Hamburg. Streit mit Schulbehörde. Auch Pädagogen wehren sich gegen neue Bestimmungen für betroffene Kinder: “Exklusion statt Inklusion“.

Der Brief an die Schulbehörde (BSB) beginnt mit drei Wörtern: „Wir sind fassungslos“, schreiben Stefan Renz, Vorsitzender des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg, und Burkhard Püst vom Arbeitskreis Hamburger Neuropädiater. Grund für diese Fassungslosigkeit ist ein in Deutschland „einmaliges Vorgehen: Seit Februar wird in den Hamburger Schulen Kindern mit Epilepsien die Teilnahme am Schwimmunterricht verweigert. Pauschal, ohne medizinische oder juristische Begründung, ohne Anlass“.

Renz und Püst beziehen sich auf ein Schreiben der Schulbehörde, über das das Hamburger Abendblatt vor wenigen Wochen berichtet hatte. Darin steht, dass alle Jungen und Mädchen, die an Epilepsie erkrankt sind, nur am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen, wenn sie eine Unbedenklichkeitserklärung eines Mediziners vorweisen können. Wörtlich heißt es: „Eine Teilnahme am Schwimmunterricht für Schülerinnen und Schüler mit Epilepsie darf nur bei Vorlage einer ärztlichen Unbedenklichkeitserklärung erfolgen. Die alleinige Feststellung einer zweijährigen Anfallsfreiheit reicht nicht aus.“

Kinder vom Schwimmunterricht ausgeschlossen

Die Schulbehörde hatte Ende März auf Anfrage des Hamburger Abendblatts erklärt, es handele sich bei dem Schreiben um Auszüge aus einem internen Protokoll, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sei und zudem den Zusammenhang verzerrt darstelle. „Kein Kind soll vom Schwimmen ausgeschlossen werden“, sagte Behördensprecher Michael Reichmann damals.

Nach den Erkenntnissen der Hamburger Kinderärzte ist nun aber das Gegenteil der Fall. „Täglich hören wir von Patienten anderes: Alle Kinder mit Epilepsien dürfen nicht mehr teilnehmen. Das ist Exklusion, nicht Inklusion“, heißt es in dem Brief an die Schulbehörde.

In Bayern dürfe ein Kind nach dreimonatiger Anfallsfreiheit wieder mitschwimmen, in Hamburg nicht einmal nach zwei Jahren. Die Bäderland Hamburg GmbH fordere in ihrer Hausordnung lediglich „eine geeignete Begleitung … für Personen mit … Krampfanfällen: „Wenn diese Auflage erfüllt ist, dürfen die Kinder dort ins Wasser – ohne weitere Vorgaben.“ Renz und Püst fordern die Schulbehörde deshalb auf, „diese fragwürdige und mit keinem medizinischen Fachverband abgesprochene Regelung aufzuheben“.

Förderschulen schreiben an Schulbehörde

Das ist nicht der einzige Brief, der bei der Behörde zu dem Thema eingegangen ist oder eingehen wird. Auch die Schulleiter der vier Förderschulen in Hamburg (Kurt-Juster-Schule, Tegelweg, Hirtenweg, Elfenwiese) haben sich bereits mit einem gemeinsamen Schreiben an die Behörde gewandt. Dort heißt es: „Es liegen seit November 2018 aktuelle Aufforderungen für das ,Schwimmen für Schüler*innen mit Epilepsie‘ der BSB vor, die in allen speziellen Schulen unbedingt und ab sofort umgesetzt werden sollen und den Charakter einer Dienstanweisung haben.“

Weiter heißt es dort: „Zurzeit ist das Schwimmen für die betroffenen Schüler weitestgehend ausgesetzt! Die Schwimmpläne werden in jedem Einzelfall überprüft, um die Schüler*innen zu ermitteln, auf die die neuen Auflagen zutreffen und welche Klärung noch erfolgen muss, bevor sie wieder am Schwimmen teilnehmen können.“

Die Schulleiter zitieren in ihrem Schreiben Mediziner wie Püst, die sich ausdrücklich für das Schwimmen von Epileptikern einsetzen. Zum Schluss heißt es: „Wir bitten dringend um eine fachlich fundierte Verordnung, die für das Schwimmen in Therapiebecken und Kaltwasserschwimmen der Sonderschulen und Inklusionsschulen Handlungs- und Rechtssicherheit bietet.“

Schulleitung wendet sich an Eltern

Von der neuen Regelung betroffen ist auch Martin Winter. Der 13-Jährige nimmt seit Jahren am Schwimmunterricht der Kurt-Juster-Schule, einer Schule für Kinder mit körperlicher Behinderung, teil. „Unser Sohn hat so eine große Freude im Wasser“, sagt Luisa Winter (Namen geändert). Hier fühle er sich wohl. Hier bewege er sich so frei. „Er hat sich im Urlaub sogar selbst das Schwimmen und Tauchen beigebracht.“ Das sei etwas ganz Besonderes, sagt Winter. Martin ist Autist, kann nicht sprechen. „Nun hieß es in der Schule vor einigen Wochen plötzlich, die Kinder brauchen ihre Schwimmsachen nicht mehr mitzubringen. Sie dürften nicht mehr ins Wasser.“ Betroffen waren alle Kinder, die epileptische Anfälle gehabt haben. „Wenig später folgte dann eine Anweisung der Schulleitung“, so Winter weiter.

In der heißt es: „Liebe Eltern, leider muss ich Ihnen heute eine Mitteilung zum allgemeinen Schwimmen in der Schulzeit machen, das besonders Ihr Kind betrifft. Denn es geht um die Kinder, die epileptische Anfälle haben. Es bestehen zurzeit Unstimmigkeiten über die Sicherheitsstandards für den Schwimmunterricht und das therapeutische Schwimmen zwischen der Behörde und den Schulen.“ Nun müsse erst einmal geklärt werden, wie der Unterricht in Zukunft aussehen soll. Und weiter: „Da wir als Schule keinerlei Risiko eingehen möchten und so schnell die Bedingungen ohne Ihre Mithilfe nicht umsetzen können, wird Ihr Kind zunächst befristet nicht schwimmen. Wir bedauern dies sehr, denn gerade das Schwimmen ist für ALLE mit so vielen schönen Erlebnissen verbunden.“

Hohes Risiko für Mediziner

Winter ist betroffen. „Jedes Kind hat ja seine spezielle Vorliebe“, sagt sie. „Und die von Martin war eindeutig das Schwimmen. Das wurde ihm jetzt ohne ersichtlichen Grund einfach genommen.“ Ja, ihr Sohn habe epileptische Anfälle. „Aber nur ab und an. Und dann in den Abendstunden oder in der Nacht.“ Bisher sei das nie ein Problem gewesen. „Die Kinder wurden beim Schwimmen fast eins zu eins betreut. Meines Erachtens bestand nie eine Gefahr.“

Ein ärztliches Attest, wie gefordert, habe sie noch nicht besorgt. „Ich finde es unverantwortlich, diese Entscheidung einem Mediziner aufzudrücken“, sagt Winter, die als Anwältin durchaus weiß, welches Risiko jeder Kinderarzt auf sich nehmen soll. „Denn er muss sich ja auf meine Erzählungen verlassen. Gerade deshalb finde ich es so absurd, was die Behörde gerade von Eltern, Schulen und Ärzten fordert.“

Was bleibt, ist die Frage, warum die Behörde dem Abendblatt gegenüber behauptete, es gebe keine neue Regelung für Kinder mit Epilepsie. Und warum eine Regelung, die angeblich nur ein Vermerk aus einem Protokoll ist, offensichtlich an den Schulen umgesetzt wird.