Hamburg. Nach Kritik an Verwaltung: Altonaer Baudezernent Gerdelmann stellt sich Betroffenen. “Wieso hat man uns vorab nicht angehört?“
Am 1. September startet eines der ungewöhnlichsten Verkehrsexperimente der Hamburger Geschichte. Für sechs Monate wird das Viertel rund um den Spritzenplatz in Ottensen fast autofrei. Das Experiment bewegt Anwohner und Gewerbetreibende sehr – auch in den angrenzenden Stadtteilen. Inzwischen hat sich auch eine Initiative gegen das Projekt gegründet. Auf Einladung des Abendblatts trafen sich sechs Skeptiker mit Johannes Gerdelmann, Dezernent für Wirtschaft, Bauen und Umwelt im Bezirk Altona.
Gisela Alberti, Psychologin: Wir haben erst aus dem Abendblatt von „Ottensen macht Platz“ erfahren. Wieso hat man uns Anwohner als Betroffene nicht vorab angehört? Dann hätten wir uns aktiv an den Planungen beteiligen können.
Johannes Gerdelmann: Das ist so nicht richtig. Das EU-Projekt „Cities4People“ in Kooperation mit der HafenCity Universität startete bereits Anfang 2017. Wir haben uns in mehreren gut besuchten öffentlichen Workshops, die auch auf Plakaten angekündigt wurden, Gedanken gemacht, wie das Altona der Zukunft aussehen könnte und wie wir uns dort bewegen. So entstand die Idee, das Kerngebiet von Ottensen für vier Wochen zur autofreien Zone zu machen. Die Bezirksversammlung hat dann im März entschieden, den Zeitraum auf sechs Monate auszudehnen, um mehr Erkenntnisse zu gewinnen. Das kam auch für uns als Verwaltung überraschend, die Kommunikation unmittelbar danach war suboptimal, das gebe ich zu. Sie dürfen aber auch nicht vergessen, dass auch die Parteien bei Infoständen und Versammlungen mit vielen Anwohnern geredet haben.
Alberti: Werden wir zumindest während des Projekts gehört?
Gerdelmann: Ja, dieses Projekt wird wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Dafür werden wir mit Anwohnern, Gewerbetreibenden, Passanten und Verkehrsteilnehmern sprechen.
Robert Jarowoy, Krimi-Autor und Fraktionschef der Linken im Bezirk Altona: Wir Linke hatten uns für das Projekt „Ottenser gestalten“ eingesetzt, wollten mit einem Prüfantrag erreichen, dass man sich mit der Verhinderung des Durchgangsverkehrs beschäftigt. Der wurde abgelehnt, am Ende haben wir dann mit Ergänzungen diesem Projekt zugestimmt. Dennoch frage ich mich weiter: Wieso bleibt der Durchgangsverkehr außen vor?
Gerdelmann: Wir reden über zwei verschiedene Stränge. Bei „Ottensen macht Platz“ geht es darum, auszuprobieren, wie sich die Lebensqualität in einem Quartier verändert, wenn man Rahmenbedingungen für den Autoverkehr verändert. Dabei werden wir auch untersuchen, wie sich das auf den Durchgangsverkehr auswirken wird. Kommt es durch Umwegfahrten zu negativen Effekten? Aber man kann nicht einfach die Keplerstraße oder die Bernadottestraße für Autos sperren.
Klaus Mensing. Stadtplaner: Weder als Anwohner noch als Stadtplaner habe ich etwas gegen neue Mobilitätskonzepte, im Gegenteil, ich gehörte in den 1980er-Jahren zu den Initiatoren der Aktion „Schleichen statt Leichen“, wo wir uns in Ottensen für „Tempo-30“-Zonen starkgemacht haben. Aber ich vermisse bei „Ottensen macht Platz“ ein ganzheitliches Konzept. Statt sich mit allen Verkehrsteilnehmern zu beschäftigen, fokussiert man sich allein auf die Autofahrer. Dabei nehmen die Konflikte zwischen Fußgängern und Radfahrern gerade hier immer weiter zu.
Gerdelmann: Das kann ich bestätigen. Und die Situation verschärft sich durch die E-Scooter. Dennoch geht es in diesem Projekt sehr wohl auch um Verkehrsflächengerechtigkeit. Wer dominiert welche Straßenräume? In Ottensen haben 73 Prozent kein Auto. Die würden davon auch gern profitieren. Außerdem merken wir gar nicht, dass wir seit Jahren in Ottensen in einem Modellversuch leben. In dem Versuch, dass ein so begehrter Stadtteil rund um die Uhr überall mit dem Auto erreichbar ist.
Ralf Mensing, Elefanten Apotheke: „Wir sind darauf angewiesen, dass wir mehrfach am Tag Ware bekommen, teilweise müssen wir auf die Kühlkette achten. Unser Kunde erwartet mit Recht, dass wir ihn am selben Tag mit einem Medikament versorgen, auch wenn wir es nicht auf Lager haben. Wir können doch nicht zu jemanden sagen, der mit einer schweren Zahnentzündung zu uns kommt, tut uns leid, Ihre verschriebenen Tabletten bekommen Sie erst morgen. Für uns ist ein Verbot des Lieferverkehrs ab 11 Uhr nicht hinnehmbar.
Gerdelmann: Wir prüfen gerade, wie wir in Abstimmung mit der Polizei und dem Landesbetrieb Verkehr in wirklichen Problemfällen mit Ausnahmegenehmigungen helfen können. Aber wir dürfen das Ventil nicht zu weit öffnen, auch im Sinne der Kontrollen. Wir werden mit den Paketdienstleistern wie DHL oder Hermes sprechen. Sie wissen, dass sie ab September ab 11 Uhr ihr Fahrzeug an bestimmten Punkten stehen lassen müssen, um dann mit Sackkarren die Waren auszuliefern. Im Übrigen war das bisherige Verhalten vieler Lieferanten hart am Rande der Ordnungswidrigkeit.
Klaus Mensing: Wie wollen Sie die Kontrollen überhaupt gewährleisten? Es wird doch schon jetzt viel zu wenig kontrolliert.
Gerdelmann: Kontrollen werden künftig deutlich einfacher, wenn etwa ein Auto in der autofreien Zone steht, das da offensichtlich nicht hingehört. Außerdem wird der soziale Druck zunehmen. Man fährt nicht einfach mit seinem Auto in eine solche Zone, die so klar und unübersehbar gekennzeichnet sein wird.
Eike Oldenburg, Angestellte aus Stellingen: Mein Mann ist gehbehindert, er hat hier in Ottensen seine Ärzte. Was tun Sie, damit Menschen mit Behinderung ihre Ärzte noch erreichen können? Nicht einmal Taxis sind ja noch erlaubt. Und was passiert mit den HVV-Bussen?
Gerdelmann: Bei den Bussen kann ich Sie beruhigen. Keine HVV-Linie ist betroffen. Es kann höchstens passieren, dass die Zahl der Fahrgäste steigt. Bei Patienten mit einer Behinderung prüfen wir ebenfalls die Möglichkeit von Ausnahmegenehmigungen. Aber sie müssen streng limitiert sein. Es darf nicht passieren, dass Patienten nur aus Bequemlichkeitsgründen weiter mit dem Taxi vorfahren.
Gisela Alberti: Schon jetzt wird unsere Nachtruhe durch feierwütige Gäste oft gestört. Wir haben Angst, dass das alles ab dem 1. September noch viel schlimmer wird.
Gerdelmann: Es wird in der neuen Zone keine Ausweitung für die Außen-Gastronomie geben. Es kann höchstens sein, dass Tische etwas verschoben werden, um die Bürgersteige zu entlasten. Aber wir wollen hier keine Party-Zone schaffen.
Frauke Mensing, Elefanten Apotheke: Wir haben kein Verständnis für die Eile. Warum wartet man nicht mit dem Versuch, bis alle offenen Fragen geklärt sind?
Gerdelmann: Natürlich kann man immer weiterwarten und versuchen, alles abzuklären. Man hätte auch im nächsten Frühjahr starten können, im Sommer wäre die geplante neue Zone noch attraktiver. Aber wir finden die kritischen Punkte am besten heraus, wenn man es einfach mal wagt. Ich habe auch eine Ausbildung zum Diplompädagogen gemacht. Daher kenne ich das Lernprinzip „Versuch und Irrtum“. Aber Sie können sicher sein, dass wir Ihre Bedenken sehr ernst nehmen.