Hamburg. Sie hat eine moderne Art der Frauenbewegung erfunden. Sie posiert halb nackt vor der Kamera, obwohl sie keinen perfekten Körper hat.

Kann Feministin sein, wer sich in Dessous fotografieren lässt und die Fotos über soziale Kanäle verbreitet? Klar, wenn man es wie Melodie Michelberger macht. Die Hamburgerin ist so alt wie ihre Konfektionsgröße, 42, keine Zahl, die auf normale Models zutrifft. Die tragen Größe 34 oder maximal 36 und sind um die 20 Jahre alt.

„Nur in dieser kurzen Zeitspanne, so von 18 bis 22, und mit möglichst wenig Gewicht, ist eine Frau überhaupt in der Lage, unserem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen. Wie traurig!“ findet Melanie-Jasmin Jeske alias Melodie Michelberger, deren Instagram-Account mehr als 35.000 Personen folgen. Dort zeigt sie sich in Bikinis oder Unterwäsche und verbreitet die Message: Du bist mehr als dein Körper! Jeder Körper ist ein guter Körper, nicht nur ein schlanker. Ihre Follower sind begeistert, bedanken sich für ihre Ehrlichkeit, sich so zu zeigen, mit Bauch, Dellen in den Beinen und ohne Vorzeigebusen.

Als ein Foto von Michelbergers halb nackter Unperfektheit auf der Zeitschrift „Emotion“ abgedruckt wurde, verkaufte sich das Magazin wie verrückt. Es schien, als hätten alle nur darauf gewartet, Frauen zu sehen, wie sie im Durchschnitt aussehen. „Ich werde für meinen Mut gefeiert, aber ich finde es eigentlich krank, dass es als mutig gilt, sich so zu zeigen, wie man wirklich ist. Zumal ich eine ganz normale Frau bin“, sagt Michelberger. In der Tat trägt der Durchschnitt der deutschen Frauen Kleidergröße 42. Dennoch sind viele unzufrieden mit sich, auch Michelberger verbrachte 20 Jahre ihres Lebens mit Diäten und Sport.

Sie hatte ein Burn-out

Dann hatte die PR-Beraterin ein Burn-out. Da war ihr Sohn, den sie alleine großzieht, gerade mal zwei Jahre alt. Plötzlich sei es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, wie viel Energie und Zeit sie damit verplempert hatte, den Vorstellungen anderer Leute zu entsprechen. „Ich habe immer versucht, weniger zu sein. Doch ich bin nicht nur eine Hülle, was hätte ich in dieser Zeit alles Gutes für mich tun können, Bücher lesen oder Musik hören beispielsweise“, sagt die Aktivistin.

Als eine solche gilt die Hamburgerin nämlich inzwischen, ihre Botschaft findet Gehör. Sie wird von Unternehmen als Werbepartnerin geschätzt und für Kampagnen gebucht wie gerade die von UN Women Nationales Komitee Deutschland und Esprit. Die ganze Stadt hängt derzeit voller „WE ALL“-Plakate. Melodie Michelberger setzt sich dabei neben Models wie Tatjana Patitz für die Gleichstellung von Männern und Frauen ein.

Heute kann sich niemand mehr vorstellen, wie es ist, nicht wählen, arbeiten oder Autofahren zu dürfen, weil man eine Frau ist. Doch vor 100 Jahren war das noch Alltag für Frauen! Seitdem hat sich schon viel getan, dennoch herrscht zwischen den Geschlechtern noch ein großes Missverhältnis: Im globalen Schnitt verdienen Frauen die Hälfte weniger als Männer. Unter den Fortune 500 CEOs befinden sich nur 24 Frauen. Jedes Jahr sind in Deutschland 100.000 Frauen von häuslicher Gewalt betroffen. Wenn jeder Mann nur 50 Euro an ein Frauenhaus spenden würde, dann wäre schon viel getan, findet Michelberger.

Frauenhäuser haben nicht genug Kapazitäten

In ihren Augen ist es skandalös, dass vor allem die Initiativen, die sich um Frauen kümmern, ständig unterfinanziert seien: „Gerade in einer so reichen Stadt wie Hamburg finde ich das unvorstellbar, dass immer wieder Frauen, die Hilfe benötigen, abgewiesen werden. Im vergangenen Jahr konnten 9000 Frauen in Deutschland zum Beispiel nicht im Frauenhaus aufgenommen werden. Das bricht einem doch das Herz. Was passiert denn mit denen, wenn die dann wieder nach Hause müssen?“

Natürlich ging Michelberger auch auf die Straße, als es um die Abschaffung des Paragrafen 219a ging. Erstaunlich, wie wenig Männer dabei an ihrer Seite demonstrierten. Dabei ist Schwangerschaft ja nichts, was ausschließlich Frauen angeht. „Wo bleibt der Support? Nur weil man keinen Uterus hat, darf man doch seine männliche Stimme gegen Ungerechtigkeit erheben“, sagt Michelberger.

Sie fürchtet, die mangelnde Solidarität habe auch mit dem schlechten Image von Feminismus zu tun. „Dem Begriff haftet etwas Negatives an, als sei es eine Bewegung gegen Männer, aber das stimmt ja nicht. Es geht um die Abschaffung patriarchaler Strukturen, die genauso auch Männer beeinflussen, wie oft habe ich das schon erklären müssen?“

Island als Vorbild

Die Frauenrechtlerin informiert unter dem Instagram-Hashtag #trust- thegirls und auf der gleichnamigen Online-Plattform über Alltagssexismus, Diskriminierung, Body Shaming; weist aber auch darauf hin, wie gut wir nordeuropäischen Frauen es teilweise schon haben. Manchmal beobachtet sie einen sogenannten „Feel Good Feminismus“. Da wird über ungleiche Bezahlung zwischen Männern und Frauen diskutiert, was natürlich ebenfalls ein Problem darstellt, dennoch würden häufig die Frauen vergessen, die es sich gar nicht leisten können, an Diskussionsrunden oder Protestaktionen teilzunehmen, weil sie drei Kinder zu versorgen und gleichzeitig zwei Jobs zu erledigen hätten.

„Manche von uns sind sich ihrer privilegierten Position nicht bewusst.“ Und genau diese gilt es zu nutzen, um sich für andere starkzumachen. Am morgigen Freitag wird Melodie Michelberger zum Beispiel an der Demonstration „Ohne uns steht die Welt still“ teilnehmen, die ab 16.30 Uhr am Rathausmarkt startet. Männer dürfen dabei übrigens bei der Kinderbetreuung und Versorgung helfen.

Apropos Kinderbetreuung. Meldodie Michelberger war gerade ein paar Tage in Island unterwegs, dort hat sie erlebt, wie selbstverständlich Väter genauso viele Elternzeit-Monate nehmen wie Mütter. In Deutschland erlauben sich die Männer höchstens ein, zwei Monate. Die jungen Papas hierzulande sollten sich stärker engagieren und notfalls in ihrem Unternehmen dafür kämpfen, mehr Elternzeit zu bekommen, rät die Hamburgerin: „Es sind die kleinen Kämpfe, die am Ende etwas ganz Großes bewirken.“

Michelberger redet nie wieder schlecht über andere

Auf Island hatte Melodie Michelberger auch wieder einen Bikini dabei, vom Swimwear Label Phylyda, das selbst für große Größen sexy Unterwäsche herstellt (gibt es im Alsterhaus). Die Influencerin wollte nämlich ein Foto von sich für Instagram machen, doch bei minus 5 Grad im Bikini in der Kälte frieren? Tja, die Frauenbewegung fordert Opfer!

Doch nicht alle finden ihr Engagement gut. Eine ihrer besten Freundinnen folgt der Influencerin auf Instagram nicht mehr, weil sie keine halb nackten Fotos mehr sehen wolle: „Kannst du dich nicht auch angezogen engagieren?“ So eine Meinung habe sie zu akzeptieren, sagt Michelberger, die seit drei Jahren kein schlechtes Wort mehr über andere Frauen verloren hat. Wer negative Kommentare über andere unterlasse, der urteile über sich selbst auch nicht mehr so hart, erklärt die Frau, die als Kind von ihrem Vater als „Nilpferd“ beschimpft wurde.

Inzwischen habe sie ihm verziehen, so, wie sie auch versteht, wenn nicht jeder ihren Körper anschauen wolle: „Doch ich bin gerne rebellisch, mir gefällt es anzuecken. Meine Bilder stören die Sehgewohnheiten auf einer App wie Instagram.“

Industrie lebt von Unsicherheit

In der Tat finden sich dort viele reproduzierte Schönheitsideale, was Instagram selbst als Betreiber gar nicht beabsichtigt. „Wir haben den Anspruch, dass Instagram eine positive und vielfältige Plattform ist, auf der Menschen sich frei entfalten und gegenseitig inspirieren können“, sagt Mathilde Burnecki, Strategic Partner Manager bei Instagram. Es gibt in der Tat einige ungewöhnliche Accounts wie die von Celeste Barber. Lustiger kann man den Beautywahn nicht aufs Korn nehmen.

Die Fotos der inzwischen berühmten Australierin sorgen natürlich nicht von alleine dafür, dass sich plötzlich alle Menschen so mögen, wie sie sind. Selbstliebe kann man ja nicht befehlen. Doch es ginge darum, das Schönheitsideal nicht mehr mitzumachen, das von vielen Unternehmen protegiert wird. „Wir müssen uns doch fragen, wer einen Nutzen davon hat, dass sich Millionen Frauen nicht hübsch genug fühlen“, sagt Melodie Michelberger. „Eine Milliarden-Industrie lebt von unserer Unsicherheit, die ganzen Mieder, Pillen, Diätpulver, Beautyprodukte usw. So geht es nicht weiter.“