Hamburg. Mit einer Eisenstangen soll der 78-Jährige das Kind verletzt haben. Der Angeklagte und eine Zeugin schildern den Vorfall ganz anders.

Die Knie sind lädiert, aber jetzt und hier mache ihm vor allem sein Magen zu schaffen, so nervös sei er, sagt Lothar Sch. Und überhaupt sei er reif für den Ruhestand. Wenn am 26. Juli der Sommerdom öffnet, beginnt für ihn die letzte Saison seines Lebens. Lothar Sch., 78 Jahre alt und als Spross einer Schaustellerdynastie seit seinem sechsten Lebensjahr auf den Rummelplätzen Deutschlands zuhause, wird danach sein Vergnügungsgeschäft „Hau den Woody“ schließen – und in die Grundsicherung abrutschen. Für die Rente hat er nie gespart, die Miete zahlt bereits das Amt. Und das altehrwürdige Woody wirft schon lange keinen Gewinn mehr ab.

Ausgerechnet in der Saison vor der Finalrunde auf dem Heiligengeistfeld hat sich Lothar Sch., bisher unbestraft, Ärger mit der Polizei und der Strafjustiz eingehandelt. Am 25. August 2018, am Tag vor dem Abbau, soll der Schausteller einem Jungen eine Eisenstange auf den Kopf geschlagen haben, nachdem der Elfjährige wiederholt mit einem Hammer auf sein Spielgerät gehauen hatte, ohne dafür zu zahlen. Das Kind klagte danach über Kopfschmerzen und eine Beule; die Staatsanwaltschaft klagte an.

Angeklagter lasse sich von Kindern nicht auf Nase herumtanzen

Nur hat es sich wirklich so abgespielt? Am Dienstag sitzt der 78-Jährige, angeklagt wegen gefährlicher Körperverletzung, vor Amtsrichterin Monika Schorn. Lothar Sch. ist ein einfacher Mann. Einer, der Lesen und Schreiben nie gelernt hat. Aber er wisse, was sich gehört, sagt er. Und von Kindern lasse er sich gewiss nicht auf der Nase herumtanzen. An seinem Geschäft „Hau den Woody“ schmeißen Kunden Geld in einen Automaten, aus Löchern schießen „Fantasiewürmer“ und Holzstäbchen, die müssen sie dann mit einem Hammer erwischen. So läuft das Reaktionsspiel.

Am 25. August 2018 scharen sich drei oder vier Kinder um das Woody, darunter auch Aaron B. (Name geändert), mutmaßlich der Rädelsführer, jedenfalls der einzige, so erzählt es der Angeklagte, der wieder und wieder mit dem Hammer auf die Löcher schlägt und nicht zahlt. Draußen sitzt zunächst nur Monika S., die Ehefrau des Angeklagten und Zeugin vor Gericht. „Ein Ehepaar meinte noch, man sind die frech“, erinnert sich die 72-Jährige. Sie habe den Kindern zugerufen, „Wenn ihr jetzt nicht geht, hole ich Blacky“. Blacky, den Hund.

"Da habe ich mir die Stange genommen und ihn an der Stirn angestupst"

Schließlich weiß sie sich keinen anderen Rat, als einen Anruf bei der Polizei vorzutäuschen. Zunächst verschwinden die Jungs, nach anderthalb Stunden kehren sie zurück – und Aaron B. hämmert erneut auf die Löcher. Lothar Sch. sitzt inzwischen auf einem Hocker und ermahnt ihn mehrmals.

„Nach dem dritten Mal hat es mir gereicht“, erzählt der alte Mann mit der knarzigen Stimme, „da habe ich mir die Stange genommen und ihn an der Stirn angestupst, damit er endlich damit aufhört.“ Die Eisenstange ist eigentlich gar keine Stange, sondern ein dickerer Draht, der Lothar Sch. hilft, stecken gebliebene Chips aus dem Automaten zu nesteln. Beeindruckt habe die Aktion den Jungen nicht. „Er lief ein paar Meter weg, griff sich in den Schritt und zeigte mir den Stinkefinger“, sagt er. So hat es auch eine weitere Augenzeugin wahrgenommen.

Zeugin nahm Situation anders war – Angeklagter habe herumgetänzelt

Am folgenden Tag, ein Sonntag, sei der Junge erneut zum Woody gekommen und habe gerufen: „Ich zeige dich an, du hast mir eine Beule auf den Kopf gehauen, wegen dir habe ich Kopfschmerzen." Kurz vor Feierabend sei er dann in Begleitung seiner Mutter und der Polizei erschienen.

Aaron und seine Mutter sagen am Dienstag ebenfalls im Zeugenstand aus. „Ich war mit meinen Freunden auf dem Dom, uns war langweilig und dann haben wir uns eben einen Spaß erlaubt“, sagt der Junge. Er meint das Hämmern auf die Löcher. Auf die Provokation reagierte der Betreiber offenbar wie gewünscht: „Er wurde sauer.“ Bloß angestupst habe der Angeklagte ihn dann aber nicht. „Er hat mir die Stange auf den Kopf gehauen. Das tat richtig weh. Ich hatte Gänsehaut und hätte fast geweint“, sagt er. „Fast geweint?“, hakt Richterin Schorn nach. Der Junge: „Ich hatte Tränen in den Augen“.

Eine weitere Zeugin erlebte die Situation ganz anders: Der Junge habe nicht nur gelassen reagiert, er sei auch noch herumgetänzelt – offenbar um den Woody-Betreiber zu verhöhnen.

Aaron B. selbst räumt ein, dass er einen „Loser-Dance“ aufgeführt hat, einen bei Kindern populären Tanz, bei dem man mit den Fingern ein „L“ über dem Kopf formt. Einen Stinkefinger habe er dem Angeklagten nicht gezeigt. Er habe sich später noch entschuldigen wollen, „weil ich S… gebaut habe“. Angenommen habe der Angeklagte sie nicht.

Nur anderthalb Tage später konnte der Arzt keine Beule mehr feststellen

„Klar, wir waren frech, aber das ist noch lange kein Grund, zu schlagen“, sagt Aaron B. An der Stelle, wo Lothar Sch. ihn am Kopf erwischt habe, sei eine Beule gewachsen, die seine Mutter auch ertastet habe. „Nur anderthalb Tage später konnte der Arzt aber keine Beule mehr feststellen“, sagt hingegen Amtsrichterin Schorn. Ob S. wirklich geschlagen oder doch nur gestupst hat, bleibt unklar.

„Die Kinder waren provokant, Sie haben ein Hausrecht. Aber schlagen dürfen Sie natürlich nicht“, sagt die Richterin zum Angeklagten. Auch weil die Tatfolgen nicht sonderlich erheblich waren, stellt sie das Verfahren ohne Auflagen ein. Bei dem Tatmittel, einem dicken Draht, müsse man sich fragen, ob es in die Kategorie „gefährliches Werkzeug“ falle. Für die Staatsanwältin liegt die Tat ohnehin im „ Grenzbereich der Notwehr“. Seine Lektion habe er dennoch gelernt, sagt Lothar S. am Ende. „Ich werde niemals wieder ein Kind auch nur anfassen.“