Hamburg. Laut einer Studie nehmen bestimmte Areale an Zellmasse zu. Diese Ergebnisse lassen Forscher im Kampf gegen Alzheimer hoffen.

Die Stadt, durch die die Patienten von Professor Jürgen Gallinat radeln, könnte schöner nicht sein. Gepflegte Wege führen vorbei an Brunnen und kleinen Geschäften, Friseure, Bäcker, Schuhgeschäfte. Sie alle wollen beliefert werden – von einem Postboten, der sich mithilfe einer kleinen Karte durch die Straßen der virtuellen Kleinstadt navigiert.

Ein ganz normales Videospiel? Nicht wirklich. Das „Postbotenspiel“ wurde in Kooperation zwischen dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und dem Hamburger Start-up-Unternehmen RetroBrain R&D, einer Ausgründung des Exzellenzclusters der Humboldt-Universität, eigens entwickelt. Es ist Teil einer von der Stadt Hamburg finanzierten Studie, die sich mit der Wirkung digitaler Medien auf das menschliche Gehirn beschäftigt.

Die Probanden sind im Schnitt 72 Jahre alt – und leiden an einer Vorstufe der Alzheimer-Demenz. Jeden Tag verbringen sie 30 Minuten vor der Spielkonsole oder dem Kindle. Sollte die Studie die Erwartungen ihrer Initiatoren erfüllen, wäre das nichts weniger als eine wissenschaftliche Sensation. Weil damit nicht nur klarer wäre, dass die tägliche Nutzung digitaler Medien die Hirnleistung erkrankter Patienten verbessert. Sondern auch, dass dadurch das Ausbrechen einer Krankheit verzögert werden könnte, gegen die es bislang keinerlei Therapeutikum gibt.

Digitales Leitmedium

Es ist eine erstaunliche Studie, in jeder Hinsicht. Videospiele sind in den vergangenen Jahren zu einem digitalen Leitmedium geworden – allein in Deutschland zocken regelmäßig 37 Millionen Menschen, Tendenz steigend. Es die Altersklasse der Ü-50-Jährigen, die derzeit am stärksten wächst. Und doch ist die gesellschaftliche Wahrnehmung noch immer geprägt von Klischees. Gaming spaltet die Generationen. Videospiele, sagen Eltern, lassen die Kinder verblöden, machen einsam und aggressiv. Die Kinder entgegnen, dass Gaming und eSports in Norwegen bereits ein Schulfach ist – weil es bewusst dosiert eben schlau macht. Nur um den therapeutischen Nutzen geht es fast nie.

In Hamburg dürfte sich das bald ändern. Vor acht Jahren begannen Professor Jürgen Gallinat und Professor Simone Kühn, sich mit dem Thema „digitale Mediennutzung“ zu beschäftigen – anfangs eher beiläufig. Eigentlich wollten die Forscher der Klinik für Psychiatrie herausfinden, wie Jugendliche Abhängigkeiten von Substanzen entwickeln, zum Beispiel von Alkohol oder Cannabis. Nebenbei fragten sie nach den Gaming-Gewohnheiten. „Wir wollten wissen: Wie viele Stunden verbringen sie damit, teilweise ist das Ausmaß ja gigantisch“, sagt Gallinat. „Aber bis dato hatte sich niemand darum gekümmert, was das mit dem Gehirn macht.“

Gamer haben besondere kognitive Fähigkeiten

Die Magnetresonanztherapie (MRT) gab dahingehend Aufschluss – ein bildgebendes Verfahren, das in der medizinischen Diagnostik zur Darstellung von körperlichen Geweben und Organen eingesetzt wird. „Was wir feststellten: Diejenigen, die viel spielten, hatten in einem bestimmten Hirnareal mehr Volumen als Jugendliche, die weniger gespielt haben.“ Eine weitere Studie brachte den wissenschaftlichen Beleg: Es war das exzessive Zocken, das bei den Jugendlichen zu einer Vergrößerung des Hirnvolumens geführt hatte.

In der Welt professioneller Gamer ist es längst kein Geheimnis mehr, dass diese Menschen über besondere kognitive Fähigkeiten verfügen. Ihre Augen-Hand-Koordination ist beeindruckend, ihr Reaktionsvermögen umso mehr. Bis zu acht Entscheidungen trifft ein „Pro“ in der Sekunde. In Vergleichstest schnitten eSportler sogar besser ab als Top­piloten der US Air Force. Vierdimensionales Echtzeitschach nennen Experten das, was ihr Hirn beim Wettkampf unter Zeitdruck bewältigen muss.

Erstaunliche Ergebnisse

Für Jürgen Gallinat und sein Team der Anlass, in eine ganz neue Richtung zu denken. „Wir wussten also, dass das regelmäßige Spielen von Videogames zur Vergrößerung des Hirnvolumens führt, und wissen auch, dass es bei der Alzheimer-Demenz zu Hirnvolumendefiziten kommt. Könnte man also unter Umständen mit dem Trainieren von Videospielen, mit dem täglichen Konsum digitaler Medien diesem Prozess entgegentreten?“ Um das herauszufinden, wollten die Forscher zunächst sichergehen, dass ältere, gesunde Patienten überhaupt auch an Hirnvolumen zulegen können – nicht nur Teenager.

Solche Videospiele sind Bestandteil
der Studie.
Solche Videospiele sind Bestandteil der Studie. © UKE / Kirchhof

Wieder fanden sich Freiwillige. Wieder erstaunten die Ergebnisse: Alle Senioren legten nach einem täglichen Training von 30 Minuten an der Konsole mit einem eigens entwickelten Spiel innerhalb weniger Wochen an Hirnmasse zu. „Es ist abgesehen von der wissenschaftlichen Erkenntnis einfach eine sehr gute Nachricht“, sagt Jürgen Gallinat: „Auch ältere Menschen können noch an Gehirnvolumen zunehmen.“ Doch können sie es auch, wenn sie bereits an einer Vorstufe der Alzheimer-Demenz erkrankt sind? Die Auswertung wird es im kommenden Jahr zeigen.

Im Hospital zum Heiligen Geist, einer Einrichtung für Senioren in Poppenbüttel, wird seit Jahren auf die therapeutische Wirkung von Videospielen gesetzt. Inzwischen gibt es hier zehn Konsolen, an denen die Bewohner gemeinsam daddeln können. Was im Jahr 2017 mit einem Testlauf und zwei Konsolen begann, ist inzwischen ein etabliertes Projekt. Jeden Tag kommen die Bewohner des Heims zusammen und kegeln oder spielen Tischtennis. Rein virtuell, versteht sich. „Memore Box“ heißt die Konsole, die das möglich macht.

Interesse der Krankenkassen

Über Hand- und Körperbewegungen steuern die Nutzer das Geschehen auf dem Flachbildschirm vor sich. Beim Kegelspiel reicht es zum Beispiel, mit dem Arm auszuholen – wer dabei präzise ist, kann alle Neune abräumen. Fünf Jahre ist es her, dass der Hamburger Unternehmer Manouchehr Shamsrizi das Start-up Retro Brain gründete, seitdem tüfteln der 33-Jährige und sein Team an Videospielen für Senioren, die an Demenz leiden – oder einfach Stürzen im Alter vorbeugen wollen.

Neben dem Hospital zum Heiligen Geist gehören das UKE, die Berliner Charité und die Humboldt-Universität zu ihren Partnern. Auch die Krankenkassen zeigen sich am therapeutischen und präventiven Nutzen der Videospieleinteressiert. Ende August hat am Hospital zum Heiligen Geist das nächste, von der Barmer unterstützte Pilotprojekt begonnen: „Digitale Prävention in (teil-)stationären Pflegeeinrichtungen durch therapeutisch-computerbasierte Trainingsprogramme“ lautet der etwas sperrige Titel. Auch für dieses Projekt stellt Retro Brain die Konsolen. Zwölf Monate lang wird es dauern.