Hamburg. Wer traurig ist, sollte sofort in den Park gehen, und Kinder gehen am besten alleine auf die nächste Brachfläche.

Wissen Sie, dass Sie mit nur zehn Minuten draußen Ihre Konzentrationsfähigkeit verbessern können? Und dass bereits das Ansehen eines Filmes über den Wald beruhigen kann? Welche zahlreichen Vorteile es hat, viel Zeit in und mit der Natur zu verbringen, erklären Prof. Dr. Ulrich Gebhard und Dr. Gunnar Liedtke von der Universität Hamburg.

Hamburger Abendblatt: Wie häufig sind Sie draußen?

Dr. Gunnar Liedtke: Mindestens zwei bis drei Stunden, weil ich mit dem Rad zu Arbeit fahre, und ich arbeite mit meinen Studenten auch viel draußen in der Umgebung von Hamburg.

Prof. Dr. Ulrich Gebhard: Mein Hauptverkehrsmittel ist ebenfalls das Fahrrad. Ich versuche auch viel spazieren zu gehen, auch zu wandern. Früher war ich bei den Pfadfindern, da kam die Naturromantik mit der 68er-Philosophie zusammen, das war eine sehr glückliche Kombination.

Liedtke: Ich habe viele ehemalige Pfadfinder unter meinen Studenten, das sind wirklich immer handfeste Typen.

Muss also jedes Kind zu den Pfadfindern?

Gebhard: Nein, das ist natürlich übertrieben, aber ich habe dort sehr viele Inspirationen erhalten.

Wo fängt Natur eigentlich an, beim Grünstreifen im Wohngebiet?

Gebhard: Da stellen Sie aber gleich die schwierigste Frage. Der Naturbegriff umfasst hat ein sehr breites Spektrum. Eine sehr strenge Definition besagt: Natur ist nur das, was vom Menschen unberührt ist. Allerdings gäbe es dann weltweit fast gar keine Natur mehr, vielleicht 5000 Kilometer unter dem Südpol noch, weil es nur wenige Regionen gibt, die vom Menschen unbeeinflusst sind. Zudem ist der Mensch natürlich auch selbst Natur. Für unser Thema brauchen wir einen anderen Naturbegriff, es muss nicht gleich die Wildnis sein. Unsere Kulturlandschaft ist geprägt von Wiesen, Feldern, Wäldern. Auch der Stadtpark und eine Brachfläche im Hinterhof kann Natur sein. Gerade bei Kindern, die nicht die ästhetischen Bedürfnisse von Erwachsenen haben, ist Naturerfahrung etwas, das mit Unkontrolliertheit und Freiheit zu tun hat. Natur ist das, was wächst, das, was uns gut tut, das, was oft auch schön ist.

Liedtke: Natur ist ein sehr räumlich verstandener Begriff. Wenn man ihn weiter fasst, sind auch wir ein Stück Natur. Wir sind nicht nur die ästhetischen Betrachter, wir sind mittendrin. Und die Menschen suchen sich auch im Grindelviertel, wo es wenig Grün gibt, einen Baum oder ein Stück Himmel zum Ansehen.

Naturerfahrungen wirken sich positiv auf die Konzentrationsfähigkeit auswirken. Welchen Einfluss kann Natur noch ausüben?

Gebhard: Es häufen sich die Befunde, dass Naturerfahrungen körperliches und seelisches Wohlbefinden begünstigen. Es ist belegt, dass Natur ein Anti-Stress-Faktor ist. Eigentlich phänomenal: Man bekommt in der Natur oft wie von selbst gute Laune. Natur wirkt gewissermaßen als ein Stimmungsaufheller; nach einer Wanderung haben Sie positivere Gedanken, die Konzentrationsfähigkeit steigt bereits nach zehn Minuten in der Natur. Interessanterweise auch – das will man gar nicht hören – wenn man nur einen Film von einem Wald sieht. Nicht ganz so effektiv wie ein echter Spaziergang im Wald, aber ein ähnlicher Effekt ist belegt. Es gibt auch bereits Ansätze, diese wohltuenden Wirkungen von Naturerfahrungen therapeutisch zu nutzen.

Liedtke: Einige Kurregionen weisen ja schon Heilwälder aus, wo man sich besser erholen kann. Die Japaner nennen es „Waldbaden“, und bei uns gab es das auch schon in der Romantik. Rausgehen, um ein Stück näher an sich dranzusein. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, was wirklich wichtig ist. Das habe ich in den letzten Jahren viel erforscht, inwieweit sich das Draußen sein auf das Wertebewusstsein der Leute auswirkt: Natur kann ein Anlass sein, zurückzufinden zu dem, was man eigentlich als wichtig erachtet. Wer eine längere Zeit in der Natur verbringt, weiß besser Prioritäten zu setzen.

Nach psychologischen Theorien wirken sich Naturerfahrungen günstig auf die Gesundheit aus, weil sie einen Abstand zum Alltagsleben bzw. Alltagstrott ermöglichen. Aber ein normaler deutscher Mischwald kann doch keine Depression heilen.

Gebhard: Natürlich ist Natur kein Allheilmittel gegen alle mögliche Zivilisationskrankheiten. Mein Hauptargument ist, dass ein Leben in und mit der Natur ein Element eines guten Lebens ist. Zudem sollten wir Natur nicht nur zum Therapeutikum degradieren. Ein Leben mit Naturerfahrungen ist in jedem Fall eine gute Prävention. Es gibt seit einiger Zeit den humangeographischen Begriff der „therapeutischen Landschaften“. Da geht es um die kulturelle symbolische Bedeutung von bestimmten Landschaften und von Natur. Lourdes beispielsweise beeinflusst die Menschen nicht deshalb, weil es sich um einen besonderen Mischwald handelt oder der Sauerstoffgehalt ein spezieller ist, sondern weil Lourdes kulturell symbolisch aufgeladen ist. In diesem Zusammenhang ist auch wichtig, dass wir uns in der Natur immer auch selbst erfahren. Naturerfahrung und Selbsterfahrung hängen zusammen. Wir können uns in der Natur auf symbolische Weise spiegeln.

Liedtke: Das Spiegeln muss natürlich nicht immer positiv sein. Vieles hängt vom Maß der Naturerfahrung ab. Wer sich in den Dschungel begibt, der kann auch sehr viel Angst bekommen. Oder wer alleine im Wald sitzt, da kommen viele Ängste hoch. Meine Studenten müssen beispielsweise 48 Stunden alleine irgendwo verbringen, das ist für viele eine Vorstellung, die sie Wochen vorher beschäftigt. Doch wenn sie wiederkommen, sehe ich fast ausnahmslos in strahlende Gesichter.

Könnten die Ängste der Jüngeren damit zu tun haben, dass sie Natur nicht so gut kennen?

Liedtke: Das hat nichts mit dem Alter zu tun. Viele Menschen haben einfach wenig Naturerfahrung. Der Spaziergang im Park ist für jeden ein Stimmungsaufheller, doch die Wanderung über mehrere Tage, bei miesem Wetter und großen Anstrengungen, die muss währenddessen nicht immer die Laune heben. Aber hinterher schon, da kommt das Gefühl des Geschaffthabens hinzu.

Gebhard: Natur ist also kein Wellnessprogramm. Naturerfahrungen berühren auch existenzielle Sinnfragen. Nicht umsonst haben Menschen in der Geschichte stets versucht, Wildnis zu roden, denn sie stellt eine Quelle von Angst und Bedrohung dar. Dass wir heutzutage über die positiven Effekte der Natur sprechen können, ist im Grunde eine zivilisatorische Errungenschaft.

Liedtke: Wir sehen ja an der Rückkehr des Wolfes, dass wir vollkommen aus der Übung gekommen sind, mit der Natur als Bedrohung umzugehen.

Geht es uns in der kalten Jahreszeit, wenn wir weniger draußen sind, nachweislich schlechter als im Sommer?

Liedtke: Da gibt es ganz klare Befunde: Depressionen steigen im Winter an. Ob es durchs weniger Draußensein kommt oder durch weniger Tageslicht, steht nicht fest, aber ich als Bewegungswissenschaftler empfehle Sportlern immer, besser draußen als im Studio zu trainieren. Und wer nicht joggen will, der geht eben spazieren. Ich versuche Bewegung immer möglichst unsportlich zu verkaufen, um möglichst viele Leute damit anzusprechen.

Gebhard: Ich arbeite gerade an einem Projekt über Naturerfahrungen mit sogenannten bildungsbenachteiligten Jugendlichen in Hamburg Wilhelmsburg. Mit denen sind wir ein Jahr lang jede Woche nach draußen gegangen, und auch wir konnten beobachten, dass die Naturerfahrungen im Herbst und Winter nicht so faszinierend und motivierend für die Jugendlichen sind wie im Frühling. Was übrigens eine ausgesprochene Ungerechtigkeit ist: Die positiven Wirkungen von Naturerfahrungen erleben bildungsnähere Menschen eher.

Die Vermittlung von Natur ist also schichtenspezifisch? Das ist ja tragisch.

Gebhard: Das muss man in der Tat so sagen. Es geht nicht nur um den tatsächlichen Naturzugang, den haben ja alle Menschen, der Stadtpark kostet keinen Eintritt. Es gibt also offenbar innere, mentale Barrieren, fehlende Interpretationsmöglichkeiten für Naturerlebnisse. Das Bundesamt für Naturschutz untersucht seit Jahren, wie die Deutschen über Natur denken. Ein Ergebnis, das eigentlich ein Skandal, ist: Bildungsferneren Schichten erscheint es mental weniger möglich zu sein, die positiven Effekte von Naturerfahrungen für sich zu nutzen. Zudem haben sie ein geringer ausgeprägtes Umweltbewusstsein. Naturerfahrungen wirken also nicht gleichsam automatisch, sondern haben etwas mit Bildung zu tun. Hieraus ergeben sich wichtige Aufgaben für Schule und Kindergarten.

Womit wir bei Spielzeugen sind: Ich habe ganz tolle Kopfhörer, die mir Waldrauschen nachts aufs Ohr spielen. Eine gute Idee oder Quatsch?

Gebhard: Wahrscheinlich funktioniert das sogar. Diese Möglichkeiten müssen auch nicht verteufelt werden, doch der Naturentfremdung wird man so nicht entgehen können.

Liedtke: Und Studien beweisen auch eine klare Abstufung: Natur sehen und Natur wahrnehmen ist gut, in der Natur sein, ist besser, in der Natur aktiv sein ist am besten. Da gibt es Unterschiede in der gesundheitlichen Wirkung.

Gebhard: Wird das nicht kontrovers diskutiert? Es gibt auch Experten, die nur von minimalen Abweichungen sprechen.

Kinder sollen draußen komplexer, kreativer und selbstbestimmter spielen als drinnen, stimmt das?

Gebhard: Ja, vor allem wenn sie auf freien, unbeaufsichtigten Flächen spielen, also nicht in vom Menschen bearbeitetem Raum. Spielplätze sind eher eine Notlösung, man muss sie nicht abschaffen; aber eine Brachfläche, auf der man seinen Fantasien und Träumen nachgehen kann, ist viel besser.

Warum?

Liedtke: Eine freie Fläche ermöglicht das, was man möchte. Der Spielplatz ermöglicht nur das, was das Gerät vorsieht.

Da sehe ich doch meine Kinder schon vor mir stehen und nörgeln: Was sollen wir hier machen, Mama!

Liedtke: Und das ist schon der erste Prozess! Sich die Frage zu stellen: Was soll ich machen? Die Phase der Langeweile wird sehr schnell überwunden.

Gebhard: Weil Sie als besorgte Mutter gleich sicher nach den Gefahren fragen werden: Es gibt eindeutige Befunde, dass das Spielen auf den sogenannten wilden Freiräumen weniger gefährlich ist als auf Spielplätzen. Denn es scheint Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit zu provozieren.

Liedtke: Die Unfallzahlen auf Londoner Abenteuerspielplätzen sind übrigens drastisch runtergegangen, als man den Eltern den Zutritt verbot. So viel zum Thema, ob sich die Eltern zu viel kümmern. Im Gegenteil: Die lenken die Kinder nur ab vom Spielen. Pass hier auf! Mach‘ das nicht!

Super! Dann kann ich mich ja jetzt entspannen.

Liedtke: Das sollte jede Mutter und jeder Vater. Weniger Kontrolle kann manchmal besser sein.

Gebhard: Es ist der Freiraum, der die Natur für Kinder attraktiv macht. Positive Wirkungen von Naturerfahrungen entfalten sich nicht ohne weiteres, wenn Natur verordnet wird. Die positive Wirkung von Natur ereignet sich nämlich nebenbei. Ein Naturraum wird dann als bedeutsam erlebt, wenn man in ihm eigene Bedürfnisse erfüllen und seine Fantasien und Träume schweifen lassen kann. Durch Erlebnisse in der Natur bekommt diese eine persönliche Bedeutung; dies wiederum schafft eine Verbindung und - das dürfen wir zumindest hoffen – eine Verbindlichkeit und ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Umwelt. Doch das ist nicht der wesentliche Punkt. Vielmehr geht es darum, dass Naturerfahrungen einfach gut tun und nicht dazu da sind, die Kinder zu moralisieren.

Brauchen Kinder in einer Industrienation wie Deutschland denn überhaupt noch Naturerfahrungen, um sich auf Ihr Leben und den Beruf vorbereiten zu können?

Liedtke: Ich halte das für existentiell. Natur verkörpert das Zweckfreie und gibt Antworten auf die Sinnfrage. Wer die für sich nicht beantworten kann, der wird es im Job und im Leben schwer haben. Wieso mache ich den ganzen Kram überhaupt? Die Antwort gibt die Natur.

In der nächsten Folge am kommenden Sonnabend wird es um diese Frage gehen: Wie bewegen wir uns in der Zukunft fort?