Matthias Koch, aus Heidelberg angereist, präsentiert Entwürfe für „Ode an die Freiheit“, eine Essenz aus den Schiller-Dramen „Kabale und Liebe“, „Maria Stuart“ und „Wilhelm Tell“ unter der Regie von Antú Romero Nunes.
Interessantes Fazit
Fest steht, dass noch nicht viel feststeht, die Bauprobe am 27. Dezember soll Erkenntnisse bringen. Man könne sich eine Wirtshaussituation vorstellen, auf jeden Fall Enge, um die Unfreiheit der Charaktere zu verbildlichen. „Sehr gut. Wichtig nur, dass die Spieler gut zu sehen sind. Nicht, dass wir im Februar zur Premiere in die Diskussion reinschlittern, dass die Hälfte nichts sieht und wir die Kartenpreise anpassen müssen“, sagt Tom Till, Kaufmännischer Direktor. Was mit Massenszenen sei?, will der Künstlerische Direktor, Andreas Bloch, wissen. „Sehe ich gerade nicht, sieht Antú auch nicht“, sagt Koch. Bloch winkt ab. „Am Ende kommt dann doch wieder ein Chor um die Ecke.“
Ob man noch was brauche?, will der Techniker wissen. „Wind, Nebel, Wasser, das Übliche halt“, sagt Koch. „Müssen wir gucken, dass die Platten nicht quellen“, sagt der Techniker. Finale: Besprechung mit den Spielern der „Roten Zora“. Einer fragt: „Muss man einen an der Klatsche haben, um Schauspieler zu werden?“ „Ja“, sagt Schulte-Markwort. „ist in meinem Beruf aber nicht anders.“ Vanessa Seifert
JOACHIM LUX
Joachim Lux muss gleich dringend noch eine rauchen. Zum Durchatmen. „Ich bin froh, dass ich wieder rauskomme …“, sagt er und meint es jetzt, kurz nach 17 Uhr, nicht, wie es vielleicht klingen könnte. Sondern erleichtert, erschöpft, aber auch, so erstaunlich das hier klingt und wirkt: bereichert. Dieser besondere Tag, ansonsten ein total austauschbarer Donnerstag, hatte für den Thalia-Intendanten in Raum 30.210 der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKE um kurz vor acht Uhr begonnen. Laut Wetter-App ging die Sonne am 19. Dezember 2019 um 8.32 Uhr auf. Nicht direkt die Tageszeit, zu der Staatstheater-Chefs hellwach in die Kulturproduktion durchstarten.
Den ersten Koffeinschub gibt es im Büro des Chefs Michael Schulte-Markwort, den Lux für einen Tag zwar nicht ersetzen, aber zumindest physisch vertreten will. Der erste Small Talk. Das Espresso-Maschinchen röchelt. Auf dem Besprechungstisch hat jemand Spielzeugtiere um eine Schale mit Keksen und Süßigkeiten gruppiert. Nervennahrung. Fast kein Tisch, an dem unentwegt geredet, beratschlagt, geholfen wird, kommt in dieser Abteilung des UKE ohne diese Sorte Kalorien aus, scheint es. Noch sind die dicht getakteten Termine auf Lux‘ To-do-Liste für den 19. Dezember Tagesordnungspunkte mit Fachvokabular: „Supervision“, „Behandlungskonferenz“, so etwas.
Weihnachten ist eine heikle Krisenzeit
Zwei Assistenzärzte briefen das Chef-Double. Noch sind keine Gesichter zu den Namen zu sehen, die genannt werden. Keine dieser leisen Stimmen, keiner dieser Blicke. Keine Schicksale, die einem Außenseiter sofort das Herz zuschnüren. Erst recht so kurz vor Weihnachten. Denn Weihnachten scheint für manche der rund 60 Patientinnen und Patienten auf den Stationen eine ganz besonders heikle Krisenzeit zu sein. Der Harmoniedruck kommt von außen, die Erinnerungen kommen von innen. Manche Wunden drohen aufzubrechen. Andere werden womöglich, allen Hilfestellungen des Personals zum Trotz, selbst verursacht werden.
Das Stationspersonal redet unentwegt miteinander über die aktuellen Patienten. Was war gestern? Was könnte heute sein? Was macht man morgen dagegen? Bereits in der ersten Runde im Büro von Schulze-Markwort ist schon von „engmaschiger Suizidalitätsabschätzung“ die Rede. Von „Absprachefähigkeit“. Man braucht etwas, um sich das in Gänze zu übersetzen und zu begreifen, wenn davon berichtet wird, dass eine Patientin für ihre Spaziergänge auf dem UKE-Gelände ein Schild erhalten soll. Ein Schild, das darauf hinweist, dass sie „psychogene Krampfanfälle“ bekommen kann, stundenlang womöglich.
„Engmaschig“ ist das Sicherheitsnetz hier, in dem die Kranken aufgefangen werden sollen. Bewahrt werden sollen vor einem Fall, womöglich bis ins Bodenlose. Lux bemüht sich, in diese medizinische Denke und diese ernüchterte Regelsprache hineinzukommen, intendantenverständliche Parallelen zu suchen. „Was Sie Psychodrama nennen, ist bei uns Drama. Wir sind eine andere Art von Soziotop als diese Klinik.“
Mächtige Hürden
Nach der ersten Besprechungsrunde geht es eine Etage tiefer. Eine Gruppe Jugendlicher hat dort eine Kunsttherapie-Sitzung. Manche tragen, als weiche Schutzrüstung vielleicht, weite Kapuzenpullover. Auf einer Treppe begegnen wir später einem Jungen, riesige Kopfhörer auf den Ohren, das Smartphone in der Hand und dann ein kurzes Lächeln. Einige von ihnen sind monatelang hier, einige besuchen tagsüber Schulen in der Nicht-UKE-Welt. Bei dieser Kunststunde darf nur Lux dabei sein. Danach erzählt er davon, nicht zum letzten Mal beeindruckt und voller Respekt vor dem Miterlebten, wie die Patientinnen und Patienten entspannen und durch das Malen zum Sprechen gekommen seien.
Nächster Termin, nächster Besprechungsraum. An den Wänden sind auf großen Papierseiten für jeden Einzelfall „Wochenziele“ festgehalten. Draußen wären das nur Kleinigkeiten, hier sind es mächtige Hürden. Bei einem Jungennamen steht „Ich will ins Kino gehen“, bei einem anderen „Ich möchte mir Gutes tun“ oder „Ich möchte meinen Schulweg üben.“
Ein Teenager-Junge kommt, um über seine Stimmung zu sprechen, und während er erzählt, hält er sich an ihrer Wasserflasche fest. Ein Mädchen, schüchtern und mit verknoteten Fingern, sagt zaghaft: „Ich denke, die anderen hier sind psychisch nicht gesund.“ Und dass sie Angst habe, schizophren zu werden. Was sie von Weihnachten erwarte? „Ich erwarte … nicht viel Positives.“ Das sind so die Sätze, die hier ständig gesagt werden. Von dieser Verzweiflung und auch diesem Mut, sich beidem zu stellen. Lux ist „erschüttert … innerhalb von wenigen Minuten ist man mitten in der Sache.“
Vormittag, nächster Listenpunkt. Ein Assistenzarzt hat einen Termin; es sollte eigentlich um Arbeitsbedingungen gehen, doch nun interessiert ihn mehr, wieso Ärzte auf Patienten manchmal weniger wirken, als es ihren Absichten entspricht? Der Theater-Intendant verschreibt einen „Mix aus Diplomatie und Authentizität“.
Immer wieder neue Namen und neue Tragödien
In der großen Mittagsrunde ist Lux beeindruckt, wie viele Patientendetails allen selbstverständlich präsent sind. Wieder neue Namen, neue Tragödien. Ein Teenager hat sich „vorgestellt“, mit Wiederholungszwängen und der Angst, blind zu werden. Lux kann sich nur wiederholen, „ich bin tief beeindruckt von dem, was ich hier erlebe, und ich weiß nicht, ob ich mich dem täglich aussetzen könnte.“ Und: „Bei uns sind die Künstler die sensiblen Gestalten.“
Wir wechseln in die Spezialambulanz für Suizidgefährdete. Ein junger Mann erscheint im Besprechungsraum. Dünn, so dünn. So verhuscht. „Warum sind so viele Menschen hier?“ Alle lächeln ihn an, mit einer Herzenswärme, die nicht den Hauch von Routine hat. Als Lux, dem man die Gesprächsführung in dieser Situation für einige Minuten überlässt, ihn fragt, wie das war, als er nicht mehr wollte und in die Elbe sprang, antwortet er: „Als ich im Wasser war, hab ich gemerkt, wie schwer es ist, aus eigenen Kräften zu sterben.“ Ganz tief durchatmen.
Erst am Ende der Liste wird es unanstrengender
Der nächste Termin, im Nachbarraum. Dort steht eine Kiste mit Kram, lauter Dinge, die Patienten „Skills“ erleben lassen sollen, erklärt eine Mitarbeiterin. Sie sollen damit aus diesem „Anspannungsempfinden“ kommen, das ihnen die Seele lähmen kann. Die nächste Besprechung hat unterdessen bereits begonnen. Dort fragt Lux, ob man hier eigentlich konkret heilt oder eher möglichst viele Beschwerden möglichst gut lindert“. Auf die Frage, was das Personal tut, um den Kliniktag nicht mit ins Privatleben zu nehmen, kommt die Antwort, dass Rituale helfen. Der iPod mit der eigenen Musik auf dem Heimweg. Das Feierabendbier. „Am Ende ist Theater Spiel“, sagt Lux an einer Stelle. „Hier ist es überhaupt kein Spiel.“
Erst am Ende der Liste wird es unanstrengender. Eine frischgebackene Professorin stellt in einem Vorlesungsraum ihre Habilitationsschrift vor. Urkunde, Blumen, Danksagungen, Beifall, Umarmungen. Danach ein Büfett im Treppenhaus, mit Falafel und Hummus. Und zum Ausklingen, zurück in Haus 35, die letzte Besprechung. Im Dunkel des Winterabends muss Lux danach Aufholtelefonate für das Thalia führen. Sein Intendanten-Alltag hat ihn wieder. Neben der Einfahrt zum UKE warten Menschen plaudernd auf den nächsten Bus.
Alles scheint so normal, hier. Joachim Mischke