Hamburg. Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit erinnert an den Kampf um das Wahlrecht – und was es heute bedeutet.
Geheim und frei zwischen Parteien und Personen zu wählen und damit die Politik einer Stadt und eines Landes zu prägen – das ist für uns selbstverständlich. Am 26. Mai wählen wir die Abgeordneten des Europäischen Parlaments und die Mitglieder der Hamburger Bezirksversammlungen. Vor eineinhalb Jahren haben wir die Mitglieder des Bundestags neu bestimmt, und im nächsten Februar entscheiden wir über die Zusammensetzung der Hamburgischen Bürgerschaft.
Wahlen sind für uns so normal geworden, dass viele Menschen gar nicht mehr daran teilnehmen. Ein schwerer Fehler! Das war vor 100 Jahren ganz anders: Damals, 1919, erlebte Deutschland enorme gesellschaftliche Umbrüche. Das kriegsmüde Volk hungerte, Unruhen und Aufstände erzwangen das Ende der Monarchie. Die Republik wurde ausgerufen, und die ersten allgemeinen, gleichen, freien und geheimen Wahlen zur Nationalversammlung in Weimar läuteten eine neue Zeit ein. Bis heute bilden sie das Fundament unserer Demokratie.
Das gilt auch für die erste demokratische Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft am 16. März 1919. Vorher bestimmten wenige reiche Männer den Senat. Jetzt durften alle erwachsenen Männer und Frauen die Regierung unserer Stadt bestimmen – welch unglaublicher Fortschritt! Für uns Frauen bedeutete das uneingeschränkte Wahlrecht zudem einen Meilenstein auf dem Weg zur politischen und allgemeinen Gleichberechtigung.
Putschisten hatten keine Chance
Wie wichtig das Wahlrecht ist, war den Menschen in Hamburg damals klar. Schon vor 1919 gab es etliche, die gegenüber dem Finanzamt höhere Einkommen erklärten – und höhere Steuern zahlten, weil man erst ab einem bestimmten Einkommen wählen durfte. Und dann, 1919, machten fast 81 Prozent der Hamburgerinnen und Hamburger von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Unsere Stadt bekam damit eine Regierung, die sich auf eine sehr breite demokratische Legitimation stützen konnte.
Ein Jahr später, als rechtsnationale Kräfte beim Kapp-Putsch das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten, zahlte sich das aus: Die Putschisten hatten in Hamburg keine Chance. Heute scheint es, als seien einige der Demokratie müde. „Politiker“ verstehen manche als Schimpfwort. Dabei übersehen sie, dass es Politikerinnen und Politiker waren, die dafür gesorgt haben, dass Deutschland sich mit seinen Nachbarn ausgesöhnt hat und seit mehr als 70 Jahren im Frieden lebt – länger als jemals zuvor in unserer Geschichte.
Patentrezepte gab es nie
Dass wir nicht Hunger leiden und eine sehr gute Gesundheitsversorgung haben. Dass immer mehr junge Menschen immer mehr lernen und bessere Schulabschlüsse erreichen. Viele Menschen haben daran mitgewirkt – aber Politikerinnen und Politiker haben die Weichen gestellt. Patentrezepte gab es dabei nie – und gibt es heute noch weniger. Zugleich braucht die Demokratie immer wieder Erneuerung! Kritik und Anregungen sind erwünscht und sind Ansporn für lebensnahe politische Entscheidungen.
Politik wird mit brettharter Arbeit gestaltet, nicht am Stammtisch oder bei Facebook. Wer heute mit Sorge beobachtet, dass scheinbar einfache Lösungen erfunden, Vorurteile benutzt und Feindbilder geschaffen werden sollen, um gemeinsam Erreichtes wie Freiheit, Gewaltenteilung und Solidarität infrage zu stellen, und so womöglich das Rad zurückmanipuliert werden soll – dem und der sei gesagt: Gegen diese Entwicklung können wir alle etwas tun: am Wahltag. Und wer sich außerdem engagieren möchte, ist herzlich dazu eingeladen. Nicht nur das aktive Wahlrecht wird 100 Jahre alt – auch das passive. Mischen Sie sich ein!