Hamburg. Oberbaudirektor Franz-Josef Höing will die Magistralen neu entwickeln. Das Abendblatt hat sich mit ihm die Eiffestraße angeschaut.
Zwischen Ausfallstraße und Idyll liegen manchmal nur wenige Schritte. Wer die Eiffestraße Richtung Bergedorf entlangbraust und die Tristesse von Schnellrestaurant, Autowaschanlage und Wellblechgewerbe an sich vorbeifliegen lässt, wird kaum glauben, dass kurz dahinter grüne Wohnquartiere liegen. Leise, wasserreich, unentdeckt.
Hier gibt es eine Welt der Gegensätze zu entdecken – und eine Zwischenwelt mitten in der Stadt. Sie ist nicht gewachsen, sondern besteht aus viel Nebeneinander, sie ist nicht geplant, sondern ein Zufallsprodukt, nicht fertig, sondern improvisiert. Genau an diesen Stellen will Oberbaudirektor Franz-Josef Höing die Stadt verändern – an den Magistralen. Deshalb lädt er Architekten und Stadtplaner für August zu einem Bauforum, um neue Einfälle für die Ausfallstraßen zu gewinnen. Heute leben im Umfeld der Magistralen 130.000 Menschen. Diese Menschen nimmt die Stadtplanung nun endlich in den Blick.
Mit dem Oberbaudirektor ist das Abendblatt in den Osten gefahren – die Eiffestraße (B 5) entlang Richtung Bergedorf. Es sind die Straßen, die einst in der autogerechten Stadt zur Trasse degradiert wurden, eine Autobahn mit loser Randbebauung, ohne Kante, ohne Plan, ohne Charme. Höing nennt das Sammelsurium „großstädtische Banalität“. Trassen wie diese gibt es zu Tausenden in Deutschland und dutzendfach in Hamburg. Sieben hat die Baubehörde auserkoren als Magistralen im Bauforum.
Der Osten lebt auf
Es lohnt, sie genauer zu betrachten. Was Vorbeihastende „hässlich“ nennen würden, versprüht für Höing noch immer einen „rauen“ oder „spröden“ Charme; eine ungenutzte Fläche am Ausschläger Weg nennt der 54-Jährige eine „Zahnlücke“. Selbst wenn er schlimme Bausünden in den Blick nimmt, bekommen die „Kisten“ und „Kästen“ in seiner münsterländischen Sprachfarbe ein fast freundliches Label. Höing will kein „Bilderstürmer“ sein, will keine Ausfallstraße radikal zurückbauen. Mit Blick auf die Verkehrsströme der Eiffestraße sagt er: „Hier muss man keine Spur wegnehmen. Diese Straße hat eine wichtige Funktion, hier werden Verkehre gebündelt.“
Aber die Trasse wird wieder zur Straße, langsam zum Lebensraum. Der Wandel mag stadtauswärts noch verhalten sein, citynah hingegen ist er selbst für Raser unübersehbar. Mehrere Hotelprojekte wie das Moxy-Hotel oder das B+B sind fertiggestellt, weitere sind im Bau oder geplant. In einigen Wochen wird das Holiday Inn und das Super 8 Hotel mit 592 Zimmern eröffnen. Die Feuerwehr bekommt für 100 Millionen Euro 2022 eine neue Rettungsleitstelle, zudem entstehen Wohnungen für Flüchtlinge und Asylsuchende. Ein Wahrzeichen für die Veränderung in Borgfelde ist die Berufliche Schule an der Anckelmannstraße, die 2017 eröffnet wurde. Ein heller Klinkerbau, der den Stadtraum verbindet und neu erschließt. „Hier haben wir in der zweiten Reihe einen schönen Raum aufgespannt“, sagt Höing. Pionier der Veränderung ist oft die Stadt, ihre Investitionen zeigen Perspektiven auf, geben eine Richtung vor und schieben private Folgeprojekte an. Aller Anfang ist schwer. Aber Höing weiß auch: „Wenn es losgeht, wird es oft schnell dynamisch.“
Das Bild der Hauptverkehrsstraße verändert sich radikal, sobald man nach links oder rechts abbiegt. „Wenn man innehält, eröffnen sich tolle Lagen. Das ist eine andere Welt“, verspricht Höing, als wir in die Diagonalstraße fahren. Diagonalstraße! Liebe zum Detail zeigt Hamburg hier nicht einmal bei den Straßennamen. Und doch kann man sich auf den zweiten Blick in Hamm durchaus verlieben: Mittelkanal und Südkanal sind durch den Rückerskanal verbunden. Dort endete der Feuersturm, der in der flammenhellen, todesfinstren Julinacht 1943 Rothenburgsort, Hammerbrook und Hamm verbrannte. Ein Dreivierteljahrhundert liegt das zurück, die Narben bleiben bis heute sichtbar.
Perlen, die das Inferno überstanden haben
Aber es gibt Perlen, die das Inferno überstanden haben. Begeistert zeigt Höing „fantastische Architektur“ der 20er-Jahre. Die Grundschule Osterbrook ist ein spektakulärer Fritz-Schumacher-Bau, die backsteinerne Hansaburg, das Gebäude der ehemaligen Papierfabrik Lehmann & Hildebrandt, wirkt wie eine Keimzelle zukünftiger städtischer Entwicklung. Einer der Ersten, die an diese Lage geglaubt haben, war Peter Jorzick vom Hamburg Team. Vor neun Jahren kaufte er das backsteinerne Zeugnis Hamburger Industriearchitekturgebäude. Jorzick kennt sich aus mit alten Fabriken – Anfang der 80er-Jahre entwickelte er in Ottensen alte Fabrikhallen, in einer Zeit, als der Stadtteil eine tiefe Krise durchlitt. Heute ist Ottensen der Hamburger In-Stadtteil.
„Die Entscheidung für das Grundstück der historisch interessanten Hansaburg hatte für mich in erster Linie mit der wunderschönen Wasserlage zu tun“, sagt Jorzick. Auf der Freifläche neben der Hansaburg sind direkt an den Kanälen die Hansaterrassen mit 131 Wohneinheiten entstanden. „Die Überlegung, hier Wohnungsbau neu anzusiedeln, kam aus der Geschichte Hamms als dem schönsten gründerzeitlichen Wohnquartier der Stadt, bevor der Bombenkrieg diesen Stadtteil vernichtete.“
Idyllisch schmiegen sich die Hanseterrassen an Kleingärten und Wasserarme; es gibt einen gemeinsamen Bootsanleger, Vögel zwitschern, vom Verkehr der Eiffestraße ist nichts mehr zu hören. Goldene Balkone dekorieren die einfachen Wohngebäude und geben ihnen eine besondere Note, auch wenn manche sich ein wenig an „Ado Gardinen“ mit Goldkante aus der 70er-Jahre-Werbung erinnern. „Es war kein Selbstgänger, hier Wohnungen in einer absoluten Pioniersituation zu verkaufen“, sagt Peter Jorzick. Es habe einige Mühe bereitet.
Hoffen auf „Abstrahleffekte“
„Wir können die Stadt auch aus dem Inneren entwickeln“, sagt Höing. „Das sind Lagen, die jede Mühe lohnen.“ Aber die auch Mühe machen. Jahrzehnte ist an diesen Orten wenig passiert und wurde noch weniger geplant; die Stadt ist hier eher gewuchert, denn gewachsen. Zugleich haben sich Freiräume gebildet, in denen sich Menschen eingerichtet haben, heimisch geworden sind. Kleingärten beispielsweise sollen jetzt „umgetopft“ werden – deren Pächter aber lassen sich nur ungern umtopfen.
Team Hamburg und die Saga werden gleich in der Nachbarschaft weiterbauen. Jorzick will hier auch Familien erreichen, mit „Grundschule, Kitas, Sportzentrum, Wasser und Grün, wohnungsnahe Infrastruktur“.
Auf dem Gelände des Ernst-Fischer-Sportplatzes an der Wendenstraße soll vom kommenden Jahr an das neue Wohnquartier „Osterbrookhöfe“ mit 900 Wohnungen entstehen – wegen der sozialen Mischung sind nur gut 100 als Sozialwohnungen geplant. Die Leibesübungen ziehen um auf das Gelände des Freibads Aschberg, das zu einem Sportpark mit einem kleinen Hallenbad ausgebaut wird. „Die Bedeutung von Sport für die Stadtentwicklung nimmt immer weiter zu“, sagt Höing. Das Quartier wächst von 6000 auf 8000 Einwohner. Drei Kitas sind geplant, Einzelhandel soll hinzukommen. Mehr Leben soll Leben bringen, vielleicht eröffnet ein Café, eine Kneipe, eine Galerie? Es sind diese „Abstrahleffekte“, auf die Höing hofft. Zunächst auf die Quartiere, dann auf die Magistralen und schließlich auf die ganze Stadt.
Probleme beginnen in den Erdgeschossen
Der Oberbaudirektor glaubt an die Möglichkeiten der Magistralen, an den weichen Kern hinter einer rauen Schale. „Die zentrale Frage ist, wie man Qualität schafft“, sagt Höing – auch wenn Lärm und Verkehr die Flächen noch belasten. Schon heute zeigen Blicke in die wasserseitigen Innenhöfe, dass man auch an Magistralen gut wohnen kann – plötzlich öffnen sich große grüne Räume mit Sitzgelegenheiten, Spielgeräten und einem Anleger zum Mittelkanal. Vorne mag der Verkehr rauschen, hinten plätschert das Wasser. „Die stärkere Bebauung von Magistralen ist eine echte Chance, Baugrundstücke zu gewinnen“, hofft auch Jorzick.
Trotzdem ist die Entwicklung der Magistralen kein Selbstläufer. Die Probleme beginnen in den Erdgeschossen. Gerade abseits der Innenstadt sterben die Läden. „Was kommt da rein?“, lautet die Frage nicht nur der Investoren, sondern aller Stadtentwickler. Vielen dämmert: Ohne Quersubventionierung durch die Investoren könnte es schwer werden. Auch ein großer Plan lässt sich nur peu à peu umsetzen: Weil die Stadt hier nur über wenig Grundbesitz verfügt, geht es darum, die Lagen zusammen mit den Eigentümern zu entwickeln.
Zudem sind an der Wendenstraße noch viele Gewerbeflächen untergebracht, Traditionsstandorte von Hamburger Unternehmen wie die Rösterei von Tchibo oder die Fachspedition Hoyer. „Die heranrückenden Wohngebiete dürfen das Gewerbe nicht verdrängen“, sagt Höing. Es ist ein Drahtseilakt, bei dem nur Transparenz und Offenheit den Absturz verhindert. Das ist eine der Aufgaben von Michael Mathe, Amtsleiter Stadt- und Landschaftsplanung in Mitte. „Bei neuen Planungen suchen wir frühzeitig den Dialog mit allen Beteiligten“, sagt Mathe. „Wir brauchen diese Unternehmen – sie sind wichtig als Arbeitgeber, Ausbilder, Steuerzahler. Wohnen und Arbeiten gehören zusammen und dürfen nicht gegeneinander aufgestellt werden.“
Selbst McDonald’s hat hier einen Bootsanleger
Manches geht schon Hand in Hand. McDonald’s hat schon einen Bootsanleger. Er weckt die Fantasie, was hier einmal möglich sein wird. Wenn das Wasser durchschimmert, sieht man die Möglichkeiten, die hier schlummern. Noch genießt der quietschbunte Mr. Wash die Wasserlage. Manche Ecken sind total verbaut, geradezu verlottert. Logistiker, Lackierer, Lager. „Natürlich muss man sich fragen, ob das alles hier noch in 20 Jahren stehen muss?“, sagt der Oberbaudirektor. Konkreter kann und will er nicht werden.
Ideen für diese Räume sollen ohnehin die kreativen Köpfe auf dem Bauforum entwickeln, verrückte Ideen inklusive. Die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr ist bislang schwierig – warum können nicht Barkassen diese Aufgabe übernehmen? Warum wagt Hamburg nicht als Erinnerung an das Vorkriegs-Hamburg ein neues Gründerzeit-Quartier, das an den alten Arbeiterstadtteil Hammerbrook erinnert? Und wenn das Freibad entfällt, warum gibt es nicht die erste öffentliche Flussbadestelle?
„Ein bisschen spinnen darf man“, sagt Höing mit Blick auf das Bauforum. „Die Kanäle sind ja nicht nur Kulisse“. Ihm schwebt vor, das Nebeneinander zu einem Ganzen zu fügen. „Wir brauchen ein städtisches Gefüge. Das ist unsere Aufgabe“, sagt Höing. Die Entwicklung wird Zeit brauchen. „Das kann 30 bis 40 Jahre dauern“, glaubt Höing. Stadtentwicklung erinnert manchmal an einen Marathonlauf; manche Quartiere mögen es sich schon im Ziel bequem machen – Hamm ist erst auf den ersten Kilometern. Es wird also noch spannend.