Hamburg. Andy Grote (SPD) ist von rechtem Hass alarmiert. Er erklärt seine Strategie – und warnt vor einem Zerfall der Gesellschaft.

Eine Flut von Hasskommentaren im Netz, schreckliche Gewalt wie in Halle: Die Bedrohung durch Rechtsextreme alarmiert die Sicherheitsbehörden. Im Interview spricht Innensenator Andy Grote (SPD) von einer wachsenden Gefahr, die auch für Hamburg gelte – und warnt eindringlich vor einer fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft, die sich längst auch bei Themen wie dem Klimaschutz bemerkbar mache.

Herr Grote, bei der Innenministerkonferenz in der kommenden Woche wird der Kampf gegen rechten Terror im Fokus stehen. Was wollen Sie dort durchsetzen?

Andy Grote: Einige Aspekte sind aus Hamburger und norddeutscher Sicht besonders wichtig: Wir müssen tiefere Einblicke in rechtsextreme Netzwerke erlangen und einen engeren Schulterschluss zwischen den Behörden üben. Informationen mit regionalen Bezügen, die bei Bundesbehörden gesammelt werden, müssen auch verlässlich an die regionalen Sicherheitsbehörden weitergeleitet werden.

Das ist bislang nicht der Fall?

Es gibt natürlich eine intensive Zusammenarbeit. Für die Bundesbehörden müssen die regionalen Bezüge künftig aber noch stärker im Fokus stehen. Für uns ist entscheidend zu wissen, bei welchen Aktivitäten es eine Verbindung nach Hamburg gibt – schon bevor die Schwelle zu einer konkreten Gefährdung überschritten wird.

Auch in Hamburg kam es zuletzt zu rechtsextremen Gewalttaten – die Verdächtigen waren alle nicht als Extremisten bekannt.

Genau. Und das gilt auch in dramatischen Fällen wie in Halle. Wir müssen daher vor allem im Internet tiefer einsteigen. Dort sind die entscheidenden Treffpunkte, konspirative Räume, die der Vernetzung dienen. Wir müssen gefährliche Extremisten erkennen, bevor sie irgendwann auf die Straße treten.

Wie groß ist die Gefahr eines schweren rechtsextremen Anschlags in Hamburg?

Auf demselben abstrakt hohen Niveau wie bei islamistischem Terror. Dort haben wir unter anderem auf Bundesebene eine detaillierte personenbezogene Gefährdungsbewertung entwickelt und konnten viele Taten verhindern. Wir müssen das System aber weiterentwickeln und auch auf Rechtsextremisten anwendbar machen.

Bei Islamisten gelten als Alarmzeichen, dass Menschen plötzlich aufhören, Alkohol zu trinken, sich einen Bart wachsen lassen ...

Die Annahme, dass man so einfach die gefährlichsten Täter erkennt, ist leider falsch. Deshalb ist die genaue Analyse anhand einzelner Kriterien so wichtig. Rechtsextreme haben aber wiederum andere bestimmte Persönlichkeitsmerkmale als Islamisten.

Was wissen Sie über die Radikalisierung von rechtsextremen Tätern?

Es gibt Täter, die Berührung zu einer Szene hatten, wie im Fall des mutmaßlichen Mörders von Walter Lübcke. Das sind klare Bezüge zu einem bestimmten Milieu. Beim Täter von Halle war es ganz anders. Wir haben es insgesamt bei gefährlichen Extremisten häufig mit sozial isolierten Menschen zu, die kein intaktes Familienleben oder überhaupt keine funktionierenden sozialen Bindungen haben. Die denken, die Welt behandele sie schlecht und jemand anderes habe Schuld an ihrer Lebenssituation.

Besteht bei diesen Tätern überhaupt eine Chance, die Gefahr frühzeitig zu erkennen?

Leider nicht in jedem Fall. Aber wir wissen, dass sich die Täter einer größeren Gemeinschaft zugehörig fühlen wollen. Die Taten von Halle, Christchurch oder Utøya sind ideologisch miteinander verbunden, die Täter beziehen sich auf­einander. Und sie kommunizieren im Vorfeld der Taten, weil sie wahrgenommen werden wollen. In diesem Moment haben wir einen Ansatzpunkt.

Eine Spezialeinheit sucht in Hamburg gezielt nach rechtsextremen Umtrieben im Netz. Gibt es schon erste Ergebnisse?

Ich kann sagen, dass wir jetzt schon sehr froh sind, diese Einheit eingerichtet zu haben. Andere Bundesländer ziehen jetzt nach und gründen ähnliche Einheiten. Das ist auch deshalb wichtig, weil wir das Thema nicht isoliert nur für das Hamburger Stadtgebiet betrachten dürfen.

In Hamburg ist die rechte Szene schwach, im Umland dagegen teilweise gefestigt.

Ja. Wir nehmen wahr, was etwa in Bad Segeberg passiert, dass dort aktive Nazis an Berufsschulen die Schüler ansprechen und rekrutieren wollen. Das ist für Hamburg nicht ohne Bedeutung. Für Extremisten in der Metropolregion kann auch Hamburg ein nahe liegendes Ziel sein.

Laut Bundeskriminalamt erhält jeder fünfte Kommunalpolitiker und Bürgermeister inzwischen Hassmails und Morddrohungen.

Das macht die demokratiegefährdende Dimension des Rechtsextremismus deutlich. Er schafft ein Klima von Bedrohung, Angst und Einschüchterung im politischen Diskurs, was dazu führen kann, dass Amtsträger ihr Amt nicht mehr in Freiheit ausüben können. Das geht an die Lebensader der Demokratie.

Wie ist die Situation in Hamburg?

Wir stellen auch hier erhebliche verbale Attacken und Bedrohungen fest. Besonders drastisch ist sicher der Fall der Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit. Was sie über das ganze Jahr hinweg zu ertragen hat, ist wirklich kaum auszuhalten. Deshalb ist es wichtig, die Betroffenen besser zu schützen und das auch im Strafrecht schärfer zu ahnden, wie es nun im Bund anhängig ist. Der Bedarf an wirksamem Schutz ist auf kommunaler und lokaler Ebene am größten.

Der Glaube von Betroffenen, dass Hasskommentare konsequent verfolgt werden, scheint oft kaum vorhanden zu sein.

Natürlich braucht es eine Strafanzeige, damit Ermittler aktiv werden können. Wir führen aber schon sehr viele Verfahren, allerdings gelingt es uns noch zu selten, die Täter zu identifizieren. Der Mord an Walter Lübcke war ein Einschnitt: Es ist jetzt allen bewusst, dass wirklich etwas Schlimmes passieren kann. Das bedeutet einerseits, dass der Effekt dieser Drohungen leider steigt. Andererseits ist es ein weiterer Grund, noch entschlossener zu handeln.

Sie haben die AfD als mitschuldig für den Anschlag von Halle bezeichnet. Muss die Partei vom Verfassungsschutz beobachtet werden?

Sie ist sehr eindeutig ein Teil des Pro­blems, hat Aggressivität und Diffamierung sehr stark in den Diskurs mit eingebracht. Auch der Inhalt des Gesagten wird in vielen Teilen der AfD immer rechtsradikaler. Ohne dem laufenden Prüfvorgang vorgreifen zu wollen: Es gibt aus meiner Sicht gute Argumente, insbesondere den „Flügel“ zu beobachten. Zwischen dem Auftreten von Björn Höcke und dem der historischen Nationalsozialisten ist kein relevanter Unterschied mehr erkennbar.

Wenn Sie die Führung der AfD attackieren, wecken Sie dann nicht Solidarisierungseffekte bei den Mitläufern?

Am Ende geht es um die Frage: Sind wir Demokraten oder nicht? Zur Demokratie gehört, die Wahrheit zu sagen – und deshalb auch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit klar zu benennen. Das muss auch die AfD aushalten. Dieses Opfergehabe, das die Partei bei ihrer eigenen Aggressivität an den Tag legt, ist unerträglich.

Unterscheiden Sie zwischen Wählern und Funktionären?

Natürlich. Unsere Strategie muss immer zwei Richtungen haben: Das eine ist die Reaktion auf eindeutigen Extremismus und Straftaten. Da braucht es schlicht Abwehr und Gegensteuern. Auf der anderen Seite müssen wir mehr denn je um Zutrauen in den demokratischen Staat und seine Lösungskompetenz werben. Es ist ein Problem, wenn ein Teil der Bevölkerung das Gefühl hat, am Rand zu stehen und nicht gehört, nicht mitgedacht zu werden. Ich sage nicht, dass dieses Gefühl immer gerechtfertigt ist. Aber als Politik insgesamt nehmen wir nicht alle Bürger mit. Das müssen wir ändern. Wir haben in Hamburg aufgezeigt, wie man mit vernünftigen Lösungen die AfD vergleichsweise klein hält.

Nicht nur beim Thema Migration und Sicherheit scheinen die Gräben in der Bevölkerung tiefer zu werden – ein aktuelles Beispiel ist der Klimaschutz.

Das ist das generelle Problem: Wir haben eine totale Polarisierung in der Gesellschaft. Wir verlieren den Zusammenhalt. Wir fühlen uns nicht mehr als große Gemeinschaft, sondern nur als Teil von Gruppen, in denen man die eigene Weltsicht immer wieder gegenseitig bestätigt. Es fehlt mittlerweile oft völlig die Bereitschaft, sich mit anderen Menschen noch auseinanderzusetzen, ihre Haltung als legitim anzuerkennen und einen Konsens zu suchen. Der respektvolle Diskurs als eine grundlegende Kulturtechnik der Demokratie kommt uns immer mehr abhanden. Wir verabsolutieren unsere persönliche Sicht der Dinge und unsere jeweilige Lebenswelt.

Auch Greta Thunberg und die Klimaschutzbewegung formen ein „Wir“ gegen „Die“: Eine weltweite Bewegung gegen eine Politik, die zu wenig unternimmt.

Aufzurütteln ist immer legitim. Es sollte aber nicht ins Fanatische gehen. Wenn ich mir Äußerungen von „Extinction Rebellion“ anhöre, dass der Holocaust angesichts der Klimakatastrophe zu vernachlässigen sei, wenn der Klimaschutz etwas Quasi-Religiöses bekommt, dann ist das für mich ein weiterer Beitrag zur Spaltung der Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass sowohl Rechts- als auch Linksextremisten das Thema Klimaschutz für sich entdeckt haben. Sie wollen daraus Kapital schlagen.

Wie lässt sich dem entgegenwirken?

Wir müssen heraus aus diesem Modus der Konfrontation und brauchen starke Akteure der gesellschaftlichen Mitte. Die Klimaschutzdebatte ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Prozess ablaufen müsste: Das gemeinsame Suchen nach einer Klimastrategie, die einerseits das Ziel wirksam verfolgt, andererseits aber auch diejenigen auf dem Weg mitnimmt, die sich kein neues Elektroauto leisten können oder genau auf die Kosten für Strom und Heizung achten müssen. Politische Parteien sind ausdrücklich gefordert, hier die Interessen zusammenzuführen und Konflikte nicht zu verschärfen. Darum sind wir auch im Senat bemüht.