Hamburg. Seit Sonntagmorgen fließt der Verkehr durch den neuen Lärmschutztunnel. Ein Meilenstein bei der Wundheilung des Quartiers.
Stellingen, Sonntagmorgen, 7.30 Uhr: Ein Verkehrsstaatsrat auf Heimatbesuch. „Hier, am Nienredder 5a, bin ich groß geworden“, sagt Andreas Rieckhof, bekleidet mit formschöner Warnweste und Baustellenhelm. „Direkt neben der Autobahn, nur damals noch ohne Lärmschutz.“ Womit er seine eigentliche Mission an diesem eiskalten 15. April geschickt eingeleitet hätte. Denn Rieckhof möchte mit Anwohnern die Verbannung des Autobahnverkehrs unter den „Stellinger Deckel“ feiern – und damit eine historische Ruhe.
Erstmals nach fast 50 Jahren soll das dröhnende Grundrauschen der A7 verschwinden. Vier Tage nach Freigabe der Fahrtrichtung Nord wird auch die Gegenrichtung der ersten fertigen Stellinger Tunnelröhre geöffnet. Es dauert dann allerdings noch eine Viertelstunde, bis „der große Tag für die Anwohner“ hörbar oder, besser: nicht hörbar wird.
Um 7.45 Uhr ist es auf einmal ruhig
Erst um 7.45 Uhr schluckt der neue Deckel die ersten Autos in Richtung Süden – und damit den kompletten Verkehrslärm. Die einkehrende Ruhe bestätigt umgehend die Funktion des 900 Meter langen Lärmschutzbauwerks. Für Anwohner wie Alex Bannes ist es „ein historischer Augenblick“. Denn diese Stille, die sei ungewohnt.
„Wenn Lastwagen vorbeifuhren, haben die Betten geschaukelt und die Gläser im Schrank geklirrt“, erinnert sich auch Hans Schmidt, 81 Jahre alt. Und Anwohner Wolfram Daiber wird noch deutlicher. „Im Garten mussten wir uns manchmal anschreien“, erzählt er. „Die Leute dachten schon, wir streiten uns.“ Doch damit ist nun Schluss.
Bilder der Premiere:
Die Stille nach dem Lärm: In Stellingen ist der Deckel drauf
Der Stadtteil Stellingen erhält mit der Verlegung des Verkehrs in den etwa 300 Millionen Euro teuren Deckel zum einen die Ruhe aus einer Zeit zurück, als es dort noch keine Autobahn gab. Zum anderen ist es ein Meilenstein auf dem Weg zur Wundheilung des gesamten Quartiers. Denn wenn der Deckel mit seiner zweiten Röhre Ende 2020 komplett fertig ist, soll seine Oberfläche begrünt werden: Kleingärten und Park statt Lärm und Abgase. 5,4 Hektar Grün sollen die Ufer der Autobahn miteinander verbinden und die trennende Wirkung der A-7-Schneise vergessen lassen. „In jedem Fall feiern wir heute auch ein Stück Stadtreparatur“, sagt Rieckhof.
Gefeiert wird mit Sekt der Marke „Stellingen sagt Danke“
Mit 48 Meter Breite und künftig zehn Spuren wird der 2016 begonnene Stellinger Deckel als breiteste Autobahnunterführung Europas gehandelt. Bekanntlich ist er Teil der drei Hamburger Deckel, die auf einer Gesamtlänge von 3,7 Kilometern die A7 künftig in Altona, Stellingen und Schnelsen einhausen sollen. Und zwar mit doppeltem Mehrwert: einerseits mit Lärmschutz der Anwohner, dessen milliardenschwere Kosten zum Großteil der Bund übernimmt. Andererseits eröffnen die Deckelbauten der Stadt neue Entwicklungsmöglichkeiten.
In Stellingen sei die Tunneldecke zwar nicht stark genug für den Bau von Häusern. Aber bis an den Rand können angesichts der neuen Ruhe auch neue Wohnungen entstehen. Und für eine kleine Feier, das bewies dieser Sonntag, taugt das Deckeldach schon heute. Kälte hin oder her. Anlässlich der neu gewonnenen Stille reichen die durchweg erfreuten Anwohner nämlich erst mal Sekt. Marke: „Stellingen sagt Danke“.
„Jetzt beginnt endlich ein Leben ohne Autobahnblues“, erklärt dann Ernst Günther Josefowsky, Anwohner seit 1963 und Gründer der Bürgerinitiative Stellinger Deckel. Bis zu 160.000 Fahrzeuge täglich hätten bei vielen Nachbarn nicht nur für ein verlässlich lautes Grundrauschen gesorgt, sondern auch gesundheitliche Beeinträchtigungen mit sich gebracht. Umso erleichterter zeigen sich am Sonntag alle, die seit nunmehr 14 Jahren für den Deckel kämpfen. Das „Brummen im Ohr“ ist jetzt verschwunden, sagt Anwohner Josefowsky.
Lärmschutzwände reichten nicht
Zuvor hatte er im Namen der Anwohner schon den Politikern gedankt, die sich für das Projekt stark gemacht haben – allen voran Axel Gedaschko, dem 2006 als Staatsrat in der Stadtentwicklungsbehörde offenbar viel am Deckel gelegen hat. Zudem sprach Josefowsky von einem vernünftigen Interessenausgleich mit den Anwohnern. Als die ersten Bewohner in den 50er-Jahren nach Stellingen gezogen seien, hätten sie schließlich noch „im Grünen“ gewohnt. Dann kam erst eine zweispurige Umgehungsstraße, weiß Anwohner Daiber, die später zur Autobahn erklärt wurde.
In langen Gerichtsverfahren hätten die Anwohner Lärmschutzwände erstritten, die bald aber auch nicht mehr für das Limit von 65 Dezibel ausreichten. Nun sei das Deckelbauwerk „für ein Minimum von 100 Jahren ausgelegt“, sagt Hamburgs Verkehrskoordinator Christian Merl. Bis zur Fertigstellung müssen sich Autofahrer die erste Tunnelröhre aber noch im Gegenverkehr teilen. Die Autobahnauffahrt Stellingen bleibt in Richtung Hannover bis August geschlossen.
Was bleibt, ist der Lärm der Flugzeuge
Vor der kleinen Deckelfeier waren bei einer nächtlichen Vollsperrung die letzten Umbauarbeiten innerhalb des Tunnels erledigt worden. Außerhalb wird vorerst noch der Baulärm für die zweite Röhre bleiben – und bei den Windbedingungen vom Sonntag auch der Fluglärm. Denn während die Anwohner mit Planern und Ingenieuren der Projektgesellschaft Deges sowie Heimatrückkehrer Andreas Rieckhof (Abitur am nahen Albrecht-Thaer-Gymnasium) anstoßen, landen die Flugzeuge im Minutentakt.
„Dafür müsste es auch noch einen Tunnel geben“, sagt Anwohner Alex Bannes. „Aber fürs Erste reicht es uns auch, dass wir wieder ruhig schlafen können.“ Allein das sei in Stellingen schon „etwas Besonderes“.