Hamburg . Der Arztruf Hamburg soll seit fast einem Jahr die Notaufnahmen der Krankenhäuser entlasten. Das erleben die Mediziner im Außendienst.

Immer in Eile, zusätzliche Arbeit zu einer ohnehin vollen 50- bis 60-Stunden-Woche, überall Krankheitserreger, dazu Verständigungspro­bleme, weil die Menschen häufig kein Deutsch sprechen. Dennoch ist Dr. Björn Parey mit Leidenschaft dabei. Zwei- bis dreimal im Monat kommt der Allgemeinmediziner und Internist raus aus dem idyllischen Volksdorf, rein ins pralle Großstadtleben. Dann ist er Arzt auf Abruf beim kassenärztlichen Bereitschaftsdienst und besucht kranke Menschen in deren Wohnungen.

Langweilig wird es für ihn und Rettungsassistent Abbas Sirdah in den kommenden neun Stunden nicht. Während viele andere Hamburger das sonnige Wetter an diesem Sonnabend genießen, erwartet Dr. Parey ein Potpourri an Krankheiten und Nöten: Magen-Darm-Virus, grippale Infekte, Blähungen, Schmerzen und Schwindel. Die Menschen liegen auf Sofas und in Betten, und jeder ist erleichtert, wenn der Doktor in der Tür steht. Einblicke ins Kranken­lager der Hamburger.

Innerhalb von zwei Stunden sollte der Arzt beim Patienten sein

Ist es wieder das Herz? Der Herr in Schlafanzughose hat Schmerzen im Oberbauch, die ihm keine Ruhe lassen. Die Angst ist riesengroß nach dem Infarkt im Januar. So groß, dass der 74-Jährige an diesem Sonnabendmorgen die Nummer 116 117 gewählt hat – die Nummer des kassenärztlichen Notdienstes. Dort hat ihn ein medizinisch ausgebildeter Mitarbeiter nach seinen Symptomen gefragt, sich Namen, Adresse, Telefonnummer notiert und über einen Disponenten einen Arzt nach Jenfeld geschickt. Etwa eine halbe Stunde später steht Björn Parey in der Patientenwohnung. „Sie sind so schnell gekommen“, ruft Herr L. noch mit der Zahnbürste im Mund aus dem Badezimmer. Das klingt fast wie ein Vorwurf.

Björn Parey ist einer von der schnellen Sorte. Jemand, der aus dem Einsatzfahrzeug fast springt und zu den Patienten läuft. Innerhalb von zwei Stunden, so die Vorgabe, sollen die Hamburger ärztliche Hilfe bekommen. Dann werden Couch und Bett zu Untersuchungsliegen, Wohn- und Schlafzimmer zu Behandlungsräumen. So wie die Stube von Herrn L.

Vermeintlicher Herzinfarkt entpuppt sich als Blähungen

Vor der Untersuchung kommt die Bürokratie – genau wie beim Arzt in der Praxis: Björn Parey legt die Krankenkassenkarte ins Kartenlesegerät ein und fragt nach den Beschwerden. Die Schmerzen im Oberbauch seien seit dem Vortag schlimmer geworden. Der Arzt spricht Klartext: „Ihr Übergewicht ist eine der Ursachen für Ihren Herzinfarkt und für die Bauchschmerzen.“ Herr L. macht sich frei, sodass der Arzt mit der Untersuchung beginnen kann: Er klopft den Bauch ab, und dieser klingt hohl. „Da ist ganz viel Luft drin“, so das Urteil. Entwarnung also: Es sind Blähungen und nicht das Herz. Björn Parey überreicht Herrn L. einen Infozettel zur Behandlung von Blähungen. Wie immer muss er nach jedem Besuch bei einem Patienten einen Bericht für den behandelnden Hausarzt verfassen. Gute Besserung und auf Wiedersehen. Zack, Zack geht das, ohne dass der Arzt dabei hektisch wird. Parey bleibt zwar selten länger als 15 Minuten beim Patienten und wirkt dabei doch ruhig. Während seiner Hausbesuche ist große Erleichterung bei den Betroffenen zu spüren: Endlich ist da jemand, der hilft.

Igor N. aus Jenfeld hat einen schmerzhaften Gicht­anfall – sein Blutdruck ist normal. Gegen die Schmerzen bekommt er ein Rezept.
Igor N. aus Jenfeld hat einen schmerzhaften Gicht­anfall – sein Blutdruck ist normal. Gegen die Schmerzen bekommt er ein Rezept. © Michael Rauhe | Michael Rauhe

13 Ärztekollegen sind heute gleichzeitig mit Björn Parey im Einsatz, verteilt auf das Stadtgebiet. Insgesamt sind es 360 Ärzte, die sich an dem Dienst beteiligen – von Duvenstedt bis Blankenese, von Lohbrügge bis Langenhorn. Disponent Jan Ebernickel hat heute Dienst. Von seinem Arbeitsplatz in der Einsatzzentrale der Firma Falck (früher Gard) in der Rettungswache im Holstenhofkamp in Wandsbek hat er auf vier Bildschirmen sämtliche Fahrzeuge, Ärzte und Einsätze im Blick und verteilt diese entsprechend. Bis zu 350 Einsätze sind es durchschnittlich an einem Wochenend-Tag – 100 mehr als in der Woche.

Ein Tag raus aus der eigenen Komfortzone in Volksdorf

Den kassenärztlichen Bereitschaftsdienst gibt es zwar seit fünf Jahren, seit dem 1. Mai vergangenen Jahres aber bieten die Kassenärzte mit dem „Arztruf Hamburg“ einen erweiterten Bereitschaftsdienst. Neu ist, dass der Notfalldienst auch tagsüber zu Hausbesuchen fährt. Über die bundesweit erreichbare Telefonnummer 116 117 erhalten alle krankenversicherten Hamburger mit dem Arztruf 24 Stunden an jedem Tag im Jahr kostenlos ärztliche Hilfe. Meint der Arzt während eines Telefonats, dass der Patient lieber bei einem niedergelassenen Arzt vorstellig werden sollte, wird der Patient von der Notfalldienst-Zen­trale zurückgerufen und erhält einen Termin beim Haus- oder Facharzt. Im vergangenen Jahr gab es 90.000 Einsätze beim fahrenden Notfalldienst und 20.000 telefonische Beratungen.

„Mit diesem Angebot sollen Patienten mit leichteren Erkrankungen in die passende Versorgungsebene geführt und die Zentralen Notaufnahmen der Hamburger Krankenhäuser entlastet werden“, so Jochen Kriens von der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg. Noch ist es zu früh, um eine Bilanz ziehen zu können, das sei erst im Herbst möglich. Kriens geht jedoch davon aus, dass aufgrund der bisherigen Erfahrungen am Asklepios Klinikum Harburg die Zentrale Notaufnahme bislang um etwa 25 Prozent entlastet wird. Zumindest, so sagt es Michael Wünning, Hamburger Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Notfall- und Akutmedizin, seien die Steigerungsraten von Patienten in den Notaufnahmen stagnierend.

Parey besucht auch Patienten im Pflegeheim

Die Gründe dafür seien vielschichtig, da die Notfallversorgung auf verschiedenen Ebenen derzeit neu strukturiert werde.

Kaum ist Björn Parey nach seinem Einsatz zurück im Fahrzeug, erscheint auf dem Display die nächste Adresse: ein Alten- und Pflegeheim in Horn. Auf der Fahrt plaudert Björn Parey über seinen Werdegang. Er war bereits während des Zivildienstes als Rettungsassistent unterwegs. „Danach wollte ich Arzt werden“, sagt der Vater von zwei Söhnen. So spannend war das Unterwegssein in der Stadt. Theoretisch sei dieser Bereitschaftsdienst verpflichtend für niedergelassene Ärzte, aber es finden sich immer genügend Freiwillige. „Ich mache das gern, ich liebe die Abwechslung und lerne die Stadtteile kennen.“ Der 51-Jährige komme so aus seiner Komfortzone her­aus, und vielseitig ist der Dienst ohnehin: „Die Erkrankungen sind weniger chronisch als in meiner Gemeinschaftspraxis – und akuter.“

Die Fahrt zum Horner Alten- und Pflegeheim dauert keine 20 Minuten. Parey geht die Treppe in den vierten Stock hoch, nimmt dabei zwei Stufen auf einmal. Im Flur auf der Station riecht es nach Urin, nach Essen und Ausdünstungen. Demenzkranke Menschen sitzen in Rollstühlen. Zwei Pflegerinnen müssen sich an diesem Tag um 30 Bewohner kümmern, doch um den Mangel an Pflegekräften geht es nicht. Es geht um die fiebernde Frau W., um Frau R. mit einer Entzündung am Auge und um eine andere Bewohnerin mit Reizhusten. Die Stationsleiterin hat bereits die Krankenkassenkarten herausgelegt und berichtet von den Symptomen der kranken Frauen.

Hemmschwelle von einigen Menschen ist noch hoch

Frau W. liegt in ihrem Bett, als Björn Parey sie untersucht. Weil sie schwerhörig und dement ist, ist die Kommunikation schwierig. Lunge abhorchen. Alles unauffällig. Die 82-Jährige hat einen grippalen Infekt, keine Lungenentzündung. Damit ist sie auch kein Fall fürs Krankenhaus. „Sie müssen ihr viel zu trinken geben“, sagt er der Pflegerin. „Wenn es schlimmer wird, bitte anrufen und nicht bis Montag warten.“ Dann ist da noch eine Bindehautentzündung bei Frau R. auf einer anderen Station, und Frau H. stellt er ein Rezept aus für ein schleimlösendes Medikament bei Husten. „Hat noch jemand Beschwerden?“ Nein, heute nicht.

Die Hemmschwelle, sich an den Bereitschaftsdienst zu wenden, ist für manche immer noch hoch, sagt der Arzt. „Ich würde mich freuen, wenn niemand mehr Hemmungen hat.“ Sein Appell: Jeder, der sich krank fühlt oder Angst hat, kann sich melden. Denn: „Den ärztlichen Notruf anzurufen ist angenehmer, als drei Stunden in der Notaufnahme zu warten“, so Parey. Und damit die Notaufnahme für Menschen mit lebensbedrohlichen Krankheiten zu blockieren. „Natürlich kann vieles auch bis Montag warten, wenn die Hausarztpraxen geöffnet sind“, sagt Herr Parey. Aber: Die Verunsicherung habe zugenommen, so seine Beobachtung.

Das Desinfektionsmittel ist im Dauereinsatz

„Das medizinische Allgemeinwissen ist weniger geworden, viele Menschen haben Angst.“ Bildungsferne Menschen seien dabei unsicherer als welche mit höherer Schulbildung. Einer Familie musste der Arzt erklären, dass ein Magen-Darm-Virus ansteckend ist. Die Mutter seiner nächsten Patientin – einer 17-Jährigen mit grippalem Infekt – erfährt erst von ihm, dass Fieber Krankheitskeime abtötet. Von Wadenwickeln als Alternative zu fiebersenkenden Medikamenten hat diese Mutter nie gehört.

Und dennoch sind das für den Mediziner keine überflüssigen oder gar lästigen Besuche. Im Gegenteil: „Ich halte diese Einsätze für erforderlich. Meine Aufgabe ist es, lebensbedrohliche Krankheiten auszuschließen.“ Sind die Bauchschmerzen doch eine Darmentzündung? Ist der Husten der 17-Jährigen eine Lungenentzündung?

Wer so viel mit kranken Menschen zu tun hat, in deren Wohnungen ist, Türgriffe anfasst, ist vorsichtig. Natürlich trägt Björn Parey Gummihandschuhe während der Untersuchungen, am Ende des Tages kommt zusätzlich seine Kleidung in die Wäsche. Das Desinfektionsmittel ist im Dauereinsatz. Häufiger krank als andere sei er aber nicht, „nur im Frühjahr erwischt es mich regelmäßig. Dann habe auch ich häufig einen Magen-Darm-Virus.“

Von 21 Patienten kamen zwei ins Krankenhaus

So wie die Mutter von vier Töchtern im Alter von vier bis 13 Jahren, die er als Nächstes besucht. Eine von sehr vielen Magen-Darm-Infekten an diesem Tag. Weil die Frau aus Mazedonien kein Deutsch spricht, übersetzt ihr Ehemann: Schwindel, Übelkeit, Erbrechen plagen sie. Noch eine Spritze gegen die Übelkeit, bis es zur nächsten Patientin mit Verdacht auf Blinddarmentzündung geht. Die 51-Jährige weist er in ein Krankenhaus ein, bestellt den Krankenwagen, füllt den Einweisungsschein fürs Marienkrankenhaus aus und den Transportschein für den Krankenwagen. Auch die Dame, die gestürzt war, muss zum Röntgen ins Krankenhaus.

Zwischendurch schickt Disponent Jan Ebernickel Björn Parey zu einer Bekannten: Frau W. ruft regelmäßig an, weil sie Schmerzen hat und hofft, stärkere Medikamente zu bekommen. Sie versucht, die Ärzte gegeneinander auszuspielen. Böse ist Björn Parey ihr nicht. Aber sie kommt bei ihm damit nicht durch. Sie muss sich an ihren Suchtmediziner wenden. Schmerzen hat auch Igor N. aus Jenfeld, der an einem akuten Gichtanfall im rechten Fuß leidet. Er bekommt ein Rezept für ein Schmerzmittel, und dann rauscht Björn Parey schon durch die Tür hinaus. Der nächste Patient wartet. Zum Feierabend um 19 Uhr werden es 21 gewesen sein. Zwei dieser Patienten hat der Arzt ins Krankenhaus überwiesen, die anderen 19 hätten unnötig in der Notaufnahme warten müssen.