Hamburg. Experten erklären im Abendblatt, warum jeder Mensch von Geburt an kreativ ist und welche Rolle bestimmte Fähigkeiten dabei spielen.

Kinder können kreativ sein, selbst dann, wenn sie nicht zur Schule gehen wollen und immer wieder neue Ausreden erfinden. Jeder Mensch ist kreativ, und zwar ab dem Moment, da er diese Welt betritt, sagt der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Hauke Staats im Gespräch mit Professor Martin Schäfer, Sprecher des Fachbereichs Sprache, Literatur und Medien I an der Universität Hamburg. Beide Wissenschaftler sind sich darin einig: Menschen brauchen Räume der Freiheit – und manchmal auch Muße, um in aller Ruhe kreative Lösungen in ihrem Alltag zu finden.

Hamburger Abendblatt: Von Jürgen Klopp, der als einer der besten Fußballtrainer der Welt gilt, stammt der Satz: „Die besten Fußballer sind jene, die kreative Lösungen finden.“ Was sind denn kreative Lösungen im Alltag eines Menschen?

Schäfer: Kreativität wird in Verbindung gebracht, Erlerntes nicht schematisch zu wiederholen. Bevor das Wort Kreativität aufkam, hat man über Originalität gesprochen. Was einen gewissen Neuheitsfaktor hat. Im Fußball würde das bedeuten: Wer mit einer originellen, überraschenden Lösung kommt, ist klar im Vorteil.

Es braucht also Freiraum dafür. Im Fußball der 70er-Jahre war das eher nicht so gewünscht. Wie sieht das heute aus, wenn wir an den HSV denken?

Staats: Zum HSV schweige ich, auch wegen mangelnden Wissens. Aber der Fußball ist ein gutes Bild für das Thema Kreativität und Realität: Es gibt dabei ein klares Feld, ein Regelwerk und innerhalb der Realitätsdimension existieren sehr viele Variablen – zum Beispiel das Verhalten der einzelnen Spieler. In jedem Moment können sie schauen, welche Entscheidungsoptionen sie haben. Mit sehr verlässlichen Handlungen kommen die Spieler nicht immer zum gewünschten Erfolg, weil die gegnerische Mannschaft die Verhaltensweisen vorher studiert hat.

Was ist aus Ihrer fachlichen Perspektive, der Psychologie und Psychiatrie, Ihre Definition von Kreativität?

Staats: Wir sollten zwei Bereiche unterschieden – die „große“ Kreativität, wie Einstein mit seiner Relativitätstheorie dafür exemplarisch steht. Und dann jene „kleine“ Kreativität, die dem menschlichen Leben an sich innewohnt. Jede Interaktion ist kreativ. Ich kann das Verhalten eines anderen annehmen aufgrund bisheriger Erfahrung, letztlich vorhersehen kann ich es nicht. Also – jeder Mensch ist kreativ, und zwar ab dem Moment, da er diese Welt betritt.

Und was sagen Literatur- und Theaterwissenschaften dazu?

Schäfer: Der Wortgebrauch von Kreativität hat sich bei uns nicht richtig durchgesetzt. In älteren Debatten waren es eher die Begriffe Originalität, Genialität, Schöpfertum. In den vergangenen Jahren hat es allerdings eine Konjunktur dieses Begriffes gegeben – so nach dem Motto: Sei kreativ! Die alltägliche Kreativität wird mit Bedeutsamkeit aufladen und vor allem ökonomisch konnotiert.

Woher kommt der Begriff?

Schäfer: Er setzte sich im deutschsprachigen Raum erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Vor allem mit Joseph Beuys‘ Maxime: Jeder Mensch ist ein Künstler. Da ging der Begriff in einen Alltagsdiskurs über. Im 18. Jahrhundert dominierte dagegen der Begriff des Genies für die Menschen mit als herausragend angesehenen Leistungen: zunächst auch in den neu entstehenden Naturwissenschaften oder auf Entdeckungsfahrten, später dann nur in der Kunst. Im 20. Jahrhundert wird die Gestaltung der Kultur und des sozialen Zusammen­lebens als schöpferisch wahrgenommen.

Kann jeder Mensch kreativ sein – auch der psychisch Kranke?

Staats: Ich würde lieber von Problemlösungsfähigkeit sprechen. Psychische Störungen erfordern ein erhöhtes Maß an Problemlösungsfähigkeit. Weil die Umwelt deutlich verstört auf die betreffenden Menschen reagiert. Symptomträger müssen deutlich kreativer reagieren.

Ein Beispiel bitte.

Staats: Ein Kind, das sehr große Angst hat, in die Schule zu gehen, ist unglaublich kreativ in der Lösungsfindung.

Es bleibt zu Hause.

Staats: Ja, es sorgt dafür, dass es von dem heimischen System akzeptiert zu Hause bleibt, und hierin zeigt sich die Kreativität. All das folgt bekannten Mustern.

Wie bringen Sie das Kind zur Problem­lösung?

Staats: Der fehlende Schulbesuch führt auf Dauer zu weniger sozialen Kontakten und Leid bei dem Kind. Es geht also darum, dem Kind zu helfen, den Mut zu finden, in der Schule selbst funktionale Problemlösungen zu finden. Ziel muss sein, dass es den Schulalltag als Teil seines alterstypischen Lebens bewältigen kann.

Woher kommt der Mut?

Staats: Das ist eine gute Frage. Woher, zum Beispiel, fand Christoph Kolumbus den Mut, ohne ein Wissen in ein schier überwältigendes Nichts hinauszufahren? Er konnte mit ebendiesem Mut sogar seine Mannschaft anstecken! Ich benutze dieses Bild tatsächlich häufiger in der Arbeit mit Kindern: Wie kann es dir gelingen, dass du den Mut eines Christoph Kolumbus in dir wecken kannst.

Was sind in Literatur und Theater die großen Vorbilder?

Schäfer: Die Frage ist für mich eher, wie und warum haben Menschen über das Schöpfertum nachgedacht. Kolumbus ist zwar ein gutes Beispiel, aber die Völker, die entdeckt wurden, waren keineswegs davon begeistert. Als der Begriff der Genialität in Deutschland auftauchte, wurde er mit Shakespeare als dem genialen Vorbild in Verbindung gebracht. Heute wissen wir, dass Shakespeares Alltag eher unspektakulär war. Er hat sich im Übrigen keine neue Stoffe ausgedacht, sondern hat eher die Geschichten, die es schon gab, weiter bearbeitet und neu arrangiert. Hier würde die Vorstellung von Kreativität als Frucht von Arbeit gut passen.

Muss es immer harte Arbeit sein?

Schäfer: Nein, je mehr die Gesellschaft im 18. Jahrhundert sich zur Arbeitsgesellschaft mit Arbeitsteilung entwickelte, wurden ältere Vorstellungen aufgegriffen, dass Untätigkeit, Muße und manchmal auch die Faulheit dazu führen, dass einem ein Licht aufgeht und der Groschen fällt.

Braucht das Gehirn für Kreativität zunächst diesen Ruhemodus? Archimedes zum Beispiel lag in der Badewanne in Syrakus.

Staats: Ich glaube, es braucht Kraft! Neben der Tatsache, dass Entscheidungssituationen vorhanden sind, brauche ich den Mut dazu, Dinge zu tun, die ich vorher nicht so gemacht habe. So etwas liebt das Gehirn gar nicht. Und dann brauche ich die Fähigkeit, so handeln zu können und nicht evolutionär alte Programme, wie Flucht, Angriff oder Einfrieren, abzurufen.

Können Unternehmen, die stark hierarchisch organisiert sind, eigentlich Kreativität hervorrufen?

Schäfer: Für den Theaterbereich ist das eine komplett relevante Frage. Viele Stadttheater sind hierarchisch organisiert, während die freie Szene sich selbst frei organisiert. Aber auch an diesen Stadttheatern ist kreatives Arbeiten möglich. Es geht um das Schaffen von Freiräumen. Ich würde allerdings lieber von Produktivität und Originalität sprechen.

Ist das generationsabhängig?

Schäfer: Es drängt gegenwärtig eine jüngere Generation in die freie Szene, die nicht mehr in dieser Stadttheater-Atmosphäre arbeiten will. Mit dem Ziel, gemeinsam etwas Selbstbestimmtes zu schaffen. Kreativität wird hier als ein Wort aus der Wirtschaft wahrgenommen. Die jüngere Generation spricht dann lieber davon, etwas Neues, Eigenes zu machen. Sie lehnt das Wortspiel mit der „Kreativität“ ab.

Sind Theaterleute kreativ?

Schäfer: So verstehen sie sich oft nicht mehr. Sie möchten künstlerisch aktiv sein. Künstlerisch zu arbeiten heißt heute, zu intervenieren und neue Perspektiven zu eröffnen.

Wo gibt es denn noch kreative Berufe? Ist Ihr Beruf kreativ?

Staats: Auf jeden Fall, weil es um menschliche Interaktion geht. Ich möchte noch einmal zurück zur Badewanne von Archimedes. Es braucht hinreichenden Abstand, es braucht Sicherheit, also in der Regel keine existentielle Bedrohung, um ungewöhnliche, neue Lösungen zu finden. Dies den Kindern und deren Familien wieder zu ermöglichen, ist Aufgabe meines Berufs. Und damit sind wir bei der Erziehung und auch Führung. Es braucht Führende, die eine hinreichend sicher und befruchtend wahrgenommene Umwelt bereitstellen, und es braucht Räume der Freiheit. Eine rein autoritäre Führung oder Erziehung stärkt nur die Seite des Normativen mit der Gefahr des Stillstands und hierin Rückschrittes.

Schäfer: Wir brauchen Möglichkeitsentfaltung!

Staats: Stimmt. Auch darin geht es in meiner Arbeit: Wie können wir Möglichkeitsräume für die Symptomträger erarbeiten.

Sind Sie ein kreativer Mensch – und wenn ja, warum?

Schäfer: Die Tage, an denen ich Pro­blemlösungen finde, sind kreative Tage. Ich versuche schon, jeden Tag in einen gewissen Flow zu kommen. Das kann oft kreativ werden, oft sind es aber auch nur routinierte Schemata, die zum Tragen kommen. Da ich den größten Teil meiner akademischen Arbeit mit dem Nachdenken für Muße, Müßiggang und Faulheit verbracht habe, kommt jetzt mein Plädoyer zum Mut für Muße. Es geht um Freiräume, ganz ohne Termin- und Zeitdruck – und das ist letztlich auch eine ökonomische Frage. Freude an der Arbeit ist natürlich immer gut, aber Mut zur Muße genauso!

Staats: Ich versuche meinen Tag so zu gestalten, dass ich hoch strukturierte Anteile habe, aber auch kreative Räume ohne Termindruck. Da schaue ich in Ruhe, für welche Probleme brauche ich noch Lösungen. Dafür nutze ich den Perspektivwechsel, dies meint etwas aus der Perspektive des Kindes, das als Symptomträger bei uns ist oder der Eltern zu betrachten. Es braucht Räume gerahmter Freiheit. Das ist in der Kunsttherapie die Leinwand oder das Blatt Papier. Das hat klare Grenzen, das ist nicht diffus oder unklar und gibt Sicherheit. So kann man auch das Fußballfeld verstehen, das ein Feld gerahmter Freiheit ist.

Kann Konsumieren kreativ sein?

Schäfer: Menschen nutzen Gegenstände nicht immer so, wie es vorgegeben ist. Die Beschäftigung damit ist kreativ. Menschen, die Bücher lesen, sind kreativ, und manchmal ganz anders, als es der Autor sich vorgestellt hat: Ich lese ein Buch nie wie der Autor, Kinder nehmen auch die Spielzeuge nicht immer so, wie es vorgeschrieben ist. Konsumieren kann ein kreativer Prozess sein.

Staats: Konsum wird oft negativ betrachtet. Aber ich brauche Konsum, um die Bandbreite menschlichen Handelns kennenzulernen. Ich brauche Dostojewski und einen Joseph Conrad, um mich darin zu bereichern und zu wissen, wie haben bestimmte Menschen in einem Narrativ gehandelt. Dafür brauche ich auch die Brüder Grimm. Mit der zunehmenden Bandbreite menschlichen Denkens und Handelns eröffne ich mir selbst Entscheidungsfreiheit. Insofern ist Konsum wichtig, weil ich Vorbilder – positive und negative – menschlichen Handelns brauche.

Die Experten

  • Prof. Martin Schäfer ist Sprecher des Fachbereichs Sprache, Literatur, Medien I sowie Experte für Neuere deutsche Literatur und Theaterforscher. Wissenschaftliche Schwerpunkte sind u. a. Traditionsbrüche und Krisennarrative (Arbeit vs. Faulheit, Müßiggang).
  • Dr. Hauke Staats, vormals Oberarzt in der Kinder- und Jugend­psychiatrie am UKE, baut derzeit als leitender Arzt eine kinder- und jugendpsychiatrische Privatklinik mit durchgehend partizipativem Ansatz in Hamburg auf. Staats ist systemischer Therapeut und Supervisor.

Wäre der Verzicht auf Fleischkonsum auch kreativ?

Schäfer: Das ist zunächst erst mal ein vernünftiges Verhalten. Ein kreatives Verhalten wäre es zum Beispiel, die soziale Marktwirtschaft so zu organisieren, dass sie auch ökologisch ist.

Staats: Wir brauchen die Erfahrung. Wie soll ich jemals gut kochen können, wenn ich nicht schon mal die Suppe versalzen habe.

Wie kann unser Leben mit Kreativität ein Kunstwerk werden?

Schäfer: Das ist eine Frage, die schon seit Generationen gestellt wird. Auch ich habe die definitive Lösung nicht.

Staats: Jeder Mensch, der den Mut aufbringt, sich unvoreingenommen in all seinen Stärken und Schwächen zu betrachten, wird zu jedem Zeitpunkt in seinem Leben ein Kunstwerk entdecken. Das ist ein entscheidender Punkt der Menschlichkeit. Jeder Mensch ist angehalten, sich Zeit zu nehmen für die unvoreingenommene Selbstbetrachtung. Die Wahrnehmung all der Facetten und Farben eines Lebens kann zur Zufriedenheit führen.