Hamburg. Mit allen Sinnen die Natur zu genießen – das vermittelt Angela von der Geest in ihrem Kursen am Höltigbaum.
„Ich glaube, ich kann kein Baum sein“, denke ich, als ich mit dem Rücken an einen Stamm gelehnt auf dem Waldboden sitze. Meine Augen sind geschlossen. Mein Auftrag: Ich soll mir vorstellen, dass ich der Baum bin, wie ich herangewachsen bin, wie aus einer kleinen Spitze, die aus dem Erdboden ragte, ein mächtiger Stamm geworden bin. Einer, der trotz Wind und Wetter standhaft geblieben ist. Also versuche ich es. Doch meine Gedanken landen auf Einkaufszetteln, wandeln durch meinen Terminkalender, führen ein Eigenleben.
Aber wenn ich Naturpädagogin Angela von der Geest richtig verstanden habe, ist Meditation auch eher nichts, was man in zehn Minuten lernt. Und darüber hinaus ist es auch nicht der einzige Punkt beim sogenannten Waldbaden, das die 53-Jährige seit knapp zwei Jahren im Naturschutzgebiet Höltigbaum anbietet.
Waldbaden, um sich zu finden, um abzuschalten
Das „Waldbaden“ kommt ursprünglich aus Asien, hatte sie vorhin erzählt. Von der Geest war für ihr Japanologie-Studium früher oft in Japan und hat das Waldbaden direkt vor Ort gelernt. „Dabei geht es darum, den Wald mit allen Sinnen wahrzunehmen, zu sich zu finden, abzuschalten, zur Ruhe zu kommen.“ Was sich mir nicht erschließt: Wieso kann ich nicht einfach allein in den Wald und mich entspannen? Von der Geest sagt: „Im Idealfall macht man das Waldbaden tatsächlich für sich allein. Aber viele Menschen brauchen eine Art Anleitung, um das Loslassen zu lernen und sich auf etwas Neues einzulassen.“ Okay, und warum heißt das ganze Waldbaden? „Lassen Sie sich überraschen“, sagt die 53-jährige Hamburgerin erwartungsfroh.
Und so war mein erstes Waldbaden – um beim Bild des Badens zu bleiben – ein Sprung ins kalte Wasser.
Angela von der Geest beginnt ihre Waldbaden-Kurse in der Regel auf einer Wiese ein paar Meter vom Haus der Wilden Weiden entfernt. Übung eins: stretchen, dehnen, tief ein- und ausatmen. Bis hierhin könnte es auch das Warm-up eines Pilates-Kurses sein. Aber dann geht es weiter in den Wald hinein. Wir gehen so lange, bis wir zu einer kleinen Lichtung kommen, wo Aufgabe zwei wartet: auf eigene Faust losziehen und den Wald mit allen Sinnen entdecken.
Es riecht, wie es riecht: nach feuchten Blättern
Auf den ersten Metern meiner kleinen Wanderung weiß ich nicht so recht, was ich machen soll. Um irgendwas zu tun, fahre ich mit meinen Schuhen durch das Laub, höre, wie es knistert und raschelt. Und dann nehme ich eine Handvoll Blätter hoch und schnuppere daran. Es riecht, wie es nun mal riecht, und das ist wenig überraschend: eben nach etwas Blättern und feuchter Erde. Im Grunde ziemlich banal. Aber eigentlich, und das ist dann irgendwie doch überraschend, riecht es nach Kindheit. Denn etwa so lange dürfte es her sein, dass ich in Blättern und Erde gewühlt habe.
Je länger ich unterwegs bin, desto mehr fällt mir auf. Ich sehe kleine Mooswiesen, die das untere Ende mancher Bäume bedecken wie ein Rollrasen. Ich rieche an Blättern und Blumen, streiche mit meiner Hand über Baumstämme, hebe Steine auf, abgefallene Baumrindenstücke, ich werfe Laub hoch, nehme Stöcker in die Hand und höre, wie es klingt, wenn ich mit ihnen gegen einen Baum schlage. Auch das ist banal. Aber es ist gut.
Jedenfalls habe ich plötzlich eine Ahnung davon, warum Zweijährige für eine Strecke von 100 Metern locker 30 Minuten brauchen können. Als ich wieder zur Lichtung zurückkomme, wartet Angela von der Geest schon auf mich – dieses Mal barfuß. Auch ich soll mir nun Schuhe und Socken ausziehen und mal ein paar Meter über den Waldboden gehen. Über Äste und Steine und Blätter, der Boden ist weich und lehmig. War da nicht irgendwas mit Reflexzonen an den Füßen? Kneipp-Wandern und so? Aber im Grunde ist es egal: Es ist angenehm. Ein bisschen wie Wattwandern – und da muss man ja auch nicht erklären, warum man ohne Schuhwerk durch glitschigen Matschboden watet.
Das Picknick ist ein kleiner Gruß aus dem Wald
Nach dem Barfuß-Ausflug lädt von der Geest zu einem Picknick, man könnte auch sagen: ein kleiner Gruß aus dem Wald. Zu selbst gebackenen Brötchen gibt es Butter mit Wildkräutern, Löwenzahngelee und Minz- und Brennnesselwasser. Eine kleine Stärkung vor der nächsten großen Aufgabe: der Meditation. Doch allein das Wort Meditation reicht aus, um mich nervös zu machen. Das ist wie beim Yoga: entweder mir ist dabei langweilig, oder ich denke daran, was ich eigentlich gerade erledigen könnte, statt dazusitzen und nichts zu tun. Und daran kann der Wald, so schön er ist, auch nichts ändern.
Und so bin ich froh, als ich nach zehnminütiger Baummeditation wieder die Augen öffnen darf. Schuldbewusst schaue ich zu von der Geest rüber und sage: „Ich konnte leider kein Baum sein.“ Doch das findet von der Geest zum Glück total in Ordnung. „Vielleicht ist dann das da eher was für dich“, sagt sie und weist durch die Bäume hinweg auf eine kleine Lichtung, auf der sie eine Hängematte zwischen zwei Bäumen gespannt hat.
Im Gegensatz zur Meditation habe ich bei Hängematten keine Berührungsängste. Und so schaukel ich einfach hin und her und freue mich über die ganzen Geräusche, die mit Sicherheit schon da waren, als wir mit dem Waldbaden begonnen haben, nur dass ich sie da noch nicht gehört habe. Wie ein neuer Mensch fühle ich mich nicht, es gab auch keine spirituelle Erleuchtung oder so etwas, aber tatsächlich fühle ich mich sehr erholt – man könnte sagen, wie frisch gebadet.