Hamburg. Macht Mozart schlau? Experten erklären, warum Ärzte Konzertbesuche verordnen sollten und was Bachs Goldberg-Variationen bewirken.
An Experten-Meinungen zu Musik herrscht kein Mangel, auch ihre kulturelle Wichtigkeit steht seit Jahrhunderten außer Zweifel. „Ohne Musik“, fand der Philosoph Nietzsche, „wäre das Leben ein Irrtum.“ Musik kann mit wenigen Tönen verdellte Herzen kitten und Menschenmassen aufpeitschen. Auf die Frage nach ihrer Bedeutung antwortete Leonard Bernstein: „Die liegt in der Musik selbst und sonst nirgends.“ Beim Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Kai Stefan Lothwesen und dem Gefäßchirurgen Eike Sebastian Debus wurde klar, wie viel bei diesem Thema mitklingt und nachhallen kann.
Welche Bedeutung hat für Sie beide, vor allem beruflich, Musik? Und wie sehen die Auswirkungen aus?
Lothwesen Bedeutung ist ja nicht einfach so da, die wird konstruiert, indem wir mit Dingen oder Sachen umgehen. Wir erforschen unterschiedliche Bedeutungen und fragen: Was machen Menschen mit Musik und was macht sie mit ihnen? Psychologisch, physiologisch, soziologisch, historisch, pädagogisch, künstlerisch, aber auch ökonomisch. Neulich auf einem Stadtteilfest traten zwei junge Rapper auf, und ein älterer Herr tobte: Das ist doch keine Musik, das kann ja jeder! Die Aussage „Das ist keine Musik!“, die kann jeder treffen, die ist ganz subjektiv. Und wenn ich dann frage, was jemand unter Musik versteht, dann bin ich bereits mitten im Thema.
Was ist für Sie die wichtigste Bedeutung?
Lothwesen Ich sehe Musik als menschliches Grundbedürfnis. Damit kann ich mich ausdrücken, jenseits von Sprache, und habe trotzdem die Möglichkeit verstanden zu werden. Musik ist ein Kommunikationsmittel, das mich auch kulturelle Hintergründe sehen lässt.
Debus Bei uns geht es um die Möglichkeiten, die Musik im Bezug auf Heilung bietet. Sie hilft heilen, in ganz verschiedenen Szenarien. In Studien wurde beispielsweise festgestellt, dass Patienten mit Durchblutungsstörungen der Beine unter Einfluss von Musik wesentlich weiter laufen können und man dadurch Schmerzmittel einsparen kann.
Es gibt aber doch garantiert auch Kontraindikationen: Falls ich Helene Fischer nicht ausstehen kann und Bluthochdruck habe, sollte ich das lieber nicht hören …?
Debus Absolut. Musik ist nicht gleich Musik. Und wenn ich bei Heavy Metal gut operieren kann, braucht mein Kollege vielleicht Mozart. Es gibt Untersuchungen mit Chirurgen, die ergaben, dass Mozart-Liebhaber zu Mozart-Musik atraumatischer und zügiger operiert haben. Bei therapeutischem Einsatz von Musik muss man immer nach Vorlieben des individuellen Patienten gehen.
Mit Musik können ja Sie keinen Splitterbruch beheben. In welchen medizinischen Bereichen kommt sie konkret zum Einsatz?
Debus: In der Psychiatrie, in der Behandlung von Depressionen, bei Demenzkranken, in der Onkologie …
Wie wichtig ist für eine Gesellschaft der Umgang mit Musik, wenn es schon so viele mögliche Bedeutungen gibt?
Lothwesen Ich finde das sehr zentral. In einer Studie wurde Musik einmal als „auditory cheese cake“ bezeichnet: nett zu haben, aber satt würde man davon nicht werden. Das geht natürlich so gar nicht. Ohne Musik geht gar nichts.
Und was ist mit den Menschen, die sich bei einem Konzert einfach nur unterhalten lassen wollen, vom Alltag abschalten wollen? Die gar nicht wissen wollen, nach welchen Spielregeln diese Musik gebaut wurde?
Lothwesen Wenn das für sie okay ist, muss man das respektieren. Aber solche subjektiven Vorlieben haben nichts mit Gesellschaft zu tun. Auf der gemeinschaftlichen Ebene spielen andere Faktoren eine Ebene. Ich kann individuelle Musik aussuchen, um Selbstheilungskräfte zu wecken und Kraft zu gewinnen.
„Musik sind bewusst gestaltete, in der Zeit gegliederte und nichtsprachliche akustische Ereignisse in sozialen Zusammenhängen“, behauptet der Neurowissenschaftler und Musiker Eckart Altenmüller. Richtig?
Lothwesen Das ist super.
Mein Herz schlägt schneller, sobald mich eine bestimmte Musik erwischt, auch wenn ich nicht weiß, was ein Quartsextakkord ist?
Debus Klar. Genau. Es gibt zwei Methoden Musik zu hören: analytisch oder rein emotional betont. Für uns in der Medizin, in der Therapie, geht es um das emotionale Erlebnis, weniger um die Analyse.
Zeit heilt alle Wunden, aber Musik lindert viele Schmerzen?
Debus Ja, das würde ich unterschreiben. Es geht bei Musik aber nicht um das Ausheilen, sie ist immer etwas Zusätzliches, Unterstützendes.
Mozart muss für fast alles herhalten: Hühner geben dann mehr Eier, Kühe produzieren mehr Milch. Eine andere Studie kommt zum Schluss, seine Musik verbessere das räumliche Vorstellungsvermögen?
Lothwesen Eine Studie von 1993, bekannt geworden als der „Mozart-Effekt“. „Musik macht schlau“, auf diesen Slogan wurde das damals gebracht. Und da müssen wir Musikwissenschaftler sagen: Ja, das stimmt. Aber: nur in Musik. Weil Sie in Musik Musik lernen. Es gab Wiederholungen dieser Experimente mit anderer Musik, mit Klassik von Schumann oder mit Heavy Metal, und siehe da: Es funktioniert auch damit. Es geht also immer um subjektive Gewohnheiten. Ich muss beobachten: Wie gehen Menschen mit Musik um, und wozu tun sie das?
Wozu tun sie es denn?
Lothwesen Sie können Musik hören, damit es ihnen besser geht. Um sich zu fokussieren, sich zu motivieren.
Debus Menschen haben Angst vor der Einsamkeit haben und vor der Stille. Musik kann hier helfen, davor zu flüchten.
Lothwesen Stille ist unnatürlich. Wenn Stille da ist, ist es potenziell gefährlich. Weil wir nicht wissen, was passiert.
Das berühmteste rezeptfreie Medikament der Musikgeschichte sind Bachs Goldberg-Variationen, gegen Schlafstörungen komponiert. Haben Sie die schon mal verschrieben?
Debus Nein. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Das ist eine so unaufgeregte, schnörkellose Musik. Da könnte ich mich gut konzentrieren.
Gern erwähnt beim Umgang mit Musik: die Glückshormone, die Endorphine.
Debus Man kann es oft erleben, dass Menschen beim Hören bestimmter Stücke zu Tränen gerührt sind. Nachgewiesen wurde das beispielsweise bei Demenzkranken, wenn sie Musik hören, mit der sie aus der Jugend positive Assoziationen haben.
Wagners Musik wird besonders gern als Droge bezeichnet. Wer einmal in Bayreuth war, will das immer wieder haben. Musik, egal welcher Stilrichtung, kann also ein natürliches High auslösen?
Lothwesen Die Frage nach dem High kann man auch anders stellen. Und „Bayreuth“ könnte man durch „Wacken“ ersetzen oder andere Festivals. Das ist viel vielschichtiger als nur der Klang. Das mit der Droge ist mir zu platt. Musik wirkt. Musik wirkt körperlich. Beim Musikhören werden immer auch motorische Areale der Großhirnrinde aktiviert.
Ist Musik ein Seelentrostpflaster für Menschen, die sich in unserer Gesellschaft immer mehr vereinzeln oder vereinzelt werden?
Lothwesen Das könnte sein. Aber wenn Sie sich ansehen, wie Konzertpublika als Einheit und Gemeinschaft fungieren, dann ist das Potenzial von Musik, Identität in einer Gruppe zu stiften, unübersehbar. Wenn ich im Bayreuther Festspielhaus, im Schlamm von Wacken oder bei Helene Fischer in einer Arena-Show war, ist immer die Frage, was ich davon in mein Alltagsleben mitnehme.
Speziell für Sie als Gefäßmediziner, Herr Debus, habe ich einen wunderbar passenden Text mitgebracht: „Durch meine Venen fließt der Bass / Hämmert gegen meine Sehnen / Auf das Leben ist Verlass / Es hat noch viel zu geben“. Helene Fischer, „Herzbeben“... Genau Ihr Thema.
Debus Ja, klar. Sie versteht es, Massen zu emotionalisieren: ihre Show ist nicht nur Musik – sie wirkt auch sehr durch das optische Spektakel, durch Tanz und Akrobatik ... Helene Fischers Herzbeben erreicht offensichtlich nicht nur ihr Publikum, sondern auch sie selbst. Es strahlt Freude am Leben und Lebenslust aus.
Und das Herzbeben erst: Musik - etwas, das man nicht anfassen kann - wirkt sich also konkret auf einen Muskel im Körper aus.
Debus Absolut. Das kann Musik.
Lothwesen Ich war neulich in der Elbphilharmonie, bei einem Konzert des Pianisten Pierre-Laurent Aimard. An einer Stelle bebte das Klavier – und plötzlich nahm er das Pedal weg und hielt einen Klang. Und aus den 2000 Menschen hörte man eine Frauenstimme, ein langes „Aaaaah …!“ Das war eine so direkte Reaktion, völlig unverblümt.
Ein klassisches Einsatzgebiet von Musik als Schmerztherapie ist: als Mittel gegen Liebeskummer. Da sind Sie beide völlig unisono?
Beide Ja.
LothwesenEin Forschungsbeispiel aus den 1970ern: Man kann über Musik auch soziale Beziehungen erleben und Situationen erinnern. Das wäre eine Art „Liebling, sie spielen unser Lied“-Hypothese.
Wenn wir von den vielen Bedeutungen von Musik reden, ist und bleibt die wichtigste: Musik zu sein?
Debus Musik ist in erster Linie Musik. Alles Weitere, all ihre reichhaltigen Facetten, können Effekte bei uns bewirken, die aber Musik nie vollständig und umfassend ausmachen.
Wenn Musik diese positiven Wirkungen aufs Hirn hat, müsste ich dann nicht dauerbeschallt werden, damit der positive Effekt chronisch wird und die Synapsen nicht wieder auf den Vorher-Zustand gehen?
Lothwesen Das glaube ich eben nicht. Die Wirkung von Musik ist ja gerade nicht, dass man sich ihr dauerhaft aussetzt. Sondern dass man in Musik als ästhetischem Erfahrungsraum Dinge erleben kann, die etwas mit mir machen. Wenn das dauernd so wäre, dann würde ich abstumpfen.
Musik ist Kunst und Medizin zugleich?
Debus Sie hat auf jeden Fall einen Effekt in verschiedenen medizinischen Bereichen.
Also müsste es Konzertkarten vom Arzt verschrieben geben?
Lothwesen Warum nicht? Fände ich super.
Was würden Sie als Mediziner empfehlen, um auszutesten, ob Musik auf jemanden therapeutische Wirkung haben kann, der bislang nicht davon überzeugt war?
Debus Wir sind den Weg gegangen, gezielt nach Lieblingsmusik zu fragen. Es wurde auch Musik eingesetzt, die von den Patienten explizit nicht gemocht wurde. Dabei haben wir nachweisen können, dass ganz unterschiedliche Hirnbereiche aktiviert werden. Musikvorlieben sind immer individuell, müssen also individuell eingesetzt werden. Wenn es dagegen um therapeutische Effekte von größeren Menschenmengen geht, beispielsweise in Warteräumen, in der Notaufnahme oder im OP, kann dies nur über subtil eingesetzte Klangwelten – beispielsweise Naturklänge oder nicht-repetitive artifizielle Klänge – funktionieren, sogenannte „healing soundscapes“. Ein Projekt, das wir derzeit mit der Hochschule für Theater und Musik und dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg durchführen. Wir wollen „healing soundscapes“ in unserem neuen Herz- und Gefäßzentrum therapeutisch einsetzen.
Und was würden Sie als Musikwissenschaftler jemandem empfehlen, damit er erkennt, dass Musik sein Leben verändern kann?
Lothwesen Ganz schwierige Frage … Es kommt auch immer darauf an, wo und wie man diese Musik hört. Ein eigenes Erleben: Im Kloster Eberbach habe ich Verdis „Requiem“ gehört. Ich bekomme sofort wieder Gänsehaut beim Gedanken daran. Fantastisch! Überwältigend! Eine Empfehlung könnte sein: bewusst zu sein, sich auf die Musik einzulassen und versuchen zu merken, was das mit einem macht. Das kann eine kleine Mozart-Fantasie sein oder „My Generation“ von The Who. Oder etwas von Helene Fischer. Je nachdem, wie‘s gefällt.