Hamburg. Die 100 großen Fragen des Lebens: Wer die Welt wirklich regiert und warum wir die Europäische Union brauchen.

Eine einzige Regierung auf der Welt, die alles zentral lenkt: Diese Idee übt seit der Aufklärungszeit eine Faszination aus. Die Professoren Antje Wiener (Politikwissenschaften/Global Governance) und Markus Kotzur (Europa- und Völkerrecht) favorisieren dagegen ein Weltbürgertum. Wie selbst Ballermann-Urlauber zu Weltbürgern werden können, lesen Sie in diesem Interview.

Hamburger Abendblatt: Wer regiert die Welt? Ist es das Geld, sind es die großen Konzerne?

Wiener: Ich würde von verschiedenen Ordnungen sprechen. Es sind fünf: Da ist die politische Ordnung, sie wird durch die Rechtsordnung gestützt, denn ohne Recht kann die Politik keine Sanktionen ausüben. Dann gibt es die Wirtschaftsordnung. Die ist schwer zu bändigen. Dann gibt es die sozial-kulturelle Ordnung, die ist sehr untererforscht. Und wir haben die epistemische Ordnung, die durch das Wissen gestaltet wird. Dieses Zusammenwirken wäre eine Grundlage für Formen des Regierens in der Welt.

Und was meinen Sie?

Kotzur: Auch die Juristen würden mit der Idee der Ordnungen arbeiten. Und die Ordnungen werden durch Akteure gesteuert und beherrscht. Die Staaten sind in der internationalen Ordnung noch immer die wichtigsten Akteure. Sie haben sich in den Vereinten Nationen zusammengeschlossen, der berühmtesten internationalen Organisation. Daneben spielen auch Nicht-Regierungsorganisationen und die von Ihnen angesprochenen transnationalen Konzerne eine maßgebliche Rolle. Dazu kommen Kirchen, Lobbygruppen, Gewerkschaften – so vielfältig die Ordnungen sind, so vielfältig sind die Akteure, die die Welt mit regieren. Und deshalb gibt es nicht die eine, zentrale Instanz.

Es sind Menschen, die Macht ausüben. Wer sind diese Menschen?

Wiener: Typischerweise gehen wir an der Universität davon aus, wenn wir versuchen zu erklären, wie Weltregieren funktioniert, dass es aus historischer Perspektive zunächst Beziehungen zwischen Diplomaten gab – meistens männlicher Prägung – sowie Vertretern von Staaten und Regierungen. Im Vergleich zum vergangenen Jahrhundert wird uns gegenwärtig dramatischer bewusst, dass die Vielfalt derer, die regieren wollen und derer, die regieren können, sich häufig nicht überlappt. Dadurch entstehen viele Konflikte.

Sind es die Reichen, die regieren?

Kotzur: Das ist viel zu pauschal gedacht. Natürlich sind die, die finanzielle Mittel haben, auch wirkungsmächtig. Aber es gibt auch viele andere Akteure, die wirkungsmächtig sind – im Extremfall sogar Terroristen. Zudem spielt Meinungs- und Wissensmacht eine große Rolle, zum Beispiel im Internet mit Fake News.

Bedarf es einer einheitlichen Steuerung, damit es kein Chaos gibt?

Wiener: Wir beobachten in den letzten Jahrzehnten eine Betonung von Menschenrechten und Souveränität, von fundamentalen Normen, wie sie in der UN-Charta stehen. Die Schutzverantwortlichkeit ist beispielsweise ein guter Begriff, wo Staaten wissen: Wir müssen ab einem bestimmten Zeitpunkt eingreifen, jedoch die Details entlang bestimmter Kriterien ausdiskutieren. Staaten sind sich ihrer Verantwortlichkeit bewusst, bestimmte Konflikte zu bändigen. Die Handlungsmöglichkeiten unterscheiden sich jedoch kontextbedingt.

Kotzur: Aus völkerrechtlicher Sicht ist die Kooperation ein wichtiges Element. Man braucht Durchsetzung für globale Fragen, aber das kann einer zentralen Weltregierung von oben nach unten nicht gelingen. Da würden die unterschiedlichen Interessen der Staaten und Regionen nicht berücksichtigt. Sehr wohl ist es aber möglich, dass man Kooperation organisiert auf der Basis multilateraler Vertragsregime. Das Pariser Klimaabkommen, Abkommen über Luftverkehr, Flugsicherheit, Welthandel, Sicherheitspolitik sind Beispiele dafür. Es wäre im übrigen naiv zu glauben, dass es eine Art „Weltregierung“ geben könnte, die gegen den Willen der Nationalstaaten etwas durchsetzt.

Wissenschaftler wie Einstein und Habermas haben den Gedanken der Weltregierung favorisiert. Warum könnte ein solcher Gedanke so charmant sein?

Wiener: Der Gedanke ist insofern charmant, als es immer möglich ist, durch theoretische Konstrukte legitime Bezüge herzustellen. Er wird nicht als Utopie vermittelt. Wenn wir beginnen, den Blick über die Grenzen des europäischen Systems hinaus zu richten, dann finden sich – zum Beispiel bei indigenen Völkern – durchaus Grundlagen für eine wie auch immer zu gestaltende Ordnung der Welt auf der Grundlage allgemein akzeptierter Normen.

Könnten auch die indigenen Völker eigene Parteien gründen?

Wiener: Auf der globalen Ebene von Parteien zu sprechen, halte ich für sehr gewagt. Selbst in der EU ist es noch nicht gelungen, transeuropäische Parteikonstellationen zu etablieren, bis auf eine oder zwei, die es jetzt bei der EU-Wahl versuchen.

Wie ist der Begriff der Weltregierung entstanden?

Kotzur: Sie haben die Aufklärung angesprochen und denken an Immanuel Kant. Er hat nicht von einer Weltregierung, sondern von einer Weltrepublik gesprochen. Dabei handelt es sich um einen bundesstaatsähnlichen Zusammenschluss. Das ist eine Idee, die bis heute trägt – mit der Einsicht in die Notwendigkeit, auf Staatenebene zu kooperieren. Das kann aber nur funktionieren, wenn man die Kooperation institutionalisiert. Und wenn man, wie Frau Wiener sagt, diese westlichen Ideen in einen globalen Diskurs mit einbezieht – mit indigenen Völkern genauso wie mit ehemaligen Kolonien. Bei der Ausgestaltung der Kooperation sollten auch diese Akteure ihre jeweiligen Bedürfnisse artikulieren. Regelungen im Umweltschutz sollten zum Beispiel unterschiedliche Entwicklungsgrade der Länder berücksichtigen.

Sie beide halten also Weltregierung für eine Utopie?

Wiener: Von der Regierung zur Bürgerin: Das ist die wichtige Perspektivveränderung. Statt von Weltregierung zu sprechen, ist es sinnvoll, von einer Weltbürgerschaft auszugehen und zu schauen, wie sie auszugestalten ist. Nehmen wir den Brexit aufgrund eines Referendums, das nicht einmal legal bindend war. Nun gibt es von Demokratieforschern die klare Aussage, Demokratie bestehe nicht allein in Wahlen. Dazu brauchen wir Ausbildung, Erziehung, Protestformen, Zugang zum öffentlichen Raum - wenn man Bürgerlichkeit von der Praxis aus denkt, dann kann man auch Weltbürgerlichkeit ausgestalten.

Wer steuert die Bürgerschaft, die Bürger selbst?

Wiener: Das ist interessant, dass Sie das sagen. Ich bin sehr lange im angelsächsischen Ausland unterwegs gewesen. In Deutschland fällt auf: Hier wird als Erstes nach Steuerung gefragt.

Ich habe gerade systemtheoretisch gedacht.

Wiener: Da höre ich schon auf – als Pluralistin (lacht). Ich würde sagen: Es kann der Fehler im System liegen. Durch den Pluralismus – die Globalen Internationalen Beziehungen sprechen vom universellen Pluralismus – ergeben sich neue Handlungsräume und ein unverstellterer Blick auf das Detail.

Noch einmal: Warum ist eine Weltregierung eine Utopie?

Kotzur: Sie ist eine Dystopie. Weil es keine Zentralregierung geben kann, die den Bedürfnissen der unterschiedlichsten Menschen in den unterschiedlichsten Regionen Rechnung trägt. Wir fühlen uns ja manchmal schon Brüssel ausgeliefert. Wenn wir jetzt irgendwo eine Weltregierung hätten, die nicht unserer Sprache spricht und nicht unserem Kulturkreis angehört, dann würden wir ihr nicht zutrauen, unsere Interessen in Deutschland oder gar in Hamburg verantwortungsvoll wahrzunehmen. Was wir brauchen, ist ein Weltbürgertum ohne Weltstaat.

Was ist das – ein Weltbürgertum?

Kotzur: Damit meine ich nicht den Jetset und die schicken Kosmopoliten. Das Weltbürgertum, über das wir nachdenken, kann bei dem Bürger vor Ort ausgehen, die ihr Heimatdorf nie verlassen werden – wie Immanuel Kant in Königsberg. Es sind Menschen, die globale politische Themen ernst nehmen und sich engagieren. Ich kann auch in einem kleinen bayerischen Dorf bei einem Feuerwehrfest über Genmais und Klimawandel diskutieren.

Das Abendblatt-Motto lautet seit der Gründung der Zeitung: Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen.

Kotzur: Absolut, das würde ich genauso sehen. Das ist meine Idee des Weltbürgertums.

Was zeichnet Weltbürger aus?

Wiener: Weltbürger/-innen sind sicherlich jene, die weltweit gereist sind. Da hat Hamburg sehr viele, allein durch die Reedereien und den Hafen. Es gibt ein wunderbares Beispiel der Rickmers-Familie: Sie setzt ihr Vermögen ein, um sozialkulturelle Grundlagen die Demokratie zu erforschen, und zwar an vier verschiedenen Orten der Welt. Das ist ein Beispiel von Weltbürgertum, Philanthropismus. Oder nehmen wir die Universität und die Internationalisierung: Ich betreue vornehmlich ausländische Doktorandinnen. Sie schreiben mich z. B. aus Brasilien an, weil sie bei mir promovieren möchten. Das ist auch eine Form von Weltbürgertum.

Prof. Kotzur, sind Sie ein Weltbürger?

Kotzur: Ich hoffe, dass ich diesem Anspruch hin und wieder gerecht werden kann.

Kann ein Mallorca-Urlauber, der den Ballermann besucht, Weltbürger sein?

Kotzur: Dadurch, dass er da hinfährt, wird es nicht zum Weltbürger. Aber wenn er sich für Dinge interessiert, die die Welt angehen, kann er zum Weltbürger werden. Auch wenn er sich überlegt, wie er ökologisch sinnvoll zum Ballermann kommt. Denken wir an Fridays for future: Es ist ein wunderbares Zeugnis, dass sich junge Leute für ihre Zukunft engagieren. Das sind wirklich die ganz normalen Bürger/-innen von unten, in einem Alter, wo sie noch nicht einmal zur Wahl gehen können. Das ist für mich ein weltbürgerliches Aktivwerden.

Besteht nicht die Gefahr, dass Terroristen eine Weltdiktatur errichten?

Kotzur: Die Gefahr besteht sicher. Der Islamische Staat will genau das. Aber ich bin relativ optimistisch, dass ihm das nicht gelingen wird, weil Kräfte dagegen halten. Deshalb haben wir Sicherheitspolitik und Geheimdienste. Die Weltbürger/-innen werden das nicht einfach so hinnehmen. So wie es den „Weltstaat“ nicht geben kann wird es auch den „Welt-Terrorstaat“ nicht geben, weil es zu viele Widerstände und Korrekturmechanismen geben wird.

Wiener: Wenn wir von Diktaturen sprechen, brauchen wir gar nicht weit zu schauen. Wir sind auf deutschem Boden Teil einer Diktatur gewesen. Und wir sehen gerade in den Vereinigten Staaten Präsident Trumps fortwährende Aushebelung demokratischer und diplomatischer Institutionen. Das gleicht bedenklich Formen diktatorischer Herrschaft, vor denen lange gewarnt wurde.

Trump baut eine Diktatur auf?

Wiener: Der Mann ist nicht als Demokrat ins Weiße Haus eingezogen. America First: Er hat sich aus institutionalisierten Kooperationen der Weltgemeinschaft zurückgezogen. Er hat einem Gremium nach dem anderen das Gleichgewicht der Kräfte entzogen.

Kotzur: Trump glaubt nicht an starke Institutionen, die sich in Balance halten. Die Formulierung, er baue eine Diktatur auf, ist natürlich provozierend formuliert. Aber seine auf Autorität bauenden müssen wir uns genau ansehen. Wir brauchen international starke Institutionen.

Welche?

Kotzur: Auf regionaler Ebene brauchen wir die Europäische Union, den Europarat mit der Menschenrechtskonvention. Wir brauchen das Pariser Klimaabkommen und an der Spitze von allen die Vereinten Nationen, auch wenn da vieles nicht funktioniert. Und wir brauchen auch die Welthandelsorganisation, die WTO, und Freihandelsabkommen. Auch Kirchen und Religionsgemeinschaften spielen eine Rolle, Gewerkschaften und NGOs. Selbst wenn es Vorwürfe gibt, diese Institutionen seien schwerfällig und bürokratisch – wir brauchen sie, weil sie unsere Freiheit zu sichern helfen. Und die Vereinten Nationen sind ein Forum, Weltbürgern eine Stimme zu geben.

Welche Werte sollten den Rahmen bilden?

Wiener: Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Souveränität von Staaten – das sind Fundamentalnormen, die wichtig sind. Die Frage ist, ob der Staat die Hauptorganisationsform ist. Sehen Sie sich die Kurdenfrage an: hier erstreckt sich eine Nation über mehrere Staatsgrenzen. Wichtig sind regionale Organisationen. Es gibt in Asien, Afrika, Lateinamerika Bestrebungen, nach dem Vorbild der EU Zusammenschlüsse zu organisieren.

In der nächsten Folge am kommenden Sonnabend wird es um diese Frage gehen: Welche Rechte haben Kinder?