Hamburg. Internet-Plattform-Nutzer werfen Hamburger vor, ihnen Harndrang und Durchfall auslösende Mittel gegeben zu haben.

Wer die Erfahrungsberichte liest, muss Jürgen Meyer (Name geändert) für den idealen Gastgeber halten. Er sei „zuvorkommend“, „klug“, „höflich“, ja. er habe sogar eigens ein Lied für sie an seinem E-Piano in seiner kleinen Hamburger Wohnung gespielt. In WhatsApp-Nachrichten, die dem Abendblatt vorliegen, schickt Meyer seinen Gästen sogar Listen mit den Sehenswürdigkeiten der Hansestadt, schreibt, dass man sich auch in seiner Abwesenheit nach Belieben aus dem Kühlschrank bedienen dürfe.

Die Berichte gehören zu einem inzwischen gelöschten Profil der Internet-Plattform Couchsurfing.com, für die sich weltweit 14 Millionen Menschen in 200.000 Städten registriert haben. Das Prinzip: Gastgeber stellen kostenlos ein Bett oder eben eine Couch zur Verfügung, können im Gegenzug selbst bei anderen Nutzern übernachten.

Substanzen im Getränk

Nur ein Detail irritiert bei der Lektüre. Viele Gäste Meyers schreiben, dass sie bei dem Aufenthalt krank geworden seien. „Mir ging es in Hamburg so schlecht“, heißt es mehrfach. Diese Berichte gehören nun zu einer Ermittlungsakte. Der ungeheure Vorwurf: Jürgen Meyer habe diese Krankheiten verursacht, indem er seinen Gästen Substanzen ins Essen oder Getränke mischte, die Durchfall oder Harndrang auslösten.

Dann habe er auf Spaziergängen absichtlich den Gang zu einer Toilette hinausgezögert, mitunter das WC in seiner Wohnung für unbenutzbar erklärt. Insgesamt 24 Frauen aus Deutschland, Polen, Spanien, Frankreich, Weißrussland, Argentinien, Dänemark, Belgien, Kasachstan und Russland klagen Meyer an, er habe sie gequält und erniedrigt. „Was er uns angetan hat, ist ein schweres Verbrechen“, schreibt eine Französin. Nach Strafanzeigen aus dem In- und Ausland ermittelt nun die Hamburger Staatsanwaltschaft.

Keine Toilette weit und breit

„Der Gastgeber hat das Vertrauen meiner Mandantin auf das Übelste missbraucht“, sagt der Nürnberger Rechtsanwalt Ralf Peisl, der mit Birgit Danner (Name geändert) ein Opfer Meyers aus Deutschland vertritt. Er sieht den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung erfüllt, was laut Gesetz mit mindestens sechs Monaten Freiheitsentzug geahndet wird.

Es ist der Juni 2018, als sich Birgit Danner für zwei Nächte in Hamburg einquartiert, sie besucht dort ein Seminar. Ihr Gastgeber hat nur ein kleines Apartment, schläft also im selben Zimmer wie sie. Sie ist irritiert, dies hatte sie bei der Auswahl offenbar überlesen. Dafür hat Meyer sehr gute Referenzen, couchsurfing.com setzt auf ein Bewertungssystem wie die Auktionsplattform Ebay. Und ihr Gastgeber gibt sich Mühe, bietet ihr etwas zu essen und zu trinken an, schlägt dann einen Spaziergang vor. Schon beim Verlassen der Wohnung spürt sie extremen Harndrang. „Wir kommen gleich an Cafés vorbei“, beruhigt er sie. Dann zeigt er ihr sein Viertel, deutet auf Häuser, in denen Hamburger Prominente wohnen.

Nur eine Gaststätte ist weit und breit nicht in Sicht. Birgit Danner findet schließlich auf einer Baustelle ein Dixie-Klo, wundert sich beim Rausgehen etwas, dass ihr Gastgeber unmittelbar vor der Tür mit seinem Handy hantiert, denkt sich aber nichts Böses. Am nächsten Abend nach dem Seminar empfängt sie ihr Gastgeber mit einem Schnaps. Birgit Danner wird noch schwindeliger, ohnehin ist sie an den Tagen in Hamburg chronisch müde: „Ich habe mich gefühlt, als hätte ich Watte in meinem Kopf.“ Am Morgen reist sie zurück. Sie denkt, dass sie den Schnaps nicht vertragen hat, schreibt eine positive Bewertung.

Schwere Krämpfe

Es ist bizarr, dass genau diese Referenz eine Kettenreaktion auslöst. Denn eine Couchsurferin aus dem Ausland schreibt ihr eine Mail. Sie will wissen, wie es ihr gesundheitlich bei ihrem Aufenthalt in Hamburg gegangen sei. Dann schreibt sie, wie schlecht sie sich in den Tagen in dem Apartment gefühlt habe. Extremer Harndrang. Ständige Müdigkeit. Schwere Krämpfe.

Im Stundentakt treffen weitere Berichte ein, 23 Frauen haben sich inzwischen bei ihr gemeldet. Da sie sich untereinander nicht kannten, dachte jede zunächst an ein Virus – erklärbar durch die langen und oft strapaziösen Anreisen per Flugzeug, Auto oder Bahn.

Nach dem Schock kam die Wut

Eine Reisende aus Polen hat dem Hamburger Abendblatt in einer langen Mail ihre Erfahrungen geschildert. Sie schreibt, dass sie nach dem Essen die „schlimmsten Bauchkrämpfe ihres Lebens“ hatte. Als sie die Toilette aufsuchen wollte, habe dort eine handschriftliche Notiz gelegen, das Klo sei leider kaputt. „Die Nacht war schrecklich“, schreibt die Frau. Sie habe damals geglaubt, sich einen Magen-Darm-Virus eingehandelt zu haben. Am Abend darauf hatte sie das gleiche Erlebnis wie Birgit Danner – extremen Harndrang: „Mein Gastgeber ging betont langsam, dass ich dachte, meine Blase platzt gleich.“ In der zweiten Nacht hatte sie erneut Krämpfe. Diesmal ignorierte sie eine neue Notiz am WC („Das Wasser wurde abgestellt“) und wunderte sich, dass die Spülung funktionierte.

„Nach meiner Rückkehr habe ich Freunden meine Erlebnisse geschildert und mir gedacht, ich nehme es mit Humor“, schreibt sie rückblickend. Nie habe sie es für möglich gehalten, dass jemand so etwas Frauen antue. Umso schlimmer sei es für sie, die Erfahrungsberichte anderer Couchsurferinnen zu lesen: „Nach dem Schock kam die Wut. Wie kann jemand so grausam sein?“

Auch bei einem anderen Gast erklärte Meyer das WC für unbenutzbar, bot stattdessen seine Dusche für den Toilettengang an. Als die Frau dies ablehnte, schlug Meyer vor, sie könne ja nach draußen in die Büsche gehen, er würde sie auch begleiten.

Die Furcht, dass der Mann heimlich Fotos gemacht hat

Mehrere Opfer fürchten nun, dass ihr Gastgeber heimlich Fotos oder Videos gemacht hat, um sie ins Internet zu stellen. „Es gibt perverse Leute, die zahlen für so etwas viel Geld“, schreibt ein Opfer. Bei Birgit Danner kam für mehrere Tage die Angst hinzu, dass ihr dieser Mann K.-o-Tropfen oder eine ähnliche Substanz verabreicht haben könnte, um sich ihr sexuell zu nähern. Inzwischen hält sie es für wahrscheinlicher, dass harndrangfördernde Medikamente Schwindel und Müdigkeit ausgelöst haben. Doch die Ungewissheit bleibt.

Noch heute leidet sie unter den psychischen Folgen: „Ich schließe mich jede Nacht in meinem eigenen Schlafzimmer ein.“ Nach dem Sport in ihrem Verein fährt sie oft lieber verschwitzt nach Hause, statt vor Ort zu duschen, wie sie es früher immer gemacht hat. Sie geht nur noch selten feiern in Diskotheken oder bei Festivals, meidet körperliche Nähe zu anderen Menschen. Dabei sei immer sie diejenige gewesen, die im Familien- oder Freundeskreis den Satz geprägt habe: „Wo viele Menschen sind, da passen wir auch noch rein.“

Frauen sind traumatisiert

Kristina Erichsen-Kruse, stellvertretende Vorsitzende des Weissen Rings Hamburg, betreut mit 80 geschulten ehrenamtlichen Mitarbeitern seit vielen Jahren Opfer von Verbrechen. „Frauen, die so etwas erlebt haben, können tief traumatisiert sein“, sagt sie. Das Eindringen in die Intimsphäre, die Furcht vor einem möglichen sexuellen Übergriff, die Angst, jemand könne intimste Bilder ins Internet stellen – all dies sei extrem belastend. Sie empfiehlt allen Opfern, sich professionelle Hilfe zu suchen, etwa über eine Opferschutzorganisation wie den Weissen Ring.

Birgit Danner hat unterdessen wie die anderen Opfer einen Wunsch: „Die Staatsanwaltschaft darf dieses Verfahren nicht einfach einstellen. Ich will, dass konsequent ermittelt wird. Dieser Mann darf so etwas nie wieder tun.“