1844 rollte die König Christian VIII. Ostseebahn erstmals durch Schleswig-Holstein. Das steile Elbufer war das schwierigste Hindernis.
Das Gelände ist schwierig, die Technik schlicht, die Anstrengung enorm: Wochenlang schleppen Arbeiter in Wind und Wetter stählerne Schienen auf den schroffen Abhang am nördlichen Ufer der Elbe. Sie graben Schwellen in den Boden, hieven Rollböcke auf die Gleise, bauen eine Winde für tonnenschwere Güterwagen auf dem Berg.
Der Lohn der ameisenhaften Mühe ist 210 Meter lang, steigt 30 steile Meter den Geesthang zum Altonaer Bahnhof empor und wird auf Anhieb zum wichtigsten Teilstück der ersten Zugverbindung vom Elb- zum Ostseestrand. Denn erst jetzt, Monate nach dem ersten Passagierzug vor 175 Jahren, kann auch der Gütertransport auf Schienen beginnen, für den die „König Christian VIII. Ostseebahn“ eigentlich gebaut worden ist.
Schon 1840 haben sich Kaufleute aus Altona und Kiel zusammengetan, um ihre Waren schneller zu den Märkten und Handelshäusern im Binnenland zu transportieren. Hamburgs westliche Schwester gehört damals zu Dänemark und ist nach Kopenhagen sogar die zweitgrößte Stadt in dem nordischen Königreich. Nun soll die Eisenbahn die Städte im Herzogtum Holstein enger zusammenbinden.
105 Kilometer in drei Stunden
Die Idee einer Zugverbindung zwischen Nord- und Ostsee ist allerdings nicht mehr ganz neu: Bereits fünf Jahre zuvor schlägt der berühmte deutsche Eisenbahnpionier Friedrich List einen Schienenweg zwischen Hamburg und Lübeck vor.
Doch die Dänen torpedieren den Plan. Denn die beiden großen Hansestädte gehören zum Deutschen Bund, und die „Königliche Eisenbahn-Commission in Kopenhagen“ besteht aus fiskalischen Gründen auf totaler Kontrolle: Wenn schon eine Eisenbahn einträglich über dänisches Gebiet rollt, dann nur unter dänischer Regie!
Die Hanseaten sind verärgert, die Altonaer aber jubeln. Schon 1842 gewährt König Christian VIII. die Konzession für eine Trasse über Pinneberg, Tornesch, Elmshorn, Neumünster und Bordesholm nach Kiel. Haltestellen sind etwa in Stellingen, Eidelstedt, Hastenbeck, Priesdorf und Horst geplant. Gesamtlänge 105 Kilometer, vorgesehene Fahrtzeit drei Stunden – für damalige Verhältnisse eine schiere Raserei mit bis zu 45 km/h.
Zum Einsatz kommt modernste Technik. Die zehn Dampfloks werden nach einer internationalen Ausschreibung aus England importiert. Ihre acht Schlepptender baut der Berliner Eisengießer Friedrich Wöhlert. Die 37 Personenwagen werden bei Röhe & Wienbarg in Altona auf die Achsen gestellt.
Die 50 Pack- und Güterwagen kommen ebenfalls aus der Region: vom Altonaer Wagenfabrikanten Wilhelm Carsten Carl Knupper und aus der Maschinenfabrik des Kaufmanns Johann Schweffel und des „Mechanikus“ August Ferdinand Howaldt am Kieler Hafen. Und einige auch von Meyer in Uetersen, wo eifersüchtige Fuhrleute durchgesetzt haben, dass die neue Bahnlinie nur durchs benachbarte Tornesch führt.
Organisation und Technik sind noch ziemlich personalintensiv
Den Bahnhof am Südende der neuen Strecke stellt der Kaufmann Carl Theodor Arnemann, erster Direktor der neuen Ostseebahn, direkt an die Abbruchkante zum Elbtal. Die Bürger nennen den idyllischen Platz „Altonaer Balkon“ und fühlen sich gestört, weil dort jetzt Dampfzischen und Räderdröhnen den Naturgenuss nehmen.
Damit sich wenigstens die Lärmbelästigung für die Anwohner in Grenzen hält, lässt Bürgermeister Caspar Behn die Bahnhofsstraße – heute Max–Brauer–Allee – anlegen. Die neue Häuserzeile schirmt den Lärm der Loks einigermaßen ab.
Die erste Fahrt führt mehr als 100 Ehrengäste am 18. September 1844 nach Norden. Mit Musik und Hurra rollen drei Wagen in festlichem Blumenschmuck durchs flache Land. „Auf der Strecke nach Kiel standen überall Menschen und jubelten dem ersten Eisenbahnzug in Schleswig-Holstein zu, auch wenn manche Bauern noch verächtlich sagten: ‚Ohne Peer? Allns Lögens!‘“, schildert ein Chronist.
Gegen 11 Uhr begrüßen Salutschüsse die Pioniere in Kiel zur offiziellen Einweihungsfeier. Dort erhält die neue Verkehrsverbindung auch ihren Namen: „König Christian VIII. Ostseebahn“. Es ist die allererste Überlandverbindung auf Schienen im ganzen Staate Dänemark.
Organisation und Technik sind noch ziemlich personalintensiv. Als Signale dienen Flaggen. Zeigen sie in Fahrtrichtung, ist der Schienenweg frei. Stecken sie aber im Boden, ist Vorsicht geboten, dann stehen in der Nähe vielleicht Kühe auf den Gleisen. Nach strengen Sicherheitsvorschriften postieren sich die Wärter an der Strecke so, dass jeder Blickverbindung zum Nachbarn hat. Das bedeutet, dass von den ersten 226 Mitarbeitern allein 119 an den Signalen im Einsatz sind. An den „Ausweichen“ der eingleisigen Strecke zeigen außerdem schräge oder lotrechte Scheiben dem „Dampfwagenführer“ die aktuelle Stellung der Weichen an.
Besonders knifflig sind die Fahrpläne. Die astronomische Zeit in Altona und Kiel unterscheidet sich um 40 Sekunden, und deshalb kommen die Züge immer um eine knappe Minute zu spät oder zu früh. Der Gründer und Chef der Altonaer Sternwarte, der Vermessungsingenieur Heinrich Christian Schumacher, löst das Problem, indem er eine künstliche mittlere Uhrzeit konstruiert. Verspätungen von dann nur noch 20 Sekunden bedeuten gefühlt Pünktlichkeit.
So recht rentabel kann die Eisenbahn aber erst werden, als der Seilaufzug am Elbhang in Aktion tritt und bald auch immer mehr Waren für die etwas küstenferneren Gegenden im Herzogtum Holstein die Waggons füllen. In Kiel nimmt eine neue Hafenbahn schon Anfang September 1844 den Betrieb auf, in Altona aber verlangt der Warenumschlag zwischen Wasser und Schiene wegen der vermaledeiten Topografie noch eine Muskelarbeit wie im Mittelalter: Jeder Güterwagen muss auf Rollböcke umgesetzt und von Pferden, die weit oben an den langen Hebeln eines Göpels im Kreis laufen, über die 15-prozentige Steigung hinaufgezogen werden.
Erst 1849 erlöst Dampfkraft die Tiere. Drei Jahrzehnte später beseitigt der Hafenbahntunnel Altona, im Volksmund „Schellfischtunnel“ genannt, das Hindernis. Am 18. Januar 1876 wird das 395 Meter lange Bauwerk eröffnet.
Heute dient das nördliche Ende als Zufahrt für Brummis in den Keller eines Kaufhauses, und seither besitzt die 175 Jahre alte Strecke ein weiteres Highlight: einen weltweit fast einzigartigen unterirdischen Bahnübergang.