Hamburg. Bei den Wahlen am Sonntag ist die Hegemonie der Sozialdemokraten bedroht. Kommt die erste grüne Bezirksamtsleiterin?

Lange, sehr lange haben der rot-grüne Senat und die ihn tragenden Regierungsfraktionen abgewartet, bis sie die seit Monaten schwelende Affäre um Freitickets und Vorzugskauftickets für das umjubelte Rolling-Stones-Konzert im September 2017 im Stadtpark zu ihrer Angelegenheit gemacht haben. Anfang dieser Woche, ausgerechnet kurz vor den Europa- und Bezirkswahlen an diesem Sonntag, ging es nicht mehr anders: Die Staatsanwaltschaft kündigte an, ihre Ermittlungen unter anderem gegen Mitarbeiter des Bezirksamtes Hamburg-Nord auszuweiten – namentlich Ex-Bezirksamtsleiter Harald Rösler (SPD), der kostenlose Tickets für den Auftritt von Mick Jagger und Co. großzügig an Mitarbeiter, Parteifreunde und Abgeordnete verteilt haben soll.

Jetzt geht es nicht mehr nur um das eine Konzert der britischen Rockstars, jetzt geht es auch um mögliche Unregelmäßigkeiten und Gefälligkeiten bei mehreren Konzerten in der Sporthalle Hamburg, wie der Stadtpark im Bezirk Hamburg-Nord gelegen.

Rot-Grün will sich an Spitze der Aufklärung setzen

Mit anderen Worten: Die Frage ist, ob es übliche Praxis war, dass der Veranstalter von Konzerten der zuständigen Verwaltung ein Freikarten-Kontingent überließ und daran möglicherweise Bedingungen knüpfte. Die Bürgerschaftsfraktionen von SPD und Grünen taten nun das, was das imaginäre politische Lehrbuch bei solcherart Gefahr im Verzuge empfiehlt: sich an die Spitze der Aufklärung zu setzen. Rot-Grün stellt ein umfangreiches Aktenvorlageersuchen an den Senat und folgt damit der Forderung der FDP-Opposition. Die Bürgerschaft wird nun die politische Aufklärung der Vorgänge im Bezirksamt Hamburg-Nord übernehmen und Konsequenzen aus den Erkenntnissen ziehen.

Die Ticket-Affäre ist vor allem eine sozialdemokratische Affäre: Die Akteure im Bezirksamt haben meist ein SPD-Parteibuch, unter den bekannten angeblich Begünstigten sind in erster Linie Sozialdemokraten, auch wenn Mitglieder anderer Parteien Freitickets angenommen haben sollen. Und schließlich: Die Rolle der für die Bezirke zuständigen Aufsichtsbehörde muss aufgeklärt werden. Das ist die Finanzbehörde, von 2011 bis 2018 geleitet vom heutigen Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD).

Wenn die Sozialdemokraten gehofft hatten, die unangenehm hartnäckige Ticketgeschichte weitgehend vom Rathaus fernhalten zu können, so ist diese Hoffnung spätestens jetzt zerstoben. Mit Nachsicht der Parteifreunde auf Landesebene können die Nord-Genossen nicht mehr rechnen. Am 23. Februar 2020 wird eine neue Bürgerschaft gewählt.

Wahlen zum Europaparlament

Aber erst einmal geht es für die SPD darum, die unmittelbar anstehenden Wahlen zum Europaparlament und zu den Bezirksversammlungen einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Tschentscher hat sich in einen Terminmarathon während des Wahlkampfs gestürzt. Das Konterfei des Bürgermeisters war auf Plakaten zusammen mit den jeweiligen örtlichen Kandidaten quer durch die Stadt zu sehen. Und doch sind die Erwartungen vergleichsweise bescheiden. Der nach wie vor negative Bundestrend für die SPD macht der Partei auch in Hamburg zu schaffen.

Bei den Bezirkswahlen vor fünf Jahren musste die SPD zwar Verluste hinnehmen, blieb aber in allen Bezirksversammlungen stärkste Fraktion. Alle sechs amtierenden Bezirksamtsleiter sind Sozialdemokraten. In Hamburg-Nord ist der Posten vakant. Diese Hegemonie der SPD auf Bezirksebene ist jetzt durchaus bedroht. Drei Bezirke gelten aus SPD-Sicht als gefährdet: Altona, Eimsbüttel und Hamburg-Nord. Der härteste Konkurrent der Sozialdemokraten ist ausgerechnet der Koalitionspartner im Rathaus, also die Grünen, die von ihrem bundesweiten Höhenflug auch in Hamburg profitieren dürften.

Die Grünen haben in den drei Bezirken 2014 ihre besten Ergebnisse mit mehr als 20 Prozent geholt, schon damals trennten sie von der SPD höchstens zehn Prozentpunkte. Mit besonderem Interesse wird der Wahlausgang in Altona erwartet. Hier verstehen sich Grüne und CDU traditionell gut und haben einst das erste schwarz-grüne Bündnis geschmiedet. Um das Verhältnis zwischen SPD und Grünen steht es dagegen nicht ganz so gut … Mancher Sozialdemokrat gibt Altona sogar schon „verloren“.

In Altona muss neue Bezirkschefin gewählt werden

Was den Ausgang der Wahl besonders bedeutsam macht, ist der Umstand, dass die neue Bezirksversammlung einen neuen Verwaltungschef oder eine Chefin wählen muss. Bezirksamtsleiterin Liane Melzer (SPD) geht im September in Ruhestand. Schon gibt es Spekulationen, im Westen könnte die erste grüne Bezirksamtsleiterin Hamburgs gewählt werden.

In Eimsbüttel sind die Grünen traditionell stark, haben aber erst vor zweieinhalb Jahren zusammen mit der SPD Kay Gätgens (SPD) zum Bezirksamtsleiter gewählt. Deswegen gilt ein Sturz Gätgens’, vorausgesetzt, es gibt überhaupt eine realisierbare Mehrheit gegen die SPD, als unwahrscheinlich. Allerdings kann es zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen SPD und Grünen kommen.

In Nord ist die Lage am offensten, weil unklar ist, wie stark die Stones-Affäre durchschlägt. Auch hier gibt es bislang ein rot-grünes Bündnis, das zudem weitgehend reibungsfrei zusammengearbeitet hat. Eine der ersten Aufgaben der neu gewählten Bezirksversammlung wird – wie in Altona – die Wahl eines Nachfolgers für den pensionierten Bezirksamtsleiter Harald Rösler (SPD) sein. Die von der Bezirksversammlung bereits gewählte, aber noch nicht vom Senat ernannte Nachfolgerin Yvonne Nische (SPD) verzichtete auf das Amt, nachdem die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Vorteilsannahme gegen sie in der Stones-Affäre erhoben hatte.

Gelassenheit ist angesagt

Selten hatten Bezirkswahlen für die Landesebene so große Bedeutung. Ein schlechtes Ergebnis für die SPD, gar der „Verlust“ einzelner Bezirke, würde den Druck auf Tschentscher und SPD-Parteichefin Melanie Leonhard erhöhen. Auch das sensible Verhältnis zwischen den Koalitionspartnern im Rathaus wäre tangiert, zumal dann, wenn die Grünen Gewinner der Wahlen sein sollten.

Bislang gilt und hält allerdings die Verabredung zwischen SPD und Grünen, dass auf Landesebene weiterregiert wird. Größtmögliche Gelassenheit und Besonnenheit ist angesagt, allen größeren und kleineren atmosphärischen internen Störungen zum Trotz. Auch die Grünen werden wohl versuchen, Triumphgefühle möglichst zu unterdrücken, falls es einen Anlass dazu gibt. Beiden Seiten ist klar, dass die entscheidende Abstimmung bei der Bürgerschaftswahl am 23. Februar stattfindet.

Bis dahin werden SPD und Grüne die Projekte und noch ausstehenden Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag, die beiden nützen, auch gemeinsam umsetzen. Themen, die aus Sicht eines der beiden Partner in besonderer Weise zur eigenen Profilierung dienen, könnten es mit näher rückendem Wahltermin schwerer haben. Es gibt Sozialdemokraten, die in einer Schwächung der SPD bei den Bezirkswahlen strategisch sogar einen möglichen Vorteil für die Bürgerschaftswahl sehen. Es sei eben so, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger wollten, dass die ganze Stadt „rot“ sei. Wenn in einem Bezirk auch einmal andere „regierten“, sei es unter Umständen leichter, Menschen von der Wahl der SPD auf Landesebene zu überzeugen.

CDU hofft, von SPD-Schwäche zu profitieren

Und die anderen? Die CDU, in Hamburg nicht auf Rosen gebettet, könnte auch von der mutmaßlichen Schwäche der SPD profitieren. Die Christdemokraten hoffen vor allem bei den Europawahlen darauf, dass sie vor der SPD landen – wie schon bei der Bundestagswahl 2017. Das wäre fraglos ein Mobilisierungsschub mit Blick auf die Bürgerschaftswahl für die Partei, die zuletzt in Umfragen deutlich unter 20 Prozent lag.

Die Bezirksversammlungen werden sich wohl auf eine gestärkte AfD einrichten müssen. Vor fünf Jahren, vor der Flüchtlingskrise, hatte die Partei im landesweiten Durchschnitt 4,5 Prozent erreicht. Allerdings werden die Bäume für die AfD – wie in Norddeutschland insgesamt – wohl bei den Bezirkswahlen nicht in den Himmel wachsen.

Die FDP hofft auf eine stärkere Verankerung in den Bezirken, nachdem sie 2014 – in der Talsohle nach dem Scheitern bei der Bundestagswahl 2013 – nur auf 3,9 Prozent gekommen war. Die Linke muss ein für ihre gute Verhältnisse gutes landesweites Ergebnis von 10,2 Prozent verteidigen.