Hamburg. Detlef Garbe leitet seit 30 Jahren die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Lehrer, Pfarrer, Historiker – von allem ist er ein bisschen.

Ganz allein steht der kleine Mann da vorn und singt ein Lied in ukrainischer Sprache. Karl Paiuk ist einer der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Neuengamme. Er war 16 Jahre alt, als er am 13. Januar 1943 in das KZ vor den Toren Hamburgs gebracht wurde. Nun ist er, 76 Jahre später, zur Gedenkfeier anlässlich des Kriegsendes und der Befreiung der Konzentrationslager aus der Ukraine wieder hierhergekommen. Er hat eine kurze Rede gehalten, und dann singt er mit klarer Stimme davon, wie es wäre, Flügel zu haben.

Um einfach davonfliegen zu können, wenn man die Zustände nicht mehr aushält. Rund 200 Gäste sind Anfang Mai zu der Gedenkfeier gekommen, viele von weither. Aus Russland und Dänemark, Frankreich und den Niederlanden. Beinahe andächtig lauschen sie dem Gesang des alten Mannes. Dann gibt es lauten und lang anhaltenden Beifall. Karl Paiuk lächelt und geht zu Detlef Garbe. Die beiden Männer umarmen sich. „Ich bin Menschen wie Detlef Garbe sehr dankbar, weil sie die Erinnerung an die unschuldig Gefallenen erhalten“, hat Karl Paiuk am Ende seiner Rede gesagt. „Mögen sie den Frieden bewahren.“

Kirchliche Jugendarbeit in Northeim

Es war für alle ein weiter Weg bis zu diesem Moment. Für Karl Paiuk, für Detlef Garbe. Und auch für das Land. Detlef Garbe ist Direktor der KZ-Gedenkstätte. Er hat das Amt vor 30 Jahren angetreten. Dass sich diese beiden Männer in gegenseitiger Dankbarkeit umarmen, sagt eine ganze Menge aus über den Zustand des Landes.

Als Detlef Garbe 16 Jahre alt war, ist er das erste Mal „auf das Thema Konzentrationslager“ gestoßen. Er war aktiv in der kirchlichen Jugendarbeit in Northeim, und im Landkreis gab es das ehemalige KZ Moringen. „Wir stöberten also in der Vergangenheit und wollten dann eine Ausstellung organisieren.“ Die jungen Leute trafen mit ihrem Anliegen auf heftigen Widerstand. „Über das KZ wurde damals überhaupt nicht geredet, die meisten Menschen hätten das Thema am liebsten totgeschwiegen. Wir wurden sogar als Nestbeschmutzer beschimpft.“

International anerkanntes Forschungszentrum

Die Republik war Anfang der 1970er-Jahre noch ziemlich weit von der Erkenntnis entfernt, dass Versöhnung nur durch gemeinsames Erinnern möglich ist. Detlef Garbe hat sein ganzes Berufsleben dafür gekämpft. Dabei hatte er nicht vor, einmal eine KZ-Gedenkstätte zu leiten. „Ich wollte erst Lehrer werden.“ Er studierte Theologie und Geschichte in Berlin und Hamburg. „Dann wollte ich Pfarrer werden.“ Studienbegleitend arbeitete er bei verschiedenen Ausstellungsprojekten und Initiativen mit. Lehrer, Pfarrer, schließlich Historiker – ist sein Job vielleicht von allem ein bisschen? Garbe überlegt. „Ja, das kann man vielleicht so sehen.“

Dass aus dem Nestbeschmutzer aber fast 50 Jahre später ein Professor werden würde, war nicht vorstellbar. Zu schwer tat sich das Land mit der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen. Doch nun hat der Hamburger Senat dem 62-Jährigen den Ehrentitel „Professor“ verliehen und damit „seine großen Verdienste um die Erinnerungskultur in Hamburg“ gewürdigt. Garbe habe die KZ-Gedenkstätte Neuengamme zu einem international anerkannten Forschungszentrum, Begegnungs- und Vermittlungsort entwickelt, hieß es in der Begründung. „Mit nahezu unendlichem Engagement hat sich Detlef Garbe um die Erinnerungskultur unserer Stadt verdient gemacht“, sagt Kultursenator Carsten Brosda (SPD).

Lange ein historischer Unort

„Davon bin ich völlig überrascht worden“, sagt Garbe. Der Professoren-Titel sei vor allem auch eine Anerkennung für alle, die mit ihm seit Jahren in der Gedenkstätte zusammenarbeiteten. Gemeinsam hätten sie einen Ort, der am Rande nicht nur der Stadt lag, wieder ins Bewusstsein der Menschen gerückt.

Leicht war das nicht. Das KZ Neuengamme, sagt Garbe, sei lange ein historischer Unort gewesen, den man vergessen machen wollte. Dann erzählt er, dass rund 2000 Schulklassen pro Jahr die Gedenkstätte besuchen. Er erlebe dabei viele Schüler als sehr aufmerksam. „Da sind ganz viele, die sich angesprochen fühlen.“ Jugendliche könnten bei der Begegnung mit diesem Ort sehr konkret eine Ahnung davon bekommen, wie grausam und willkürlich die Verfolgung von Unschuldigen damals gewesen sei. „Die Opfer waren ja oft in ihrem Alter.“ Von den mehr als 100.000 Menschen, die jedes Jahr das ehemalige KZ besuchen – 1987 waren es noch knapp 43.000 Besucher –, sind rund die Hälfte Schüler und junge Erwachsene.

Fülle von Angeboten

Für sie gibt es in der Gedenkstätte eine Fülle von Angeboten. Vier Dauerausstellungen über das KZ, die Lager-SS, die Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion und das Gefängnis, das nach Kriegsende auf dem Gelände errichtet und erst 2007 abgerissen worden ist. Dazu Workshops, wissenschaftliche Kolloquien, kulturelle Veranstaltungen, Studientage, Fortbildungen, internationale Begegnungsprojekte, Begleitung von Besuchergruppen aus dem In- und Ausland, Unterstützung der Bildungsarbeit an Schulen, Forschungsprojekte, ein ständig wachsendes Archiv, Dokumentenrecherche, die Durchführung der Jahrestage der Befreiung und die Sammlung von Berichten von Zeitzeugen.

Die Gedenkstätte sei vor allem auch ein Lernort, sagt Garbe, der 2017 vom Verein für Hamburgische Geschichte für die Erforschung der NS-Geschichte Hamburgs und Norddeutschlands die Lappenberg-Medaille verliehen bekommen hat. „Und diese Orte werden immer wichtiger, je mehr Zeitzeugen verloren gehen.“ Vor 30 Jahren hätten die Zeitzeugen noch eine elementare Bedeutung gespielt. Die Mitarbeiter und viele Ehrenamtliche haben rund 1000 Interviews mit Überlebenden gemacht. Alles festgehalten in Bild und Ton.

Umdeutung von Geschichte

Nach drei Jahrzehnten Arbeiten gegen das Vergessen hatte wohl auch Garbe gedacht, dass es so etwas wie einen Konsens in der Erinnerungskultur des Landes gebe. Seit einigen Jahren aber muss er es ertragen, dass für die Rechtspopulisten die Umdeutung von Geschichte ein zentrales Instrument in der politischen Auseinandersetzung ist.

„Wer die Worte von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 über die Befreiung vom Nationalsozialismus als ,Rede gegen das eigene Volk‘ brandmarkt, eine erinnerungspolitische Wende fordert und völkische Denkweisen vertritt, bereitet einem neuen Nationalismus und der Wiederkehr von Leugnung, Aufrechnung und Relativierung den Weg“, sagt Garbe, der sich wünscht, dass Hamburg seine gewachsene Liberalität und kulturelle Offenheit auch in Zeiten bewahrt, „in denen der Ruf nach Ab- und Ausgrenzung lauter wird“.

„Das Wissen, welchen Wert das Leben hat ...“

Dagegen setzt er das Wissen. Die grausamen Fakten. Von den 100.000 Häftlingen starb mindestens die Hälfte durch die unmenschlichen Lebensbedingungen oder durch Mord. Sie verhungerten, sie starben durch Krankheit, sie wurden erschossen oder erhängt, durch Phenolspritzen oder Zyklon B getötet.

Und er setzt auf die Begegnung. Mit Menschen wie Karl Paiuk. Momente, die auch ihm in seiner Arbeit immer wieder Kraft geben. „Alle Überlebenden eint die Erfahrung, am Abgrund gestanden zu haben. Und das Wissen, welchen Wert das Leben hat.“ Viele empfänden die Befreiung vor 74 Jahren noch heute als zweite Geburt. Manche feierten dieses Datum sogar in jedem Jahr wie einen Geburtstag – trotz ihrer Trauer über die vielen, die nicht überleben konnten.

Neue Bewährungsprobe

„Die Gedenkstätten stehen vor einer neuen Bewährungsprobe“, sagt Detlef Garbe, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten und Mitglied im Expertengremium Gedenkstättenförderung sowie im Beirat der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Gerade weil heute nur noch wenige Überlebende von Verfolgung und Terror aus eigenem Erleben berichten können, komme den Sachzeugen eine große Bedeutung zu.

„Die oftmals von den Überlebenden erkämpften Gedenkstätten gehören zu ihrem Vermächtnis. Sie haben das ,Nie Wieder!‘ in die heutige Zeit übertragen.“ Heute, sagt Garbe, diene die KZ-Gedenkstätte Neuengamme vor allem dazu, den Menschen zu zeigen, wohin Gesellschaften gelangen, in denen Rechtlosigkeit herrscht. „Es ist ein Ort, der uns befähigt zu begreifen, was für ein großes Glück es ist, dass wir in anderen Verhältnissen und in Freiheit leben dürfen.“