Hamburg. Die 100 großen Fragen des Lebens. Experten erklären im Abendblatt, wie unsere grünen Mitgeschöpfe ihre Umwelt registrieren.

Forscher finden immer mehr Indizien dafür, dass Pflanzen sehr empfindsam sind und erstaunliche Sinnesleistungen vollbringen. Was die Pflanzen wahrnehmen und wie Wissenschaftler das untersuchen, erläutern Julia Kehr, Professorin für molekulare Pflanzengenetik, und Jörg Fromm, Professor für allgemeine Holzbiologie. Beide arbeiten an der Uni Hamburg.

Hamburger Abendblatt: Sie haben zum Interview ein Pflänzchen mit eingeklappten Blättern mitgebracht, das etwas mitgenommen aussieht. Was hat es damit auf sich?

Julia Kehr: Das ist eine Mimose. Sie faltet ihre Blätter, sobald sie berührt oder erschüttert wird, wenn sie ein starker Wind trifft oder ihr kalt wird. Sie reagiert auf solche Reize in wenigen Millisekunden ...

Jörg Fromm: ... und sie ist deshalb ein schönes Beispiel für verblüffend schnelle Blattbewegungen.

Kehr: Allerdings dauert es dann eine Weile, bis die Mimose sich erholt hat. Wir hatten sie für die Fahrt in einen dunklen Karton gepackt. Nun braucht sie Licht und Ruhe.

Viele andere Pflanzen reagieren auf Umweltreize nicht mit gefalteten Blättern. Warum tut die Mimose das?

Fromm: Das hat eine ökologische Funktion: Die Mimose sieht, wie man erkennen kann, recht unappetitlich aus, wenn ihre Blätter zusammengefaltet sind. Das wirkt abschreckend auf Fressfeinde.

Kehr: Und dem Wind bietet die Mimose mit gefalteten Blättern weniger Angriffsfläche.

Früher dominierte das Bild von der passiven, nicht besonders empfindsamen Pflanze. Was ist heute über die Wahrnehmung von Pflanzen bekannt?

Kehr: Pflanzen nehmen sehr viele verschiedene Dinge wahr – mehr Reize übrigens, als Tiere wahrnehmen können –, und Pflanzen reagieren darauf auch in vielfältiger Weise. Das ist wahrscheinlich auch dadurch begründet, dass Pflanzen nicht den Ort wechseln, also vor Gefahren fliehen können. Deshalb müssen sie auf ihre Umwelt spezialisiert und schnell reagieren.

Fromm: Pflanzen können zum Beispiel schmecken, riechen, sehen, hören, fühlen, und sie nehmen Schwerkraft wahr.

Können Pflanzen auch Schmerzen empfinden?

Fromm: Dafür gibt es keine Belege, zumindest nach dem heutigen Stand der Technik bzw. der Untersuchungsmöglichkeiten, die wir haben.

Die Hecke nicht schneiden zu wollen mit dem Argument, dass sie leidet, oder den Rasen mit dieser Begründung nicht zu mähen, zieht also nicht.

Kehr: Heckenpflanzen oder Gräser nehmen es schon wahr, wenn sie gewissermaßen bei lebendigem Leibe durchgeschnitten werden. Aber zu sagen, die Pflanzen fühlten sich dadurch schlecht, oder sie empfänden Schmerzen, ist eine menschliche Interpretation. Um so empfinden zu können, bräuchte die Pflanze Schmerzrezeptoren und eine Art zentrales Nervensystem, das die wahrgenommenen Reize in ein Empfinden umwandelt.

Fromm: Pflanzen können allerdings verschiedene Reize unterscheiden und feststellen, ob diese Reize gefährlich sind oder eher nicht. Dementsprechend fällt dann die Reaktion aus: Wenn wir etwa die Blätter einer Mimose anbrennen oder abschneiden, wird sie elektrische Signale erzeugen und nicht nur die betroffenen Blätter sehr schnell falten, sondern auch Blätter an anderen Sprossen. Berühren wir die Mimose nur an einer Stelle, wird ihre Reaktion kleiner ausfallen.

Kehr: Elektrische Impulse als Folge einer Schnittverletzung sind die schnellste mögliche Reaktion. Kommen wir mal zum normalen Umfeld der Pflanze und der Situation, dass eine Raupe ein Blatt anfrisst: Auch das nimmt die Pflanze wahr. Sie weiß, wer sie da anfrisst; sie kann das anhand des Speichels der Raupe ermitteln. Als Reaktion sondert die Pflanze über ihr Langstreckentransportsystem, das sogenannte Phloem, eine chemische Verbindung namens Methyljasmonat ab. Dieses Signal gelangt in andere Pflanzenteile, die dann bestimmte Proteine bilden, welche die Blätter ungenießbar machen sollen. Das verdirbt weiteren Raupen den Appetit – meistens jedenfalls. So hält die Pflanze den Schaden lokal.

Welche Strategien nutzen Pflanzen noch zu ihrer Verteidigung?

Kehr: Einige Arten, etwa Tabak, sondern chemische Substanzen ab und locken dadurch Insekten an, die Schädlinge beseitigen.

In verschiedenen Medien war zu lesen, dass Akazien, die etwa von Antilopen angeknabbert werden, angeblich Signale an Bäume in der Umgebung senden, wodurch deren Blätter für die Antilopen ungenießbar werden.

Kehr: Man sollte hier mit der Wortwahl vorsichtig sein. So weit es Forscher bisher wissen, reagieren Pflanzen wie Tabak und Akazien nicht aus Absicht auf diese Weise; sie rufen nicht um Hilfe oder warnen Nachbarpflanzen, sondern geben vielmehr als Reaktion auf einen Reiz diese Chemikalien ab, die in die Gasphase übergehen und von Insekten oder anderen Pflanzen wahrgenommen werden.

Für Aufsehen gesorgt haben Experimente auf einem Weinberg in der Toskana, wo ein Forscher den Reben klassische Musik vorspielt. Ein Gag?

Kehr: Nein, das ist eine Studie, die wissenschaftlich durchaus glaubhaft ist. Dahinter steht Stefano Mancuso von der Universität Florenz. Er hat beobachtet, dass Weinreben, die viel Musik zu hören bekommen, besser wachsen und dass deren Früchte süßer werden und die Pflanzen gesünder sind und resistenter gegen Krankheiten. Es wäre nun allerdings wieder eine Interpretation, Pflanzen zu unterstellen, sie hätten einen Musikgeschmack und fänden die Musik schön. Es ist wohl eher so: Musik besteht aus Schallwellen. Das sind mechanische Schwingungen. Pflanzenzellen haben Membranen, wie tierische Zellen. Werden diese Membranen von leichten Schwingungen getroffen, fühlen sich die Pflanzen leicht gestresst. Das ist ähnlich wie beim Menschen: Leichter Stress ist gut, viel Stress ist nicht mehr gut. Eine leicht gestresste Pflanze fühlt sich wohl, sie wird dadurch robuster – und das hat anscheinend auch Auswirkungen auf den Zuckergehalt der Früchte.

Macht es einen Unterschied, ob Mozart oder Heavy Metal läuft?

Kehr: Es ist eher eine Frage der Lautstärke und der Art der Schwingungen als des Musikgeschmacks. Eher leise Pop- oder Rockmusik würde den Reben wohl ebenso gefallen. Zu laut gespielt würden auch Mozart oder Beethoven nicht mehr gut ankommen.

Es gibt auch Versuche, bei denen Pflanzen gestreichelt werden. Wozu dient das?

Fromm: Wir haben kürzlich dazu einen Versuch durchgeführt mit Mimosen, die wir auf eine Schüttelplatte gestellt hatten. Die Pflanzen wurden sechsmal am Tag 15 Minuten lang geschüttelt, in verschiedenen Abständen. Daneben wuchsen Mimosen ungestört. Die ungestörten Pflanzen wuchsen sehr schnell in die Höhe. Die mehrfach am Tag gereizten Mimosen wuchsen eher klein und buschig. Dieses Verhalten war bereits bekannt. Wir stellten allerdings auch fest, dass nach fünf Tagen Versuchsdauer die geschüttelten Mimosen ihre Blätter nicht mehr falteten. Stefano Mancuso würde womöglich sagen: Das ist ein Lerneffekt. Zumindest kann man von einer Gewöhnung sprechen. Die Studie zeigte auch: Wurden die Blätter, die nach fünf Tagen offen blieben, verletzt, falten sie sich wieder. Das beweist einmal mehr, dass Pflanzen deutliche Unterschiede zwischen Reizen erkennen können.

Kehr: Die Industrie macht sich das übrigens zunutze, etwa bei Basilikum: Die Pflanzen werden in Treibhäusern mit großen Besen gestreichelt, damit das Basilikum nicht in die Höhe schießt. Das verkauft sich nämlich schlechter.

Es soll ja nicht wenige Menschen geben, die mit ihren Pflanzen reden. Prinz Charles etwa wird das nachgesagt. Hat das Geplauder positive Auswirkungen?

Kehr: Es gibt wissenschaftliche Studien, die gezeigt haben, dass Tomatenpflanzen mehr Ertrag bringen und besser wachsen, wenn man mit ihnen ausgiebig redet. Dabei dürfte es allerdings egal sein, was man den Pflanzen erzählt. Ausschlaggebend ist vielmehr das Kohlendioxid (CO₂), das beim Ausatmen auf die Pflanze gelangt. Pflanzen lieben CO₂, denn das brauchen sie zur Fotosynthese. Durch Fotosynthese erzeugen sie Zucker, den sie zum Wachsen benötigen und um Früchte zu bilden.

Neben CO₂ brauchen Pflanzen für die Fotosynthese auch Licht. Welche Rolle spielt Licht für Wahrnehmung der Pflanzen?

Fromm: Pflanzen haben eine Art innere Uhr. Mithilfe des Sonnenlichts können sie die Tageslänge wahrnehmen und sich dadurch an die Jahreszeiten anpassen. Gerade für Bäume ist das sehr wichtig. In Mitteleuropa etwa gehen Bäume ab dem Herbst in die Winterruhe. Richteten sie sich dabei nicht nach dem Licht, sondern nach der Temperatur, hätte das für sie unter Umständen gravierende Nachteile: Würden Bäume in einem warmen Herbst annehmen, es sei noch Sommer und die Blätter nicht abwerfen, so würden die Blätter bei plötzlich einsetzendem Frost erfrieren. Normalerweise ziehen die Bäume aus den Blättern wichtige Nährstoffe wie Magnesium, Kalium und Stickstoff, bevor sie die Blätter abwerfen. Das dauert allerdings zwei bis drei Wochen. Diese Nährstoffe gingen in dem geschilderten Fall verloren.

Wie empfindsam sind die Wurzeln der Pflanzen?

Fromm: Sie sind kaum sensibler als andere Pflanzenteile. Allerdings können Wurzeln auch eine chemische Kommunikation in Gang setzen. So geben Bäume über ihre Wurzeln organische Stoffe, zum Beispiel bei der Fotosynthese gebildete Assimilate, an Pilze im Boden ab. Im Gegenzug erhalten die Bäume über ihre Wurzeln von den Pilzen Nährstoffe aus dem Boden. Einige Bäume leben mit nur einem Pilz-Partner in einer Symbiose, andere Bäume mit 20 Pilzarten. Dieses Miteinander wirkt sich auch auf benachbarte Bäume aus. Im Rahmen einer Studie haben kanadische Forscher eine radioaktive Lösung in Douglasien injiziert. Einige Tage später konnten sie diese Lösung in den Nachbarbäumen finden, weil die Stoffe, in diesem Fall radioaktiver Kohlenstoff, über die Pilze weitergereicht wurden. Manche Forscher sprechen von einem Wood-Wide-Web.

Welche Methoden und Instrumente nutzen Forscher noch, um pflanzliche Signalwege und Sinneswahrnehmungen zu untersuchen?

Kehr: In meiner Arbeitsgruppe interessieren wir uns dafür, welche biochemischen Signale von einem Pflanzenteil zum anderen geschickt werden, wenn die Pflanze gestresst ist, etwa weil ein Bakterium sie befallen hat. Dazu vergleichen wir Flüssigkeit aus dem Transportsystem von Pflanzen, die von Bakterien attackiert werden, mit dem Phloem von unbehelligten Pflanzen. Um an diesen Phloem-Saft zu kommen, nutzen wir Blattläuse, weil diese sich von dem Saft ernähren. Wenn die Laus frisst, schneiden wir ihren Rüssel mit einem Laserstrahl ab. Der Rüssel bleibt dann im Phloem stecken, und man kann dann mit einer Pipette den Saft sammeln, der aus den Rüsseln herauskommt.

Fromm: Der abgetrennte Blattlaus-Stumpf lässt sich auch mit einer Elektrodenspitze verbinden, um das elektrische Signal im Phloem messen. So konnten wir bereits nachweisen, dass im Phloem elektrische Signale schneller geleitet werden als im Nachbargewebe.

Kehr: Durch solche Versuche sterben die Läuse allerdings. Man kann alternativ auch mit sehr kleinen Einstichen das Phloem treffen und abzapfen. Hat man darin ein Signalmolekül gefunden, etwa ein Protein, lässt sich mit verschiedenen Methoden, die auch in der Medizin und Tierforschung eingesetzt werden, verfolgen, wie so ein Molekül in der lebenden Pflanze transportiert wird. Dazu markiert man das Teilchen etwa mit einem fluoreszierenden Farbstoff und beobachtet den Weg des Moleküls dann mit einem Konfokalmikroskop.

Viele Pflanzenarten sind bedroht. Welche Rolle spielt der Klimawandel dabei?

Fromm: Meines Wissens gibt es weltweit insgesamt etwa 350.000 Pflanzenarten. Bedroht sind insbesondere viele Spezialisten unter ihnen, also Pflanzen, die in bestimmten ökologischen Nischen leben. Durch den Klimawandel kommt es vielerorts häufiger zu Trockenheit. Einige Pflanzenarten werden damit gut klarkommen, andere nicht. Ähnlich sieht es mit Stickstoff aus, der durch den Verkehr und von der Industrie in die Luft abgegeben wird und dann im Regen in die Böden kommt. Stickstoff ist ein Nährstoff, den viele Pflanzen lieben, aber nicht alle. Wegen dieser vom Menschen gemachten Veränderungen wird sich das Artenspektrum der Pflanzenwelt verändern.

In der nächsten Folge am kommenden Sonnabend wird es um diese Frage gehen: Was ist Schönheit?