Die Historikerin Ursula Büttner über die erste demokratische Bürgerschaft, ihre Leistungen und die ersten weiblichen Abgeordneten.

Frau Professor Büttner, wie bewerten Sie die Arbeit des ersten demokratischen Parlaments in Hamburg, das vor genau 100 Jahren gewählt wurde?

Ursula Büttner: Ausgesprochen positiv. In kurzer Zeit sind unter sehr schwierigen Bedingungen wichtige Reformen, etwa im sozialen und im Bildungsbereich in Angriff genommen worden. Und es wurde eine bemerkenswerte neue Verfassung ausgearbeitet.

Warum bemerkenswert?

Büttner: Weil sie – ganz im Gegensatz zur Reichsverfassung – dem Parlament die entscheidende Rolle zubilligte. Während der Reichspräsident durch die Kombination verschiedener Rechte und Notstandsbefugnisse eine sehr starke Stellung hatte und über Notverordnungen auch ermöglichen konnte, am Parlament vorbei zu regieren, was seit Herbst 1930 dann ja auch immer öfter getan wurde, war der Erste Bürgermeister in Hamburg vergleichsweise schwach. Er war Erster unter Gleichen, hatte keine Richtlinienkompetenz, und seine Stimme entschied im Senat nur bei Stimmengleichheit. Der Senat hatte auch weder das Recht, das Parlament aufzulösen, noch konnte er die Vertrauensfrage stellen. Dies geschah auf Drängen der SPD, die eine echte parlamentarische Demokratie schaffen wollte.

Die SPD hat 1919 trotz absoluter Mehrheit eine Koalition gebildet und Vertreter der alten politischen Elite im Senat belassen – war das ein Fehler?

Büttner: Ich glaube Nein. Dieses Vorgehen hat viel dazu beigetragen, dass die politischen Verhältnisse in Hamburg lange vergleichsweise stabil blieben und auch zunächst skeptische bürgerliche Kräfte sich mit dem neuen Staat arrangieren konnten. Als SPD und DDP bei den Wahlen 1924 ihre Mehrheit verloren, gelang es relativ problemlos, die konservative und für das Reich ursprünglich eher monarchistische DVP in die Regierung zu holen.

Haben der Verzicht auf das Bürgermeisteramt, das Zusammengehen mit den bürgerlichen Parteien und die daraus resultierenden Kompromisse nicht zu den herben Wahlverlusten der SPD bei den Wahlen 1921 und 1924 beigetragen?

Büttner: Das war sicherlich ein Faktor. Manche mögen sich enttäuscht abgewandt haben, andere haben sich radikalisiert und der Kommunistischen Partei angeschlossen, welche die SPD als Verräter der Arbeiterklasse bekämpfte. Die großen Verluste der SPD haben aber wohl mehr mit den äußeren Umständen zu tun. Putschversuche von links und rechts und die Hyperinflation von 1923 haben das Vertrauen in die Regierungsparteien tief erschüttert.

1919 durften Frauen erstmals wählen und gewählt werden. Welche Rolle spielte das im Wahlkampf?

Büttner: Alle Parteien haben versucht, die Frauen für sich zu gewinnen. Das zeigt sich an vielen Wahlplakaten, die sich direkt an Frauen wendeten, an Frauenabenden, die organisiert wurden, aber auch an speziellen Beilagen einiger Zeitungen.

Nur 17 von 160 Abgeordneten in der Hamburger Bürgerschaft von 1919 waren Frauen – woran lag das?

Büttner: Ich glaube nicht, dass es an Kandidatinnen gemangelt hat. Viele wurden auf den Wahllisten der Parteien schlecht platziert. Andererseits: Wenn man sieht, wie wenige Frauen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik in den Parlamenten saßen, ist die Zahl von 17 nicht so ernüchternd, wie es zunächst scheint. Und es waren wirklich bedeutende Persönlichkeiten darunter wie etwa Helene Lange, die für die DDP in die Bürgerschaft einzog. Sie hatte jahrzehntelang für Frauenrechte gekämpft, ohne sich zu radikalisieren, und hielt als Alterspräsidentin eine wirklich beeindruckende Eröffnungsrede.

Prof. Ursula Büttner­ (72) lehrte bis 2011 an der Uni Hamburg. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Hamburg während der Weimarer Republik.
Prof. Ursula Büttner­ (72) lehrte bis 2011 an der Uni Hamburg. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Hamburg während der Weimarer Republik. © Ursula Büttner

Weiß man, ob die Hamburger Frauen anders gewählt haben als die Männer?

Büttner: Nein, weder die Wahlbeteiligung noch das Wahlverhalten wurden geschlechtsspezifisch untersucht, insofern lässt sich nur spekulieren. Deutschlandweite Untersuchungen haben aber ergeben, dass Frauen tendenziell etwas konservativer wählten als Männer.

Spielten im Wahlkampf Hamburg-Themen die entscheidende Rolle, oder ging es eher um die „große Politik“?

Büttner: Es gab schon hamburgspezifische Themen, aber die großen Fragen überdeckten sie. Der Krieg war ja erst seit ein paar Monaten vorbei, es gab keinen Friedensvertrag, die Blockade der deutschen Küste war nicht aufgehoben – viele Hamburger hungerten und froren. Es war überhaupt nicht klar, ob das neue parlamentarische System Bestand haben würde. Umsturzpläne gab es auf der linken wie auf der rechten Seite.