Hamburg. Vertreter aus Politik, Kultur und Wirtschaft sprechen im Abendblatt über die Bedeutung des Urnengangs am 26. Mai.

Rund 1,3 Millionen Hamburgerinnen und Hamburger sind laut Landeswahlamt am 26. Mai berechtigt, bei der Wahl zum neuen Europaparlament ihre Stimme abzugeben – rund 2500 davon sind Bürgerinnen und Bürger aus anderen EU-Staaten. 40 Parteien stellen sich in Hamburg zur Wahl. Hamburger Europa-Kandidaten wie Knut Fleckenstein (SPD) und Roland Heintze (CDU) müssen angesichts aktueller Umfragen und ihrer jeweiligen Platzierungen zittern, ob sie es ins Europäische Parlament schaffen. Sicher sein kann sich die Hamburger FDP-Politikerin Svenja Hahn, die auf Platz 2 der FDP-Bundesliste steht.

Bei allen politischen Unterschieden sind sich Politiker, aber auch Vertreter aus Wirtschaft und Kultur einig: Diese Europawahl ist angesichts weltweiter politischer Verwerfungen, bröckelnder Bündnisse und starker rechtspopulistischer Tendenzen von besonderer Bedeutung. Das Abendblatt hat sechs Hamburger Prominente gefragt, was an dieser Wahl aus ihrer Sicht so wichtig ist. jmw

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„Hamburgs Wohlstand beruht auf guten Beziehungen“

Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister (SPD)

„Es gibt vieles, das wir in einem gemeinsamen Europa besser erreichen können: faire Mindestlöhne und Arbeitnehmerrechte, klare Regeln für die Besteuerung internationaler Unternehmen, gute Umweltstandards und Klimaschutz. Die europäische Einigung hat unser Leben freier und vielfältiger gemacht. Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft wurden über frühere Grenzen hinweg gestärkt. Durch eine Teilnahme an der Europawahl können wir auf den künftigen Kurs Einfluss nehmen und den Rückfall in nationale Kleinstaaterei verhindern.

Hamburg ist eine internationale Stadt. Unsere Wirtschaft und unser Wohlstand beruhen seit Jahrhunderten auf guten Beziehungen in alle Kontinente. In einer Welt von mehr als sieben Milliarden Menschen schafft die Europäische Union dafür eine realistische Möglichkeit, gemeinsam Einfluss zu nehmen. Als global relevante Wirtschaftsmacht können wir uns für freien und fairen Handel, Arbeitnehmerrechte, Verbraucherinteressen und Umweltschutz einsetzen, auf Augenhöhe mit den großen transatlantischen und asiatischen Ländern.“

„Unsere Werte stehen zur Abstimmung“

Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin (Grüne)

„Bei der kommenden Europawahl geht es darum, ob wir in Europa zueinander stehen – und wofür wir als Europa in der Welt einstehen. Auf der einen Seite sehen wir allerorten einen aggressiven Nationalismus und Rechtspopulismus, der an Macht gewinnt. Auf der anderen Seite erleben wir aber auch eine steigende Zustimmung zum europä­ischen Projekt. Viele Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte der Gesellschaft erheben ihre Stimme für ein Europa der Offenheit und Mitmenschlichkeit. Das macht mir Mut! Wer die liberalen Demokratien in Europa verteidigen will, muss vor allem beweisen, dass sie die großen Zukunftsaufgaben bewältigen können. Dafür sind mir zwei Punkte besonders wichtig. Erstens brauchen wir eine grünere EU. Der Klimawandel und die Verschmutzung der Meere mit Plastikmüll gefährden heutige und kommende Generationen.

Zweitens wünsche ich mir eine EU der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Dazu brauchen wir mehr gemeinsame Widerstandskraft gegen Cyberattacken von außen auf unsere demokratische Zivilgesellschaft. Und wir brauchen in der Asylpolitik ein stabiles System von Humanität und Ordnung, das unsere europäischen Außengrenzen ebenso wirksam schützt wie das Recht auf ein faires Asylverfahren überall in Europa. Wir in Hamburg profitieren enorm von der Europäischen Union. Das gilt insbesondere für mein Herzensanliegen – die Wissensmetropole. Weltoffenheit und Zusammenarbeit sind tief in der Geschichte und Mentalität unserer Stadt verwurzelt. Ohne sie wäre Hamburg nicht Hamburg. Die Werte, die bei der Europawahl zur Abstimmung stehen, sind also unsere eigenen Werte. Und es liegt an uns allen, sie zu verteidigen.“

„Nationalismus hat Europa in Schutt und Asche gelegt“

Joachim Lux, Intendant des THALIA Theaters

„Die lange belächelten Europawahlen sind mittlerweile wichtiger als die zum Deutschen Bundestag. Warum? Weil wir die Legitimität von Europa stärken müssen. Aufwachen ist die Losung. Aber ist Europa mehr als ein Bürokratieapparat, mehr als eine abstrakte Größe, sogar liebenswert? Ich denke: ja. Europa steht für eine grandiose Kultur- Wissenschafts- und Zivilisationsgeschichte. Diese Geschichte war immer multilateral, international, weltbürgerlich und rhizomatisch das Nationale überwindend. Mehr noch: Europa hat die besten politischen Utopien hervorgebracht und in die Welt exportiert. Es gibt bis heute keine besseren als die der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Aber: Europa steht zugleich für eine ungeheure Blutspur. Europa ist Athen, Rom, Paris, Wien, Berlin oder London, aber auch Coventry, Stalingrad und Dresden. Hinzu kommen Orte von Massakern an indigenen Bevölkerungen in Afrika, Nord- und Südamerika. Die heutige europäische Idee ist deshalb keine triumphale, sondern eine demütige: ,Nie wieder Krieg‘ ist die kleine, große und vertrackte Losung der europäischen Gründungsväter. Der Nationalismus hat unseren Kontinent in Schutt und Asche gelegt. Diese Lektion haben wir gelernt und mit Blut bezahlt. Es gibt keinen vernünftigen Grund, daran wieder anzuknüpfen.“

„Es geht um die Zukunft eines Kontinents“

Marcus Weinberg, CDU-Spitzenkandidat Bürgerschaftswahl

„Ja, dieses kulturell liebenswert zusammengewachsene Europa kann politisch anstrengend sein. Aber genau dieses Europa ist das Einzige, in dem ich leben will. Ja, auch mich nervt vieles. Doch Frieden, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Demokratie stehen für die „Adenauerische“ Formulierung der Einheit Europas, die als Traum von Wenigen angefangen hat, die zur Hoffnung vieler wurde, und heute die Notwendigkeit für uns alle ist. Diese „schöpferische Völkergemeinschaft“ steht zwar (noch) nicht zur Disposition, aber Nationalisten und Chauvinisten lauern schon auf den Beginn des Abgesanges nach einem ,abstrafenden Ergebnis‘ am historischen 26. Mai. Und in China, den USA und anderswo wird man Signale verstehen. Nix da! Nicht mit uns! Man muss wissen, wann man über Fußnoten abstimmt und wann über die Zukunft eines Kontinents.

Und Hamburg kennt die Folgen von Weltkriegen, die Nationen gegeneinander führten, und Hamburg weiß um die Frostigkeit eines geteilten Europas in gerade einmal dreißig Kilometern Entfernung. Deswegen ist diese Europawahl so wichtig, ist sie ein Bekenntnis zum Grundsätzlichen. Deswegen müssen auch die Hamburger sich erklären, für dieses Europa, welches wir gemeinsam verändern, ja verbessern wollen. Es muss ein verbindendes Zeichen eines europä­ischen Charakters bei der Europawahl geben – gerade auch aus Hamburg!“

„Wir brauchen eine EU der sozialen Gerechtigkeit“

Katja Karger, Hamburger DGB- Vorsitzende

„Wenn es die Europäische Union nicht gäbe, müsste man sie erfinden! Deutschland profitiert wirtschaftlich enorm von Europa: Jährlich gehen 60 Prozent unserer Exporte in andere EU-Länder. Europa sichert Beschäftigung. Wenn wir Europäerinnen und Europäer weiterhin eine ernstzunehmende Rolle auf der Weltbühne spielen wollen, können wir das nur mit vereinten Kräften. Aber gerade weil wir Europa so sehr brauchen, dürfen wir es nicht einfach schönreden. Schon seit Jahren leidet die EU unter einer schweren marktliberalen Schlagseite, die durch Deregulierung und den systematischen Abbau von Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzstandards geprägt ist. Zur Bewältigung der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise hat sie einseitig auf die verfehlte Politik brutaler Sparauflagen gesetzt.

Und die Folge? Für immer mehr Menschen steht die heutige EU nicht für ein Europa, das sie schützt und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgt. Das muss sich ändern. Die Europawahlen sind ein Mittel dazu. Jede Stimme, die nicht abgegeben wird, geht auf das Konto der Populisten und Europafeinde. Ja, wir müssen kritisieren – aber nicht boykottieren. Wir brauchen eine Kehrtwende hin zu einer EU, die sozialen Rechten den Vorrang vor Marktfreiheiten gibt; die Kehrtwende hin zu einer EU, die nicht länger Vorreiter eines neoliberalen Marktradikalismus ist, sondern Vorbild für eine faire Globalisierung.“

„Binnenmarkt ist für Hamburg von großer Bedeutung“

André Mücke, Vizepräses der Handelskammer Hamburg

„Die EU und der damit verbundene Binnenmarkt haben für unsere Hansestadt und unsere offene, außenhandelsorientierte Hamburger Wirtschaft eine besonders große Bedeutung. Die aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen, wie beispielsweise die globalen Handelskonflikte, zeigen uns die Notwendigkeit einer starken EU. Nur gemeinsam mit den anderen Mitgliedsstaaten können wir auch in Zukunft weltweit mit einer starken Stimme sprechen und auf Augenhöhe agieren. Ein funktionierender europäischer Binnenmarkt, als größter Wirtschaftsraum der Welt, ist die Voraussetzung dafür, dass uns das bei internationalen Wirtschaftsthemen gelingt.

Aber natürlich müssen wir die EU und den Binnenmarkt auch weiterentwickeln: Zum Beispiel mit einheitlichen Standards und bürokratischen Erleichterungen, um die Leistungsfähigkeit europäischer Unternehmen im globalen Wettbewerb zu verbessern. Außerdem müssen wir die Digitalisierung vorantreiben. Dafür brauchen wir schnellstens geeignete Rahmenbedingungen, die den Ausbau hochleistungsfähiger Breitbandnetze ermöglichen. Es liegen einige Aufgaben vor uns, und dafür brauchen wir ein auf breiter Basis demokratisch gewähltes Europäisches Parlament. Deshalb: Gehen Sie am 26. Mai wählen und helfen mit Ihrer Stimme dabei, Europa gemeinsam zu gestalten!“