Hamburg. Ohne ihn läuft nichts. Wir begleiten Stefan Thiel bei seiner Arbeit im Führerstand. Ein Beruf zwischen Einsamkeit und Wildschweinen.
Das Wichtigste wird zuerst geklärt. „Weil mich das viele fragen, sage ich es besser gleich vorweg: Nein, ich darf nicht zwischendurch mal auf die Toilette gehen.“ Aha. Damit wäre indirekt eigentlich auch die Frage beantwortet, warum es so wenig weibliche Lokführer gibt. Nur zwei von 200 beim DB Fernverkehr Standort Hamburg, aber zu den Nachwuchsproblemen kommen wir später. Erst mal müssen wir den ICE 697 in Gang bekommen. „Aufrüsten“ nennt es Stefan Thiel.
Die Fahrt soll ab 17.20 Uhr von Altona nach Berlin gehen, doch noch befinden wir uns im Instandhaltungswerk Eidelstedt. 28 Gleise draußen und zwei Hallen so groß wie vier Fußballfelder. Außenreinigungsanlagen, Radstandsdiagnoseanlagen, Unterflurradsatzdrehbank – wer nicht gerade Lukas, der Lokomotivführer, ist, der lernt viele neue Begriffe. 65 ICE-Züge werden täglich in Eidelstedt und auch in Langenfelde bereitgestellt, also von innen und von außen gereinigt, mit Wasser versorgt, mit Zugdaten versorgt. Hier holen alle Lokführer ihr Arbeitsgerät ab.
Thiel schaut in sein Diensthandy: „Aha, mein Zug wartet auf Gleis 14.“ Er guckt sich kurz um. „Das ist der Mitarbeiter da hinten!“ Warnweste an und rüber über die Schienen, Schlüsselbund raus (jeder Zug hat ein anderes Schloss) und aufgeschlossen. Wie kommt man da jetzt rein? Die Tür befindet sich ungefähr auf Kopfhöhe. Ohne Bahnsteig muss man richtig hochklettern in das gute Stück. „Warten Sie, ich fahre einen Tritt aus.“ Ein ICE 4. Das Modernste, das die Bahn zu bieten hat. Hightech.
ICE kommt auf 250 Kilometer pro Stunde
„Der tauft sich von alleine“, sagt der Lokführer. Bitte? Mit Taufe meint Thiel, dass alle Daten zum Streckenverlauf und die Reservierungen von alleine auf die Monitore und die Anzeigentafeln über den Sitzen im Zug gespielt werden, sobald die Fahrt beginnt. Der Zug weiß, wer er ist und wo er hinwill. Er weiß auch, an welchen Abschnitten welche Geschwindigkeiten gelten, und sollte Thiel es später wagen, einmal schneller fahren zu wollen, hat er mit seinem Ansinnen keine Chance. Der Zug bremst ihn. Ein ICE 4 ist korrekter als der korrekteste Beamte. Ein Spießer geradezu, aber dafür ziemlich schnell. 250 Kilometer pro Stunde. Ein Ferrari auf Schienen.
„Wir müssen jetzt eine Reihe von Funktionstests durchführen“, erklärt Stefan Thiel und drückt verschiedene Knöpfe in seinem Führerstand. Viele Monitore leuchten und der Zug spricht. Männliche Stimme, teilweise „leicht dominant“ wie Thiel korrekt feststellt, und irgendwie bekommt man den Eindruck, ICE 697 sei eine kleine Nervensäge. „Zugbeeinflussung!“ beschwert er sich zum Beispiel relativ häufig. „Das bedeutet eigentlich nur, dass er meinen Befehl verstanden hat“, erklärt Thiel und sein Kollege Frank Lindenau, Gruppenleiter Triebfahrzeugführer DB Fernverkehr Standort Hamburg, ergänzt: „Der Bayer würde sagen ‚Passt scho!‘“
Der Zug ist aber eben kein Bayer, nur deutsch. Lindenau ist heute nur ausnahmsweise dabei, normalerweise arbeitet ein Lokführer alleine, doch wenn eine Journalistin mitfährt, dann braucht es sicherheitshalber einen zweiten Kollegen.
ICE ist 369 Meter lang
Thiel checkt die Stromabnehmer, sie sind an Wagen 4 und 9 angebracht, 16.000 Volt, bitte unbedingt Abstand halten. 16.000 Volt – das reicht zum Verbrennen. „Macht klein und schwarz“ hatte ein Kollege gewarnt. Verstanden. Nachdem im Führerstand vorne alles geregelt ist, müssen wir die Tests auch in dem Führerstand am Ende des Zuges durchführen. „Gehen wir mal auf Wanderung“, sagt Thiel.
369 Meter lang ist der ICE. Die Mechatroniker in den Werkshallen benutzen Fahrräder, wenn sie von einem Ende zum anderen müssen. Wir benutzen unsere Füße und brauchen fünf Minuten und 40 Sekunden für die Strecke. Irgendwie erhebend, durch einen so leeren, leisen und sauberen Zug zu gehen. Erlebt man als normaler Fahrgast ja quasi nie. Nachdem Thiel im zweiten Führerstand die gleichen Sicherheitschecks durchgeführt hat, gehen wir die fünf Minuten und 40 Sekunden wieder zurück nach vorne. ICE 697 spricht wieder: „Zugbeeinflussung.“ Thiel antwortet: „Los geht’s.“
Die Abfahrt in Eidelstedt wird Thiel auf die Minute vorgegeben, eigentlich werden ihm alle seine Tätigkeiten zeitlich penibel genau vorgeben. Thiel hat die Schicht 224, die heute von 15.17 Uhr bis 22.44 Uhr dauert. Auf seinem Dienstplan sieht Thiel, zu welcher Uhrzeit er was zu tun hat. Beim Militär könnte es nicht geregelter vorgehen. Doch das verhindert leider keine Verspätungen.
Unmut der Gäste kommt im Cockpit nicht an
23 Minuten hat Thiels ICE bereits, da sind wir noch nicht mal im Hamburger Hauptbahnhof eingefahren. Die Strecke zwischen Altona über den Dammtor-Bahnhof bis zum Hauptbahnhof ist leider ein Nadelöhr. Man kann nicht ausweichen, wenn der Hauptbahnhof überquellt und sich deshalb alles zurückstaut. Viele neue Verbindungen und Taktungen sind der Grund.
Hamburg sei voller geworden in den letzten Jahren, erzählt Thiel, und der Stress der Menschen führe wahrscheinlich dazu, dass die Fahrgäste auf Verspätungen sensibler reagieren als früher. „Wenn ich mit dem Auto zehn Minuten später ankomme, macht das nichts. Aber wenn ich wegen zehn Minuten meinen Anschluss verpasse, dann ist das ärgerlich“, erklärt Thiel. Er selbst bleibt ruhig, immer, egal wie viel Verspätung. „Bringt nichts, wenn ich mich aufrege. Ein paar Minuten kann ich vielleicht später wieder reinholen.“
Thiel bekommt vom Unmut der Gäste in seinem Cockpit ja auch nichts mit, die glorreiche Aufgabe des Blitzableiters fällt den Zugführern zu. Einer kommt gerade vorbei: „Moin, Stefan! Alles gut?“ „Ja.“ „Na dann.“ Manchmal bringen die Zugführer den Lokführern einen Kaffee nach vorne, aber Thiel braucht solche Aufmerksamkeiten nicht. Er hat seinen Kaffee von zu Hause dabei. Schmeckt besser. Die Thermoskanne steht im Führerstand neben seinem Handy, das er mit dem Bildschirm nach unten hingelegt hat. Keine Telefonate, keine Ablenkung durch ankommende SMS oder Ähnliches.
Lokführer erhalten am Ende des Monats ein Energieprotokoll
Endlich sind wir raus aus der Stadt, Thiels Zug ist in Fahrt. 230 Kilometer pro Stunde. Kurz die Schaltzentrale erklärt: Der linke Schalter bestimmt die Geschwindigkeit, der rechte ist die Bremse. Ein Lenkrad gibt es nicht, der Zug wird durch die Schienen geführt. Thiel könnte sogar das Rollo am Fenster schließen, solange er nicht nach Signal fährt. Aber blind durch Deutschland rasen mit ungefähr 830 Passagieren an Bord? Lieber nicht. Technik ist dumm. Die kann nur fahren oder bremsen.
Thiel hingegen kann vorausschauen. Jetzt rollt er beispielsweise gerade nur, weil gleich ein Streckenabschnitt kommt, in dem er langsamer fahren muss. Er will den Energieverbrauch des Zuges niedrig halten; jeder Lokführer erhält am Ende des Monats ein Energieprotokoll. „Ein Triebfahrzeugführer muss sicher, pünktlich und energiesparend fahren, in der Reihenfolge“, sagt Lindenau.
In Wittenberge haben wir bereits den Energieverbrauch eines Einfamilienhauses im Jahr verbraucht. Dennoch bleibt die Bahn die klimafreundlichste Verkehrsmöglichkeit. Der Fernverkehr fährt mit 100 Prozent Ökostrom, und durch die mit dem Klimapaket beschlossene Senkung der Mehrwertsteuer kann die Deutsche Bahn ihre Wachstumsstrategie weiterverfolgen.
Ab Ende 2022 sollen 30 zusätzliche Züge auf den Schnellfahrstrecken zum Einsatz kommen; die Zahl der Reisenden würde sich voraussichtlich auf 260 Millionen jährlich verdoppeln. Doch wer soll diese neuen Züge eigentlich fahren? Es fehlen Lokführer wie Thiel. Die Deutsche Bahn braucht Nachwuchs. 100.000 neue Mitarbeiter will sie in den nächsten fünf Jahren einstellen.
Lokführer verdienen bis zu 50.000 Euro
Ein Lokführer verdient je nach Berufserfahrung zwischen 38.000 und 50.000 Euro, die maximale Lenkzeit beträgt acht Stunden, neun Stunden, wenn eine Pause eingelegt wurde. „Abends sind wir immer wieder zu Hause, wir arbeiten nicht wie ein Fernfahrer, dennoch wollen nur wenige diesen Job machen. Vor allem Frauen fühlen sich von dem Beruf nicht angesprochen,“ sagt Thiel.
Der 48-Jährige hat ein abgeschlossenes Maschinenbaustudium, doch das benötigt man heute nicht mehr. Früher packte Thiel Schaltpläne in seine Tasche, er konnte einen Zug notfalls reparieren, wenn etwas kaputt war. „Heute sagt uns der Zug sein Problem, die Bedienung ist viel einfacher.“ Aber selbst Hand anlegen darf Thiel nicht mehr. Es gibt Kollegen, die lieber die alten Züge fahren, weil sie da mehr zu tun haben.
„Ich gehe mal meinen Lidstrich nachziehen“, sagt Lindenau und holt sich einen Kaffee. Die Kollegen hier sind witzig, aber hochkonzentriert. „Ich muss meine Aufmerksamkeit über lange Phasen, in denen alles normal läuft, hochhalten. Ich weiß, es sieht einfach aus, das kann aber von einem Moment auf den anderen vorbei sein,“ erklärt Thiel. Wenn ein Ast eine Leitung beschädigt hat beispielsweise, muss Thiel seinen Zug so schnell wie möglich zum Halten bringen, um nicht die ganze Leitung mit herunterzureißen.
Alle 30 Sekunden muss der Totmann-Schalter betätigt werden
Und auf diesem Streckenabschnitt sprängen viele Wildschweine umher. Oh! Wenn wir da eines überfahren? Der Zug sei hoch genug, das kann er also ab. Aber wenn nun ein Mensch ...? Es gibt ja leider diese Fälle. Doch darüber darf Thiel nicht sprechen wegen des sogenannten „Enke-Effekts“. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass es einen Zusammenhang zwischen Berichterstattung und steigenden Suizidfällen gibt.
Was macht Stefan Thiel da eigentlich die ganze Zeit mit seinem Fuß? „Ich muss spätestens alle 30 Sekunden das Sicherheitspedal treten, damit der ICE weiß, dass ich noch da bin.“ Ah. Der sogenannte Totmann-Schalter. Der Zug hält sofort an, würde Thiel im Führerstand unbemerkt von allen umfallen oder gekidnappt werden. Er arbeitet wirklich sehr alleine hier vorne.
Draußen ist es dunkel geworden. Thiel macht das Licht nicht an, er sieht die Bildschirme so besser. Einsam? „Einsamer als ein Lehrer oder Kindergärtner sicher, aber viele andere haben in ihrem Büro doch eigentlich auch nur mit ihrem Bildschirm zu tun.“
Einmal fuhr ein Zug aus Versehen ohne Zugführer los
Und ab und zu besteht ja auch Kontakt zum Zugführer. Thiel lacht. Einmal sei ein Zugführer auf dem Bahnhof stehengeblieben, weil die Technik versagt habe. Der Zug fährt eigentlich erst wieder ab, wenn sowohl Zugführer als auch Lokführer entsprechende Tasten drücken, doch in diesem Fall hatte die Taste sich selbst gedrückt, und der Zugführer musste neben dem ICE herrennen bis zum Führerstand und versuchen, mit seinem Geschrei die dicken Scheiben zu durchdringen. Hat geklappt.
Ein Zug kommt uns entgegen. Die Lokführer grüßen sich. „In diesem Moment überfahren wir die Grenze des Bundeslandes“, sagt Thiel. Draußen erkennt man nichts. Woher …? „Das weiß ich, weil ich mich sehr für Geografie interessiere“, sagt der bescheidene Eisenbahner. In Wirklichkeit spürt er, auf welchem Streckenabschnitt er sich befindet. Und weil die Verbindung Hamburg–Berlin seine Lieblingsstrecke ist.
Allerdings nur in die eine Richtung. Nach Berlin einfahren, so wie jetzt, das bereite eine unglaublich positive Stimmung. Den Fernsehturm am Horizont sehen, langsam die Lichter der Stadt, die immer mehr werden. Von der Einsamkeit in die Fülle einfahren.
Schokolade von den Gästen als Dank für eine gute Reise
Es gibt nur eine Strecke, die Thiel in seinen langen Dienstjahren lieber gefahren ist. Im Eilzug von Kiel nach Altona saß jahrelang fast täglich ein älteres Ehepaar. Wenn ihnen die Fahrt gefallen hat, brachten sie dem Lokführer zwei Tafeln Schokolade in den Führerstand. „Schön, oder?“ fragt Thiel und übergibt im Berliner Hauptbahnhof angekommen den ICE 697 an seinen Kollegen.
Er selbst hat 30 Minuten Aufenthalt und fährt dann zurück nach Hamburg. Manchmal ist seine Pause länger, dann spaziert er an der Spree entlang. Die Alster und den Reichstag an einem Tag sehen, und niemand, der einen bei der Arbeit vollquatscht – läuft.