Hamburg. Sie wurde 2015 als Abgeordnete bedroht und beleidigt. Jetzt wird die Politikerin erste Grüne Bezirksamts-Chefin.
Stefanie von Berg legt den Fahrradhelm auf einen Stuhl, wirft ihre Jacke über die Lehne. Kräftiger Händedruck, dann sofort die Frage: „Bin ich zu spät?“ Dabei ist sie auf die Minute pünktlich ins Café Alex am Jungfernstieg gekommen, ohne Blick für den Alsterdampfer, der an diesem Montagmorgen gerade ablegt. Sie bestellt einen Milchkaffee, schaltet sofort in den Interview-Modus.
Eines wird beim Abendblatt-Termin sofort klar: Diese Frau hat keine Zeit zu verlieren. Wer so viele Jahre Familie, Politik und Beruf vereint, muss fix sein. Im Kopf. Und in den Beinen. Andererseits wirkt sie zu keiner Minute gestresst oder gar gehetzt. „Wer führen will, muss fröhlich sein“, zitiert sie ihre Parteifreundin und Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank.
Ernennung ist reine Formsache
Am 1. Dezember wird die 55-Jährige als erste Grüne das Amt einer Bezirksamtschefin in Hamburg antreten, die Ernennung durch den Senat ist reine Formsache. Bezirk, das klingt nach kleinem Karo. Doch in Altona leben fast 275.000 Bürger, mehr als in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt Kiel. 14 Stadtteile von Rissen im Hamburger Westen bis zur Sternschanze am Rand des Bezirks Mitte. Noch weiter reicht die soziale Spannbreite – von den Villen im Nienstedten bis zum Plattenbau Osdorfer Born. Zudem verlangen die wechselnden Mehrheiten im Bezirk besonders feines Fingerspitzengefühl.
Eine echte Herausforderung für Stefanie von Berg. Geboren in Göttingen, Abitur in Rotenburg/Wümme, Lehramtsstudentin, Berufsschullehrerin, Leiterin des Studienseminars Stade. Promoviert. Und ausgebildete Arzthelferin.
Eigentlich wollte sie Medizin studieren
Arzthelferin? Ungewöhnlich für eine Abiturientin mit einem Schnitt von 1,7. „Eigentlich wollte ich Medizin studieren“, sagt Stefanie von Berg, der Großvater war Pathologe, der Vater Kinderarzt. Doch ihre Abi-Note reichte nicht für den Studienplatz, also machte sie eine Ausbildung bei einem HNO-Arzt, um die Wartezeit zu überbrücken. Nach dem Abschluss entschied sie sich gegen eine Arzt-Karriere – abgeschreckt hatten sie nicht zuletzt die Marathonschichten des Vaters –, zog stattdessen in neun Semestern ein Lehramtsstudium (Fachrichtung Gesundheit) durch. Von der Berufsschule in Verden wechselte sie ans Studienseminar nach Stade, seit 2004 leitet sie die Institution für angehende Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen.
Eine Karriere ohne Brüche. Mit Top-Noten, mit Anerkennung von Vorgesetzten und Referendaren. Ganz anders endete ihr erstes großes politisches Projekt. Stefanie von Berg engagierte sich mit der Initiative „Die Schulverbesserer“ für die vom schwarz-grünen Senat angestrebte sechsjährige Primarschule, stritt über Monate mit Reform-Gegner Walter Scheuerl. Dessen Initiative triumphierte, „Wir wollen lernen“ gewann den Volksentscheid im Juli 2010 klar.
Engagierter Wahlkampf
Dieser „ziemliche Scheißtag“ (so die damalige grüne Bildungssenatorin Christa Goetsch) hätte zugleich der Schlusspunkt aller politischen Ambitionen der Stefanie von Berg sein können. Gemeinsames Frust-Trinken, dann Rückzug nach Stade. Stattdessen lässt sie sich vom Spitzen-Grünen Anjes Tjarks („Wir brauchen Frauen wie dich“) zum Eintritt in die Partei überreden, kandidiert auf Platz zwei in Eimsbüttel, überholt mit einem engagierten Wahlkampf den vor ihr postierten Parteifreund und zieht im Februar 2011 in die Bürgerschaft ein. Diese Episode verrät viel über Stefanie von Berg. Sie kann mit Niederlagen umgehen – und begreift Chancen früher als andere.
Geprägt, sagt sie, hätten sie ihre USA-Erfahrungen. Sie war gerade sechs Jahre alt, besuchte die erste Klasse einer Grundschule in Göttingen, als ihr Vater mit der Familie nach New York ging, um sich dort zu habilitieren. An einem ihrer ersten Schultage riss das Gummibändchen ihrer Unterhose, per Zeichensprache („Ich konnte kein Wort Englisch“) wollte sie die Lehrerin auf das Malheur aufmerksam machen. Doch die rief bei der Mutter an, die Tochter habe sich eingenässt: „Ich habe mich so geschämt, als Mama mit der frischen Wäsche kam.“
Engagement für Flüchtlinge
Auch wegen ihrer USA-Erfahrungen engagierte sich Stefanie von Berg in der Bürgerschaft für die Kinder von Flüchtlingen: „Dieses Gefühl, fremd zu sein, war für mich zunächst traumatisch. Dann habe ich aber auch gelernt, wie schnell man sich integrieren kann, wenn man die Sprache lernt.“ Ausgerechnet dieses Werben für Bildung spülte die Abgeordnete in eine Welle von Hass und Morddrohungen.
Es ist Mittwoch, 11. November 2015, als Stefanie von Berg um 18.01 Uhr zum zweiten Mal an diesem Tag in der Bürgerschaft das Wort ergreift. Als schulpolitische Sprecherin ihrer Fraktion spricht sie über Unterricht für Flüchtlingskinder. Bildung sei der Schlüssel zur Integration, das ist ihre Botschaft. Sie referiert über eine Studie, nach der multikulturelle Städte wie New York oder Amsterdam besonders erfolgreich seien. Auch Hamburg werde sich „radikal verändern“: „Ich bin der Auffassung, dass wir in 20, 30 Jahren gar keine ethnischen Mehrheiten mehr haben werden.“ Diese Prognose ist alles andere als abwegig, knapp vier Jahre nach ihrer Rede liegt der Migrationsanteil der Hamburger bei 35 Prozent, jeder zweite Grundschüler hat zumindest einen Elternteil, der nicht aus Deutschland stammt.
Nach einer Rede 2015 ging die rechte Hetze los
Im Video der Bürgerschaftssitzung ist dann zu sehen, wie Stefanie von Berg sich verhaspelt, irritiert durch Zwischenrufe der AfD. Dann sagt sie: „Und ich sage Ihnen ganz deutlich, gerade hier in Richtung rechts: Das ist gut so.“
15 Worte, die das Leben von Stefanie von Berg in ein Vorher und Nachher teilen. Die AfD postet ein Video aus der Rede mit dem Satz „Grünen-Politikerin lässt Maske fallen“ und der Überschrift „Das politische Ziel der Grünen: Es soll keine deutsche Bevölkerungsmehrheit mehr geben“. Dies hat Stefanie von Berg zwar in Wahrheit nie gesagt. Doch das nützt ihr ebensowenig wie die spätere Entschuldigung des damaligen AfD-Fraktionschefs Jörn Kruse.
Denn inzwischen haben rechtsradikale Blogs den Beitrag geteilt, die Kommentare unter den Einträgen reichen von Morddrohungen („Gut wäre … Erlösung durch Genickschuss für diese Frau“) bis zu Wünschen nach brutaler sexueller Gewalt („Sie möge … von einem Muslim überfallen und vergewaltigt werden“). Auch am Telefon und per Mail wird Stefanie von Berg massiv bedroht und beleidigt. Die Abgeordnete stellt Strafanzeigen; gegen zehn Täter, die die Staatsanwaltschaft identifizieren kann, ergehen Strafbefehle. „Leider scheitert unser Rechtsstaat zu oft daran, an die Klarnamen von Facebook-Usern heranzukommen, die solche strafbaren Kommentare schreiben“, sagt sie.
Der Hass hat sie verändert
Habe sie den Tag verflucht, an dem sie diese Rede gehalten hat? Stefanie von Berg schüttelt den Kopf: „Nein, mich ärgert nur, dass es rhetorisch eine der schlechtesten Reden war, die ich jemals gehalten habe.“ Zu der Botschaft, dass Gesellschaften von Migration profitieren, wenn die Rahmenbedingungen stimmen – Arbeitsplätze, Wohnen, Bildung, Integration –, steht sie nach wie vor: „Ein Einwanderungsland wie Australien zeigt, dass solche Gesellschaften toleranter, weltoffener sind. Und sie bekennen sich besonders stark zu Frauenrechten.“
Wie hat der Hass Stefanie von Berg verändert? „Ich schütze meine Privatsphäre mehr. Früher habe ich auch private Bilder gepostet, das ist vorbei. Ich bitte auch meinen Freundeskreis, keine privaten Fotos mit mir ins Internet zu stellen.“ Über allem steht der Schutz der Familie, vor allem der Sohn soll unter keinen Umständen leiden.
Denn niemand weiß besser als sie, dass das Internet nichts vergisst. Auch ein Jahr nach ihrem freiwilligen Rückzug aus der Bürgerschaft („Job, Familie und Mandat, das war am Ende zu viel“) wird gehetzt. Wer „Stefanie von Berg Wiki“ googelt, findet als zweiten Eintrag unter dem Onlinelexikon Wikipedia ein krudes Hassportal gegen Feminismus. Dort heißt es unter Stefanie von Berg: „Den damit verbundenen Volkstod hat sie trotzig mit einem ,Und das ist gut so!‘ bekräftigt.“ Auch eine antisemitische Seite, die liberale Politiker als „Agenten des jüdischen Einflusses“ geißelt, listet ihren Namen. Und ein wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 3000 Euro verurteilter Rentner aus dem Münsterland – er hatte ihr eine Vergewaltigung gewünscht – schickt ihr nach wie vor Links ultrarechter Blogs.
Alles eine Frage der Haltung
Deshalb hat sie intensiv mit der Familie beratschlagt, ob sie den Wechsel in ein Amt mit dieser Strahlkraft wagen soll – mehr Öffentlichkeit steigert naturgemäß das Risiko für neue Drohungen. Am Ende reizten sie die neuen Chancen aber doch zu sehr. Sie will Altona verändern, Klimaschutz, Verkehrswende, bezahlbares Wohnen sind die großen Themen ihrer Agenda. Auch in der digitalen Verwaltung und in der Kommunikation will sie den Bezirk besser machen, zugehen auf die Bürger, trotz aller Konflikte.
Am Ende, sagt sie, sei eben alles eine Frage der Haltung. Ihren Referendaren hat sie eingebläut, einzuschreiten, wenn Schüler gemobbt werden, wenn es zu rassistischen Vorfällen kommt. Und auch deshalb kam für sie ein Nein zu dem Werben ihrer Parteifreunde nicht infrage. Denn dann hätten die Feinde einer offenen Gesellschaft gesiegt.
Nächste Woche: der Hamburger Star-Anwalt Gerhard Strate