Hamburg. Ohne Streit ist kein Fortschritt möglich und Teller werfen sollte man nur unter bestimmten Umständen. Tipps zur Konfliktbewältigung.

Wenn es Ärger gibt, dann geht es bei Paaren, Freunden, unter Geschwistern und auch im Team bei der Arbeit häufig nur um eines: Anerkennung. Werde ich gesehen? Bin ich wichtig? Letztendlich lassen sich die meisten Konflikte darauf zurückführen. Sonja Nielbock und Dr. Jens Rogmann von der Universität Hamburg erklären, wie ich mich im Streitfall am besten verhalte.

Kürzlich war ich bei einem Dinner, und es gab Streit zwischen zwei Anwesenden. Eher ungewöhnlich, wie ich fand, eigentlich sagen wir uns unsere Meinung selten so direkt ins Gesicht, oder?

Sonja Nielbock Es ist mutig zu benennen, was einen stört. Dabei handelt es sich um einen eher westlichen Wert. Asiaten würden eine Auseinandersetzung vermeiden, da es Gesichtsverlust für sie bedeutet. Franzosen streiten sich tendenziell noch mal lieber als Deutsche. Dort herrscht eine Debattenkultur, wo man abends hitzig beim Essen diskutiert, und am nächsten Morgen ist wieder alles okay. Unsere Streit-Stile unterscheiden sich sehr stark.

Dr. Jens Rogmann Man kann eine Diskussion jederzeit optimieren, indem man beispielsweise sagt: „Willst du mal hören, wie meine Meinung dazu ist?“ Den anderen einzubinden hilft. Und als zweites könnte man sagen: „Ich kann auch falsch liegen. Sag du mir mal, was ich vielleicht nicht bedacht habe.“ Das nimmt jedem Streit die Spitze. Wobei „Streit“ schwer zu definieren ist. Ist ein Streit die hitzige, emotionale Auseinandersetzung, in der möglichst viele Scherben produziert werden?

Nielbock Streiten ist eine spezifische Form des Konfliktes, bei dem die Leute noch relativ sachlich sind. In einem Streit gibt es Positionen und Sichtweisen. Das kann auch mal laut werden, aber es handelt sich eher um eine Debatte, die nicht stark eskaliert. Sobald es emotionaler wird und persönliche Angriffe mit hineinkommen, würde ich es als Konflikt bezeichnen. Gerade an der Universität ist Streit einfach Wesensmerkmal im wissenschaftlichen Arbeiten. Nur so kommt man zu neuen Erkenntnissen.

Es handelt sich beim Streit also um einen wichtigen Teil des Alltags?

Nielbock Genau! Ich würde sogar sagen, Streit ist für unsere Gesellschaft, für jede Organisation und für den Einzelnen sehr wichtig, um sich überhaupt weiterzuentwickeln. Dazu passt ein schönes Zitat vom Soziologen Ralf Dahrendorf: „Ohne Streit gibt es keinen Fortschritt.“ Ein Streit und die Lösung des Konflikts kann eine Beziehung vertiefen und verbessern. Diese Erfahrung habe ich sowohl beruflich als auch privat gemacht.

Es gibt aber auch Streite, die nicht sein müssten.

Rogmann: Meinen Sie?

Nielbock: Doch. Jeder Streit, der entweder mit Machtspielen zu tun hat oder auf falscher Ebene ausgetragen wird, ist überflüssig. Wenn ich mich über jemanden ärgere und dann Sachargumente vortäusche, obwohl ich eigentlich nur sagen will: „Deine Art nervt mich schon so lange.“ Ich empfehle jedem zu überlegen: Worum geht es mir eigentlich? Was ist mein Bedürfnis? Wenn das Bedürfnis im Ärgerablassen liegt, dann ist ein Streit nicht sinnvoll.

Rogmann: Macht wird oft genutzt, um einen Streit zu unterbinden, der aber vielleicht wertvoll gewesen wäre. Und Beziehungskonflikte nicht offen anzusprechen, ist selten empfehlenswert. Da macht man dem anderen was vor.

Wird häufig auf einer ganz anderen Ebene gestritten und das, worum es eigentlich geht, kommt nicht zur Sprache?

Nielbock: Bei uns in der Konfliktberatung geht es genau um die Frage: Was steckt dahinter? Ich frage die Leute dann: Was brauchen Sie eigentlich, damit es Ihnen in der Zusammenarbeit gut geht? Was wollen Sie von Ihrem Gegenüber? Was soll der anders machen? So findet man Lösungen. Das unterstreicht wieder den produktiven Charakter des Streitens. Es geht um Verbesserungen.

Das klingt mir zu positiv. Streit erfordert doch auch viel Kraft und nimmt Energie.

Rogmann: Und wie. Ein Streit ist immer belastend, das stimmt. Manche Konflikte machen sogar richtig krank.

Nielbock: Wir erleben im Alltag aber zu viel konfliktvermeidendes Verhalten. Gerade auch deshalb, weil die meisten Menschen Angst haben vor Konflikten. Weil man nicht weiß, was passiert. Insofern ist Ihr Dinner-Erlebnis in der Tat bemerkenswert. Die meisten Leute trauen sich nicht und sprechen nur hinter dem Rücken. Das produziert langfristig schlimmere Konflikte. Heutzutage haben wir alle außerdem viel zu wenig Zeit zum Streiten. Dann schluckt man es lieber runter und macht weiter.

Rogmann: Bei einem Streit sollten wir uns vor Augen halten, dass der eine Konfliktpartner nicht sehen kann, was in dem anderen vor sich geht, mit welchen Interessen, Zielen und Bedürfnissen der andere ausgestattet ist. Wir sehen nur sein Verhalten und welche Wirkung es auf uns hat. Meistens schreiben wir dem anderen Motive zu, die viel schlechter sind, als die Motive, die man sich selbst zugute hält. Das ist das, was Schulz von Thun „misanthropische Unterstellung“ nennt: beim anderen von einer unmoralische Motivlage auszugehen. Aber das ist sehr selten richtig. Bei einem produktiven Streit erfolgt ein offener Austausch darüber, ein Test dieser eigenen Annahmen: „Darf ich mal hören, was du über mich denkst?“ Und: „Sag doch mal, ob ich damit richtig liege oder nicht.“ Immer mit der Erwartung, dass man sich wahrscheinlich irgendwo irrt. Meistens läuft es aber nicht so …

Selbst nicht bei Streit-Experten wie Ihnen beiden?

Rogmann: Mir geht es da genauso wie anderen Menschen auch. Nur weil wir uns mit Konflikten beschäftigen, können wir sie nicht immer besser händeln. Wahrscheinlich habe ich schon im Laufe der Zeit dazugelernt, aber wenn ich unter Druck stehe oder von einer Entscheidung z. B. viel abhängt, dann fällt es mir auch schwer, die richtigen Verhaltensweisen umzusetzen.

Um was streiten Sie sich denn?

Nielbock: Um Werte. Mir ist aufgefallen, dass Freundschaften in meinem Umfeld an Fragen von Kindererziehung zerbrochen sind. Denn dabei geht es um Werte, um Privates. Es gibt kaum etwas Wichtigeres für einen Vater und eine Mutter als das eigene Kind und die Vorstellung, was für das Kind wichtig ist. Freundinnen von mir haben sich zerstritten über die Frage, wie man mit Kindern umgeht. Das ist schwer wieder zu kitten, weil es die Identität betrifft. Für einen produktiven Streit müssten die akzeptieren, dass andere Menschen die Situation anders sehen können, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt und nicht nur die eigene richtig ist. Das halten die meisten Menschen gar nicht aus. Wenn es um Kinder geht, am wenigsten. Oder um den Partner. Deshalb stehen die Regale voller Ratgeber über die Liebesbeziehung, die nicht kaputtgehen soll.

Gibt es eine Grafik über die Streithäufigkeit von Paaren, bezogen auf die Jahre des Zusammenseins oder die Anzahl der Kinder?

Nielbock: Ein Paar mit Kindern hat deutlich mehr Klärungs- und Organisationsbedarf. Ich würde sagen, es ist eher ein Zeichen einer gesunden Beziehung, wenn man sich darüber auseinandersetzt. Wenn sich einer zurückzieht, dann hält entweder die Beziehung nicht mehr lange, oder einer leidet zu stark.

Rogmann: Es ist grundsätzlich wichtig in einer Paarbeziehung, sich Zeit füreinander zu nehmen. Bei vielen Paaren geht das wegen der Belastungen im Alltag mit Kindern verloren. Ich habe die Erfahrung auch in der Beziehung mit meiner Frau gemacht, dass es hilft, darüber zu sprechen, was uns in unserer Beziehung gefällt oder nicht. Wenn man sich nicht offen sagt, was einen stört, dann wirkt das wie Sand im Zahngetriebe. Es gibt Reibung. Immer mehr Sand häuft sich auf, den muss man abbauen.

Wie sieht es mit Geschwistern aus: Müssen die sich zwangsläufig streiten?

Nielbock: Bei Paaren wie in Organisationen wie unter Geschwistern geht es häufig um Anerkennung. Werde ich gesehen? Bekomme ich Wertschätzung? Bei Professoren auch gerne mal: Wer ist wichtiger? Wer hat mehr Mitarbeiter, mehr Einfluss? Unterm Strich sprechen wir immer über Anerkennung.

Rogmann: Und um Gerechtigkeit. Wenn ein Team beispielsweise umzieht und die Räume neu aufgeteilt werden müssen, geht es nicht nur um die Frage: „Wer geht pragmatisch in welchen Raum?“ Sondern bei einigen poppt plötzlich die Frage auf: „So wenig Raum bin ich wert?“. Und dann wird es problematisch, weil es dann um die Identität und das Ringen um Selbst- und Fremdbild geht. Das ist in vielen Familien ähnlich. Wer hat das größere Zimmer? Wer bekommt welchen Teil der Erbschaft?

Nielbock: Unklarheiten sind ebenfalls ein großer Konfliktherd. Wenn in Unternehmen die Leute nicht wissen, wer was entscheiden darf. Wer hat welche Aufgaben? Familiensysteme sind noch unklarer. Da gibt es ja keine klaren Positionen.

Rogmann: Und auch naturgegeben keine Gerechtigkeit, denn ein Erziehungsstil ergibt sich doch vor allem aus der Persönlichkeit des Kindes. Es ist gar nicht möglich, Prinzipien, die du beim ersten Kind hattest, 1:1 auf das zweite anzuwenden. Wichtig ist nur, dass die Eltern sich darüber verständigen, denn wenn ihre Kommunikation zusammenbricht, können die Kinder sie gegeneinander ausspielen.

Was mache ich denn, wenn ein Streit eskaliert und ich merke, ich kann mich nicht mehr zusammenreißen?

Nielbock: Rausgehen! Wenn ich merke, mein Herz geht schneller, mein Kopf wird rot, dann sollte ich sagen: „Könnte ich mal kurz eine Pause haben?“ Bei der Arbeit genauso wie zu Hause. Einmal vor die Tür gehen und sich fragen: „Was ist eigentlich los? Was hat mich so wütend gemacht?“ Anschließend kann man fragen: „Du hast das gesagt bzw. das habe ich gehört: Hast du das so gemeint?“ Für einen guten Streit muss man seine Gefühle in den Griff bekommen.

Wie zeige ich einer Person, mit der ich im Konflikt bin, dass ich sie trotzdem noch wertschätze?

Rogmann: Indem Sie sich Zeit nehmen. Das Timing muss stimmen. Wenn der andere gar keine Chance hat, sich zu erklären, weil ich etwas zwischen Tür und Angel anspreche, wird das meist nichts.

Nielbock: Ihre innere Haltung muss auch stimmen. Sie sollten wirklich interessiert sein an dem anderen. Das spürt der nämlich.

Rogmann: Auch wichtig: Generalisierungen vermeiden. „Du tust immer … und machst nie …“ So was hilft überhaupt nicht, sondern man muss konkret benennen, was einen stört.

Eine alte Empfehlung lautet: Nur Ich-Botschaften senden. Ist das in der Konfliktforschung noch State of the Art?

Rogmann: Nein, überholt. Die Idee von Ich-Botschaften entstand in einer Zeit, in der die Kommunikationsstruktur so beschaffen war, dass sehr wenig über sich selber berichtet und preisgegeben wurde. Dem sollte entgegengewirkt werden. Heute wissen wir es besser: Es gibt viele Menschen, die von sich aus schon sehr viel über sich sagen, aber z. B. sehr unklare Bitten an andere richten. Denen jetzt noch anheim zu legen, noch mehr über sich noch mehr zu sagen, wäre Quatsch. Deutliche Wünsche klar und knapp zu formulieren wäre da wohl eine passendere Entwicklungsaufgabe.

Nielbock: Es bringt auch gar nichts, eine Kritik verschwurbelt als Ich-Botschaft zu senden: „Ich habe den Eindruck, du hast die Geschirrspülmaschine wieder nicht ausgeräumt.“ Da hört der andere die Kritik genauso als wenn ich gesagt hätte: „Räum endlich mal die Geschirrspülmaschine aus!“

Rogmann: Es wirkt auch nicht authentisch. Es muss authentisch bleiben.

Und wenn es authentisch für mich wäre, Geschirr zu zerdeppern?

Rogmann: Teller werfen? Ja gut, kann man machen, aber meistens sind die ja verbunden mit dem Wurf auf den anderen hin. Das ist das Problem: Die Wut wird allein als von außen verursacht angesehen, der Tellerwerfer fühlt sich als Opfer und wechselt jetzt in eine Verfolgerrolle. Solange jemand in seinem Büro vor sich hin kocht und die Teller kaputt macht, kann ich als Führungskraft noch sagen: „Die muss er mir bezahlen, aber gut, soll er machen.“ Treten Konflikte aber mit solchen wechselnden Täter-, Opfer- und Verfolger-Rollen auf, dann wird es wirklich schwierig.

Wie gelingen Kompromisse?

Nielbock: Indem ich Brücken baue. Wenn ich sage: „Ich weiß, du hast da eine andere Sichtweise. Und die höre ich mir auch gleich an, aber meine Sichtweise ist folgende.“ Dann fühlt sich mein Gegenüber gesehen, weil eine Wertschätzung vorhanden ist. Die Message ist: Ich will dich nicht belehren, dass du es auch so sehen sollst wie ich, aber ich habe eine andere Position.

Rogmann: Mir selbst hat immer ein Satz vom israelisch-amerikanischen Konfliktforscher Jay Rothman geholfen, von dem habe ich gelernt: „Wenn ich dem anderen Vorwürfe mache, dann zeigt zwar ein Finger auf den anderen, aber es gibt drei Finger, die auf mich selber deuten.“ Tiefer in sich zu gehen ist darum immer gut, bevor wir die Konfrontation mit anderen suchen.

In der nächsten Folge wird es um diese Frage gehen: Welche Bedeutung hat Musik?