Hamburg. 100 große Fragen des Lebens: Heute erklären Experten im Abendblatt, wie man Abhängigkeit erkennt und behandelt.
Welche Rolle spielen „klassische“ Drogen noch? Brauchen wir Auszeiten von Smartphones? Warum verteuert der Gesetzgeber ungesunde Lebensmittel nicht? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Suchtforscher Dr. Rainer Thomasius und Betriebswirt Dr. Tobias Effertz.
Hamburger Abendblatt: Herr Effertz, Herr Thomasius, gibt es ein persönliches Laster, etwas, das Sie süchtig macht?
Rainer Thomasius: Süchtig bin ich mit Sicherheit nicht. Dann hätte ich mich nicht mehr als 33 Jahre beruflich mit süchtigen Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen beschäftigen können. Aber: Ich habe früher geraucht. Von daher weiß ich, was Suchtverlangen und Entzugssymptome sind.
Tobias Effertz: Ich würde auch nicht von Süchten sprechen. Aber ich kann mich schon sehr stark für Dinge begeistern.
Was ist das überhaupt, Sucht?
Thomasius: Aus klinischer Sicht ist Sucht der Kontrollverlust gegenüber einem regulierten Gebrauch psychotroper Substanzen – häufig in Verbindung mit Entzugssymptomen, die auftreten, wenn die Substanz nicht mehr zugeführt wird. Hinzu kommt eine Toleranzentwicklung: Es muss also immer mehr des Mittels konsumiert werden, um gleichbleibend Rauscheffekte zu erzielen.
Effertz: Wir Ökonomen erklären menschliches Verhalten mit dem „Rational-Modell“. Vernünftiges Handeln soll nach Abwägung von Kosten und Nutzen erfolgen. Wenn Sie eine sehr starke Präferenz für ein Gut haben, wenn Sie sich immer wieder trotz Alternativen dafür entscheiden, wenn aber trotzdem der damit verbundene Missnutzen immer stärker und es richtig schlimm wird, dann sprechen wir von Sucht.
Thomasius: Eine häufige Ursache von Sucht sind depressive Störungen oder Emotionsregulationsstörungen. Oft wird zu viel Alkohol oder Cannabis konsumiert oder Glücksspiel betrieben, um antidepressive Effekte zu erzielen. Das Suchtmittel wird als Bewältigungsstrategie eingesetzt. Das Fatale ist, dass dann ein zusätzlicher Schaden entsteht – neben der depressiven Grundstörung.
Ist schon süchtig, wer jeden Tag ein Glas Wein trinkt?
Thomasius: Wir würden das aus klinischer Perspektive als einen riskanten Alkoholgebrauch bezeichnen. Das passiert in Deutschland viel zu häufig. Etwa 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung und 15 Prozent der Jugendlichen weisen dieses Konsummuster auf.
Ein anderes Beispiel: Ist eine tägliche Tafel Schokolade zu essen schon eine Sucht?
Effertz: Wir sprechen hier von Gewohnheiten, habituellen Mustern. Ein Zeichen der Sucht ist, dass Sie den Konsum steigern müssen und eine Veränderung zum Schlechteren, auch zu ökonomischen Schäden, eintritt. Das unterscheidet sich also: Das Glas Wein am Abend ist eher etwas Habituelles, das man auch, wenn auch ungern, unterbrechen könnte.
Thomasius: Ich warne, den Suchtbegriff zu weit auszudehnen und auf Gewohnheiten zu übertragen, so würde das Krankhafte an der Sucht verwässert. Wir haben in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen sehr klar definiert, was unter Sucht verstanden wird. Davon ist die Gewohnheit weit entfernt.
Sprechen wir über Kinder, die auf einem Weg in die Abhängigkeit sind – es aber noch nicht sind. Was können Eltern tun?
Thomasius: Es gibt zwei große Probleme: Zum einen fehlt es an elterlicher Anleitung. Jugendliche werden viel zu früh sich selbst überlassen. Beispielsweise, wenn es darum geht, wie viel Zeit das Kind im Internet verbringen darf. Welche Foren darf es aufsuchen, welche Spiele spielen? Eltern greifen oft nicht regulierend ein. Das andere Problem ist, dass Eltern sehr tolerant sind beim Konsum von Wein oder Bier. Viel zu wenige haben den Mut, ein No-Go-Paradigma Spirituosen gegenüber auszusprechen. Auch ermutigen viel zu wenige ihre Kinder, vor dem Schulbeginn auf die Handynutzung zu verzichten. Der sehr frühe Zugang zu sozialen Medien und Internet ist eine wesentliche Risikobedingung für schädliche Verhaltensweisen.
Sind Eltern also zu liberal?
Thomasius: In Bezug auf Cannabis kann ich das auf jeden Fall bestätigen. Der Anteil Cannabis konsumierender Eltern unter den abhängigen Jugendlichen in unserer Behandlung wird immer größer. Die Botschaft der Eltern an ihre Kinder lautet: Es ist nicht so schlimm.
Effertz: Wenn Sie ein Kind haben, das auf dem Weg in die Sucht ist, müssen Sie auch aus ökonomischer Sicht auf es einwirken. Es ist in Deutschland viel zu billig und zu einfach, Süchte zu befriedigen. Denken Sie an die im europäischen Vergleich sehr günstigen Bierpreise. Oder an die viel zu billigen, ungesunden Lebensmittel. Man muss den Eltern, die es selbst nicht schaffen, helfen, gerade denen aus schwierigen sozialen Verhältnissen – und Suchtgüter teuer machen.
Stichwort: Smartphone. Was sollten Eltern tun, um Kinder zu disziplinieren?
Thomasius: 70 Prozent der Eltern machen keine Vorgaben hinsichtlich der örtlichen Nutzung der Medien. 50 Prozent geben auch keine zeitliche Begrenzung vor. Ein Drittel der Eltern macht überhaupt keine Vorgaben, was das Kind im Internet darf. Wir müssen Eltern ermutigen, sehr viel stärker in die Aufsicht hineinzugehen. Unsere Studien zeigen: Umso schlechter der Bildungsstatus der Jugendlichen, desto größer der Anteil alleinerziehender Mütter, desto exzessiver ist das Nutzungsverhalten und desto größer die Gefahr, dass sich bei den Jungen eine Computerspielstörung herausbildet und bei den Mädchen eine exzessive Nutzung sozialer Netzwerke.
Inzwischen haben Eltern vielfach die gleichen Probleme. Statt sich abends zu unterhalten, sitzen sie mit dem Smartphone auf der Couch, spielen, surfen, checken Nachrichten. Hilft es, sich Offline-Zeiten zu verordnen ähnlich einer alkoholfreien Phase?
Thomasius: In vielen Familien von Jugendlichen, die wir am UKE behandeln, ist eine so desolate Situation entstanden. Wenn sie wegen Computersucht zu uns in stationäre Behandlung kommen, müssen die Jugendlichen als Erstes das Handy abgeben. Es folgt eine richtige Entzugsbehandlung. In den familientherapeutischen Sitzungen ist das, was Sie gerade angesprochen haben, mitunter der wichtigste Ratschlag an die Eltern: Es müssen medienfreie Zeiten eingeführt werden. Das kann man jeder Familie raten: Gehen Sie einen Tag in der Woche alle gemeinsam offline.
Effertz: Eltern müssen sich in die Lage versetzen, das häusliche WLAN zu kontrollieren und harte Schranken einzuziehen. Zum Beispiel um 22 Uhr das WLAN abschalten. Wir müssen aber auch über Strukturen wie die Schule sprechen. Man könnte hier ein Handyverbot durchsetzen. Hamburg gilt in diesen Punkten aber als sehr liberal.
Es würde auch vielen kinderlosen Paaren guttun, das Smartphone abzuschalten. Stellen Sie fest, dass zunehmend Erwachsene internetsüchtig sind?
Thomasius: Jugendliche sind stärker betroffen. Aber wir beobachten ein zunehmendes Suchtproblem auch bei Erwachsenen. In Deutschland haben immer mehr Rehabilitationskliniken für Menschen mit pathologischem Internetgebrauch eröffnet. Krankenkassen und Rentenversicherungen sind zunehmend bereit, monatelange Therapien zu finanzieren.
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht: Was würden Sie Arbeitgebern empfehlen? Sollen Arbeitnehmer abends eingehende Mails ignorieren oder das Smartphone ausschalten?
Effertz: Man kann das versuchen. Arbeitgeber können die Work-Life-Balance besser steuern und vernünftige Programme umsetzen. Aber vielfach ist es auch so, dass Süchte im Betrieb unter der Oberfläche bleiben.
Thomasius: Die Arbeitsprozesse verdichten sich mehr und mehr, auch an Universitäten. Ein durchschnittlicher Professor erhält am Tag 50 bis 100 E-Mails. Wir können es uns selbst im Urlaub im Grunde genommen nicht mehr leisten, eine Woche lang Mails nicht zu lesen, weil wir sonst nach der Rückkehr einen derartigen Rückstau hätten, dass wir tagelang nichts anderes mehr machen könnten, als vor dem Computer zu sitzen. Ich beneide die Kolleginnen und Kollegen aus Betrieben, die in den Urlaubszeiten der Mitarbeiter alle eingehenden Mails automatisch löschen und obligatorisch den Absender auffordern, sich zum Zeitpunkt X mit dem gleichen Anliegen erneut zu melden.
Welche Rolle spielen „klassische Drogen“ wie Heroin oder Kokain noch?
Thomasius: Cannabis hat den Stellenwert von Opiaten bei Jugendlichen fast vollständig ersetzt. Auch, weil der Rausch durch die Steigerung des THC-Gehalts immer intensiver geworden ist. Wir dokumentieren im Jahr 1600 Behandlungsfälle. 400 davon kommen mit medienbezogenen Süchten, nahezu alle anderen jungen Patienten sind abhängig von Cannabis.
Einen Grund haben wir schon gestreift: Die falsch verstandene Liberalität der Eltern. Woran liegt es noch?
Thomasius: An der Allgegenwärtigkeit. Es gibt viele Schulen, in denen gedealt wird, auch ist die Cannabisprävention in Deutschland grottenschlecht. Es droht zudem, dass diese Substanz legalisiert werden könnte. Damit fiele die Angebotsbegrenzung aufgrund der Illegalität auch noch weg. Die Situation mit Cannabis droht aus dem Ruder zu laufen.
Effertz: Das Angebot droht bei Legalisierung größer zu werden. Das Produkt ist gefährlicher geworden. Bei einer Legalisierung würde der Preis sinken, denn die erwartete Strafe bei einer Kontrolle auf illegale Drogen fiele ja weg. Ein wichtiger Punkt noch: Die aktuellen Strafen auf Drogenbesitz sind in Deutschland unglaublich gering. Ich habe Strafverfolgungsstatistiken der vergangenen Jahre ausgewertet: Die durchschnittliche Strafe, wenn Sie mit Cannabis erwischt werden, liegt bei einer Geldstrafe von 5,20 Euro. Jedes Knöllchen ist teurer.
Sie sind beide eindeutig gegen Coffeeshops nach holländischem Vorbild?
Thomasius: Laut einer Untersuchung über Cannabis und Psychosen könnten in Amsterdam 50 Prozent aller Ersterkrankungen an einer Psychose vermieden werden, wenn das hochprozentige THC nicht frei flottierend auf dem Markt wäre. In Ländern mit legalisierter Abgabe nimmt die Zahl der unter THC verursachten Verkehrsunfälle zu, ebenso die der Cannabis-bezogenen Suizide und Krankenhausaufenthalte. Also: Die sozioökonomischen Folgekosten steigen mit der Legalisierung ganz massiv.
Effertz: Die volkswirtschaftlichen Kosten durch Cannabiskonsum liegen in Deutschland schon jetzt pro Jahr bei etwa einer Milliarde Euro. Bei einer Legalisierung würden Sie zudem einen Motor der Industrie in diesen Produktmarkt setzen. Das heißt, es gäbe ein Marketing, Vertriebsstrukturen, Effekte, die die Preise weiter drücken würden. Es ist naiv zu denken, dass das den Konsum nicht ausweiten würde.
Reden wir über die Droge Nummer 1 – Zucker. Jeder zweite Deutsche gilt als übergewichtig. Zu wenig Bewegung, falsche Ernährung, Stress – was machen wir falsch?
Effertz: Fertigprodukte mit hohem Fett-, Salz- oder Zuckeranteil sind viel zu günstig. Stärker betroffen von dem Problem ist das Klientel in den unteren sozialen Schichten, das sehr preissensibel ist. Hier könnte man mit Preisen gegensteuern.
Herr Effertz, Sie haben eine gesunde Mehrwertsteuer ins Spiel gebracht: keine Steuern auf Obst und Gemüse, statt 7 Prozent dann 19 Prozent Mehrwertsteuer auf Lebensmittel mit einem hohen Fett- oder Zuckeranteil. Warum gibt es das nicht längst?
Effertz: Geld als Anreiz funktioniert, Geld bzw. Steuern sind das stärkste In- strument, das wir haben. Aber wenn Sie etwas verteuern, trifft das nicht auf Jubelschreie. Politikern geht es um Wählerstimmen. Wer restriktive Vorschläge macht, macht sich erst einmal unbeliebt. Und es gibt natürlich auch die Lobby der Lebensmittelindustrie, die ihren Umsatz auch mit dem Übergewicht und dem Überkonsum der Bevölkerung erzielt und klar gegen Steuern auf ungesunde Lebensmittel ist.
Wären nicht zumindest Zucker-Warnhinweise auf Lebensmittelverpackungen nach dem Vorbild der Ekelbilder auf Zigarettenschachteln ein erster Schritt?
Thomasius: Wir wissen, dass sich regelmäßige Raucher davon nicht abhalten lassen. Aber Jugendliche, die bislang eher distanziert sind zum Thema Rauchen, können durch solche Bilder ihre Distanz aufrechterhalten. Insofern ist das schon ein gutes präventives Moment. Es muss in der Prävention aber vor allem darum gehen, Kinder und Jugendliche mit allen Mitteln von früh an mit Selbstwert auszustatten und mit sozialen Kompetenzen. Selbstbewusste Menschen sind viel widerstandsfähiger gegenüber den Konsumangeboten, egal, ob es um Zucker oder um Drogen geht. Schulische und familienbasierte Suchtprävention muss in Deutschland deutlich gestärkt werden.
In der nächsten Folge am kommenden Sonnabend wird es um diese Frage gehen: Warum weinen wir?