Die 100 großen Fragen des Lebens. Heute: Wie wir am besten aufräumen und warum sogenannte Cleanfluencer so erfolgreich sind.
Die meisten von uns bemühen sich ein Leben lang um Ordnung – nur Kinder und Kreative dürfen auch unordentlich sein. Wie sich das Ideal gewandelt hat und welche Aufräumtipps wirklich helfen, erklären die Wirtschaftssoziologin Dr. Lisa Knoll und die Kulturwissenschaftlerin Stefanie Mallon.
Man sagt, Ordnung sei das halbe Leben. Ist das nicht etwas übertrieben?
Stefanie Mallon: Heute kommt es auf die eigene Perspektive an, ob man Ordnung für wichtig hält oder nicht. Noch bestimmt bis Mitte des 20. Jahrhunderts war Ordnung aber ein bürgerliches Ideal, an dem Individuen auch gemessen wurden. Das Konzept ‚Hygiene‘ hatte bis dahin stark die Vorstellungen durchdrungen und auch die Idee von Sauberkeit und Ordnung geprägt. In der späten Moderne distanzieren wir uns von diesem Bild im Alltag. Wir haben heute die Freiheit zu entscheiden, wie viel Ordnung jeder Einzelne braucht. Auch Kindern wird in vielen Fällen zugesprochen, eine gewisse Unordnung halten zu dürfen. In kreativen Berufen wird Unordnung außerdem geradezu erwartet, weil sie als Nährboden für neue Ideen und Schöpfungen gesehen wird.
Welche Funktion hat Ordnung?
Mallon: Sie ermöglicht Effizienz. Wir finden Dinge leichter, alles hat seinen Platz, wir können schneller darauf zugreifen. Allerdings müssen wir auch Zeit und Energie in das Ordnungschaffen investieren, um dann in den Genuss dieser Effizienz zu kommen. Aber diese Zeit ist gut investiert.
Lisa Knoll Wir Soziologen fassen den Begriff weiter und gehen davon aus, dass Menschen sich mit anderen Menschen nur in Ordnungen koordinieren können, damit komplexe Gesellschaften funktionieren – es also in allen Bereichen von Wirtschaft und Staat, Beruf und Privatleben gesellschaftliche Ordnungen gibt. Damit meinen wir ein System von Regeln, Routinen und Verfahren. Ohne Ordnung könnten wir uns nicht mit anderen Menschen koordinieren und würden im Chaos versinken. Wir Soziologen würden also sagen, Ordnung ist mindestens oder sogar viel mehr als das halbe Leben. Ordnungen bestimmen und ermöglichen unser Leben auf vielfältige Weise.
Hängt es von Konvention und Tradition ab, wie viel Ordnung wir richtig finden?
Mallon: Genau. Dabei spielen auch unsere Erwartungen eine Rolle: Wir wollen wissen, worauf wir uns einzustellen haben, wenn wir in ein Haus gehen. Wird unsere Erwartung nicht erfüllt, fühlen wir uns schnell unwohl. Dabei werden übrigens verschiedenartige Maßstäbe angelegt: Von Frauen und Mädchen verlangt die Konvention auch heute noch eher, dass sie ordentlich und sauber sind, als von männlichen Gesellschaftsmitgliedern. Bei kreativen Menschen, in Künstlerateliers, wird Unordnung akzeptiert. Das gehört zum Image, obwohl Unordnung keinesfalls alle Künstler und Künstlerinnen auszeichnet.
Hat jeder eine andere Ordnung?
Mallon: Schon. Sehr unordentliche Kollegen von mir erklären z. B., sie haben einfach nur ein anderes System. Sie wissen auch sehr genau, in welchem Stapel sie was wiederfinden können. Der Nachteil ist aber, dass es sich um eine individuelle Ordnung handelt. Sie ist für andere nicht durchschaubar und wird zu einem Kommunikationsproblem in Gemeinschaften, wenn eine Vertretung die Arbeit übernehmen soll: Wie kann diese Person nachvollziehen, wo alles abgelegt ist? Und auch im privaten Haushalt gilt das Prinzip: Weiß eine Person, die in mein Haus kommt, dass der Hammer in einer bestimmten Schublade liegt und nicht im Werkzeugkasten?
Warum gibt es heute so viele Aufräumratgeber?
Mallon: Weil wir immer mehr Dinge besitzen und in unserem Alltag zunehmend unterschiedliche Rollen ausfüllen, wird es oft anspruchsvoller, Ordnung zu halten. Sicherlich spielt auch die heutige Wahlfreiheit eine Rolle. Die Beliebtheit der Aufräumratgeber zeigt an, dass die Menschen das Bedürfnis verspüren, ihre wachsende Unordnung zu bewältigen. Auch das Großbürgertum besaß zu früheren Zeiten viele Dinge; man hatte aber Angestellte, die sich um Ordnung und Aufräumen kümmerten.
Welche Aufräumregeln sind die besten?
Mallon: Wir können uns in der spätmodernen Vielfalt der Angebote diejenigen aussuchen, die am besten zu uns passen. Die derzeit wohl bekannteste Aufräumtatgeberin ist die Japanerin Marie Kondo, die einen asiatisch-philosophischen Wissensschatz mitbringt. Ich fand ihren Ansatz persönlich auch überzeugend. Sie fragt sich bei jedem Ding: Macht es mich glücklich? Das hat mich dazu gebracht, einiges auszusortieren, weil mir klar wurde, dass ich es als Ballast empfinde. Eine weitere klare Regel: Jedes Ding hat seinen Platz, zu dem es nach Benutzung auf jeden Fall immer wieder zurückmuss. Die Dinge haben ihr zufolge eigene Empfindungen und müssen dementsprechend respektvoll behandelt werden. Marie Kondo führt den Menschen zudem immer vor, wie viel sie besitzen. Sie müssen alles auf einen Haufen legen. Dann wird ihnen klar: Das ist zu viel, das kann ich unmöglich alles wirklich brauchen, und es macht die Organisation schwierig. Die meisten Ratgeber verbinden ihre Tipps mit einer Narration. Beispielsweise: Stell dir vor, dein Haus oder deine Wohnung ist eine weiße Leinwand, die du wie ein Kunstwerk gestalten kannst. Im Fengshui wird argumentiert, in einer adäquat geordneten Wohnung fließt die Energie wieder, und bei Marie Kondo ist es eben der Weg zum Glück. In konventionellen Ratgebern geht es um Hygiene, die Schutz vor Verunreinigung und Ansteckung bietet.
Was halten Sie von der Regel: Was du seit drei Monaten nicht in der Hand hattest, das brauchst du nicht mehr?
Mallon: Das klingt leicht, ist für viele Menschen aber schwer. Sie meinen effizient zu handeln und denken: Das könnte ich noch mal brauchen. Ich habe sogenannte Messies untersucht. Eine Frau beispielsweise mietete Räume an, um dort ihre Sachen unterzubringen. Da lagerte sie Dinge wie Drei-Zahnbürsten-zum-Preis-von-einer. Wenn sie sie hätte brauchen können, hatte sie aber gar keinen Zugang zu den Kisten im Lager und musste sich trotzdem neue kaufen. Aber sie konnte nichts wegwerfen. Das ist schon eher zwanghaft. Aber in gemäßigter Form tun wir uns vielleicht alle schwer, uns von Dingen zu trennen. Sie gehören zu unserer Biografie.
Knoll: Mir fällt auf, dass man diese Ordnungsvorstellungen aus dem häuslichen Bereich weitgehend übertragen kann auf alle anderen gesellschaftlichen Bereiche. Es geht überall darum: Wie sollen die Dinge geordnet sein? Vom Kuhstall – sollen die Kühe dort in Reih und Glied stehen oder herumlaufen können – bis zu Archiven, die so gestaltet werden müssen, dass sich auch die Nachwelt darin noch zurechtfindet. Da geht es nicht nur um Effizienz, sondern auch um Wertigkeiten. Insofern sind die Ordnungsvorstellungen umstritten, weil manche Menschen oder Gruppen von ihnen mehr profitieren als andere. Und es gibt immer Bewegung in dem Ordnungsspiel.
Im häuslichen Bereich identifizieren wir uns weniger als früher mit dem Ordnungsideal, oder?
Mallon: Die Regeln haben sich gelockert: Es ist durchaus okay, zu Hause auch unordentlich zu sein. Es wird in der Regel aber erwartet, dass wir aufräumen, wenn Besuch kommt. Gleichzeitig gibt es auch den Gegentrend: das Phänomen der sogenannten Cleanfluencer. Sie zelebrieren in den Sozialen Medien ein ganz rigides Ordnungsregime. Die Cleanfluencer geben Tipps, verbunden mit vielen Produktplatzierungen, und vermitteln eine bonbonfarbene Ästhetik. Sie verkaufen einen fundamentalen Ordnungstrieb als etwas Lebensbejahendes – und sind damit unheimlich erfolgreich.
Eigentlich voll spießig, oder?
Mallon: Eigentlich ja. Aber die Cleanfluencer inszenieren das als Lebensstil. Alle sind sauber und glücklich. Sie würden sagen: Ordnung ist das ganze Leben.
In den 60er-/70er-Jahren hielt man Ordnung für kleinbürgerlich und hat Sätze wie „Ordnung ist das halbe Leben“ verdammt. Jetzt ist Ordnung halten also wieder cool?
Mallon: In Teilen der Gesellschaft ja, wobei sich jeder aussuchen kann, was für ihn richtig ist. In den Kommunen der 1960er- und 70er-Jahre experimentierte man mit der Loslösung von Ordnung. Man wollte ein stückweit frei von Konventionen leben, merkte aber, dass es an vielen Ecken nicht funktionierte. Man kriegt fast Kopfschmerzen, wenn man heute liest, wie intensiv die Regeln damals in ihren Grundsätzen verhandelt wurden. Das muss sehr anstrengend gewesen sein. Heute empfinden manche Ordnung als Beschränkung, Cleanfluencer aber sehen sie als Befreiung.
Knoll: Der Trend zur neuen Sauberkeit und Ordnung hängt vermutlich auch mit dem Internet zusammen. Wenn man sich selbst und seine Umgebung ständig in den Sozialen Medien präsentiert, muss das auch vorzeigbar sein. Es ist ja fast, als sei praktisch immer Besuch da.
Mallon: Unordentliche Menschen präsentieren dies nicht im Netz, die Unordnung hat insofern kein Gesicht. Die Ordnung hingegen schon.
Fällt es uns deshalb schwer, Ordnung zu halten, weil wir zu viele Dinge besitzen?
Knoll: Auf jeden Fall. Da ist gerade ein Wertewandel im Gange. Unsere Vorstellungen sind großenteils aber noch auf Konsum ausgerichtet. Man muss sich nur die heutigen Kindergeburtstage anschauen, sie werden oft zur Materialschlacht.
Mallon: Allerdings scheint mir, dass auch Minimalisten eine Menge Arbeit haben, wenn sie versuchen, ihr Leben mit wenigen Dingen zu organisieren. Es ist sehr aufwendig, ganz wenig zu haben. Wer nur einen Schraubenzieher besitzt, der kann zwar leichter Ordnung halten. Aber wenn man eine ganze Palette hat, steht einem für jede Schraube das richtige Werkzeug zur Verfügung. Das erleichtert die Arbeit. In unseren komplex vernetzten Gesellschaften brauchen wir vieles nicht selber zu machen, wenn wir nicht wollen – wir müssen nicht Marmelade einkochen oder unsere Kleidung selbst nähen und brauchen die entsprechenden Utensilien deshalb nicht zu Hause zu haben. Dafür müssen wir diese Dienstleistungen mit Geld erkaufen.
Knoll: Es kann auch effizient sein, viele Dinge zu haben und nicht immer alles kaufen zu müssen. Man denke nur an eine gut ausgestattete Werkstatt.
Mallon: Aus diesem Grund haben sich viele Sharing-Modelle entwickelt. Man muss Dinge nicht unbedingt selbst besitzen, sondern kann sie mit anderen teilen.
Es gibt ein Vorurteil, es lautet: Wer äußerlich Ordnung hält, hat auch einen aufgeräumten Kopf. Ist da was dran?
Mallon: Das denken viele Menschen. Aber es lässt sich so nicht übertragen. Man kann auch aufräumen, ohne dass man besonders viel Ordnung im Kopf hätte. Es sind Inszenierungen, die auch über einiges hinwegtäuschen können.
Knoll: Auf jeden Fall hat die Psychologisierung des Menschen zugenommen. Man interessiert sich dafür, wie die Menschen ihres Lebens Herr werden, wie sie sich innerlich aufräumen. Das hat mit unserer Bewertungsgesellschaft zu tun: Man muss ständig zeigen, dass man gut zurechtkommt, und als Einzelner an der Beherrschbarkeit der Welt arbeitet. Der Ordnungsbegriff wird individualisiert.
Die Experten
Dr. Lisa Knoll ist Wirtschaftssoziologin. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Hamburg arbeitet sie an einem Forschungsprojekt über Risikopraktiken in Finanzsektoren in der Politik. Knoll ist Sprecherin der deutschen Sektion für Wirtschaftssoziologie.
Dr. Stefanie Mallon ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg. Die Kultur- und Kunstwissenschaftlerin forscht zum Thema Ordnung/Un-Ordnung und hat sich in ihrer Dissertation gefragt: Wieso räumen wir eigentlich immer wieder auf?