Hamburg. Das System sei zu kompliziert und biete kaum Anreize, arbeiten zu gehen. Dirk Heyden plädiert zudem für eine Kinder-Grundsicherung.

Rund 15 Jahre nach ihrer Einführung stehen die unter dem Schlagwort Hartz IV bekannt gewordenen Sozialstaats-Reformen massiv in der Kritik. Die SPD, deren Kanzler Gerhard Schröder die Reform seinerzeit durchgesetzt hatte, plädiert für massive Kurskorrekturen und frohlockte bereits: „Wir lassen Hartz IV hinter uns.“

Dirk Heyden ist da zwar etwas vorsichtiger. Aber selbst der Chef des Hamburger Jobcenters, qua Amt also der oberste Betreuer von rund 128.000 Hartz-IV-Beziehern, verhehlt im Gespräch mit dem Abendblatt nicht, dass er sich Veränderungen wünscht.

„Wenn Sie mich nach meiner persönlichen Meinung fragen: Unser Sozialstaat ist richtig gut, auch im europäischen Vergleich“, sagt Heyden zwar. „Und dennoch, nach knapp 15 Jahren wünschte ich mir, dass wir unsere Grundsicherung, umgangssprachlich ,Hartz IV’, einer konstruktiv-kritischen Bilanz unterziehen, weil sich die Rahmenbedingungen komplett verändert haben.“

Das Gesetz sei 2005 zu Zeiten der Massenarbeitslosigkeit gestartet, sagt Heyden. „Heute haben wir in Teilen des Landes Vollbeschäftigung, haben einen Mindestlohn, und auch die Steuer-und Sozialgesetzgebung hat sich geändert.“ Mittlerweile seien vor allem der demografische Wandel und der Fachkräftemangel die größten Herausforderungen. Aber Heyden sieht auch die Konstruktion von Hartz-IV kritisch, die gesetzlichen Regelungen seien teilweise sehr kompliziert: „Im Jobcenter verursacht dies sehr hohen Aufwand und für unsere Bürger ist es teilweise schwer verständlich. Mehr als die Hälfte meiner Mitarbeiter kümmern sich um die Auszahlung der Mieten, Nebenkosten und anderer Leistungen und müssen dafür von ihren Kunden regelmäßig sämtliche Nachweise verlangen.“ Er wünsche sich daher „Vereinfachungen“.

Für 60.000 Kinder könne „Hartz-IV-Haushalt“ eine Stigmatisierung sein

Was er sich konkret darunter vorstelle? „Ich begrüße die Idee, Kinder aus ,Hartz IV’ herauszunehmen“, sagt Heyden. „Unser System ist eigentlich auf erwerbsfähige Erwachsene zugeschnitten.“ Zwar habe man im Jobcenter immer die gesamte Familie im Blick und unterstütze auch die Kinder. „Aber es gibt mehr als 40 familienpolitische Leistungen in Deutschland, die vielleicht eher zu einer einkommensabhängigen Leistung mit einer eigenen Kinder-Grundsicherung zusammengefasst werden könnten“, sagt Heyden. „Dann würden alleine in Hamburg 60.000 Kinder der Gefahr einer möglichen Stigmatisierung entgehen, weil sie aus einem ,Hartz IV’-Haushalt kommen.“

Auch den Begriff der „Erwerbsfähigkeit“ würde der Jobcenter-Chef überdenken: „Derzeit gilt: Wer drei Stunden am Tag arbeiten kann, sei es auch nur dreimal am Tag eine Stunde, gilt als erwerbsfähig. Aber solche Arbeitsplätze gibt es nicht.“

Nach Heydens Beobachtungen kann zudem die umstrittene „Anrechenbarkeit vorrangiger Leistungen“ zu Ungerechtigkeit führen: „Bei einer alleinerziehenden Mutter wird das Kindergeld auf den ,Hartz-IV’-Satz angerechnet, für sie bedeutet das, dass sie kein Kindergeld bekommt“, nennt er ein Beispiel. „Wenn beispielsweise die ältere Tochter Anspruch auf eine Waisenrente hat, gilt auch dies als anzurechnendes Einkommen. Und wer mehr als 100 Euro dazuverdient, bei dem wird auch das angerechnet – in manchen Konstellationen kann es sich anfühlen, als gebe es keinen Anreiz zu arbeiten.“

Der Jobcenter-Chef plädiert dafür, in der politischen Debatte über die Zukunft von Hartz IV die Gerechtigkeitsfrage nicht außer Acht zu lassen: „Auch die Kassiererin im Supermarkt, die mit ihren Steuern die soziale Sicherung mitfinanziert, muss unser Sozialsystem als gerecht empfinden. Ich erhoffe mir von einer Weiterentwicklung des Gesetzes, dass wir mehr Anreize bieten können, einer Beschäftigung nachzugehen.“ Denn er sei überzeugt: „Die Menschen möchten arbeiten und ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten.“

Den Vorwurf, Bundesmittel verfallen zu lassen, weist der Jobcenter-Chef zurück

Den Vorwurf der Initiative „Sozialstart Jetzt“, das Jobcenter Hamburg lasse bis zu 30 Millionen Euro Bundesmittel verfallen, statt sie in die Unterstützung von Langzeitarbeitslosen zu investieren (das Abendblatt berichtete), wies Heyden zurück. „Wir reden von Steuergeld, mit dem wir verantwortlich umgehen müssen“, sagte er. „Unser Anspruch ist nicht, möglichst viel Geld zu verbrennen, sondern möglichst viele Menschen sinnvoll zu fördern. Das tun wir.“ Ende Mai hätten mehr als 11.000 Menschen an den Förderangeboten des Jobcenters teilgenommen – 39 Prozent mehr als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Auch die Ausgaben lägen um 17 Millionen Euro über dem Vorjahresniveau.

Die Darstellung der Initiative, wonach per Ende Mai sogar weniger Langzeitarbeitslose gefördert wurden als noch Ende 2018, sei „falsch“, so Heyden. „Wir haben nach dem Teilhabechancengesetz bereits über 320 Menschen erfolgreich in Arbeit gebracht.“ Darunter seien mehr als 130 Arbeitsplätze bei über 40 privaten Arbeitgebern – von der IT-Firma über Gebäudereinigung und Kosmetikstudio bis zum Architekturbüro: „Das ist ein gelungener Start.“ Bei Kunden, die sechs Jahre und länger Leistungen des Jobcenters bezogen haben und die kaum eine Chance auf einen regulären Arbeitsplatz hätten, sei es zwar schwierig, ein passendes Stellenangebote zu finden. „Aber wir werden die avisierten 600 neue Arbeitsverhältnisse bis Ende des Jahres schaffen. Und 2020 wollen wir dann 1000 erreichen.“

Er setze große Hoffnungen in das neue Teilhabechancengesetz, sagte Heyden: Waren geförderte Stellen wie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) bisher befristet und an etliche Einschränkungen geknüpft (die Arbeit musste zusätzlich, wettbewerbsneutral und im öffentlichen Interesse sein), könne er mit dem neuen Gesetz erstmals Langzeitarbeitslose über fünf Jahre lang hinweg am ersten Arbeitsmarkt fördern: „Wir zahlen für eine lange Dauer hohe Lohnkostenzuschüsse, um den Menschen die Perspektive auf eine reguläre Tätigkeit zu eröffnen.“ In den ersten beiden Jahren betragen diese 100 Prozent, dann schmelzen sie schrittweise auf 70 Prozent ab.

Die noch weitergehende Forderung der Betreiber von Suppenküchen und Second-Hand-Kaufhäusern, der Staat müsse außer den Lohnkosten auch noch die Arbeitsplatzkosten übernehmen, um Langzeitarbeitslose überhaupt vermitteln zu können, weist Heyden zurück: „Die Rechtslage ist eindeutig: Eine solche Aufstockung aus unseren Mitteln ist gesetzlich verboten, da hier das sogenannte „Aufstockungs- und Umgehungsverbot“ gilt.“ Bei Einrichtungen der sozialen Träger wie einem Streichelzoo oder einer Suppenküche, die kaum Einnahmen generieren, sei die Forderung allerdings betriebswirtschaftlich nachvollziehbar. Daher springe die Sozialbehörde bereits mit einer Kofinanzierung ein und habe dies auch für 2020 zugesagt.

Das Jobcenter Hamburg hat ein eigenes „Teilhabechancen-Team“ aufgestellt, das Arbeitslose und potenzielle Arbeitgeber über die neuen Fördermöglichkeiten berät. Zu erreichen ist es unter Telefon 040/ 254 99 65 55 oder per E-Mail: teilhabechancen.hamburg@jobcenter-ge.de