Theo Sommers erstes China-Buch erschien 1979: „Die chinesische Karte. Neunhundert Millionen auf dem Weg zum Jahr 2000“, hieß der Titel, dessen Cover ganz im Schick der 70er-Jahre gestaltet war. Damals diskutierten intellektuelle Zirkel, was wäre, wenn das Riesenreich mit seiner reichen Geschichte einstmals aus dem Dämmerschlaf erwachen würde. Heute resümiert auch Sommer: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Chinesen das hinbekommen.“

In den vergangenen 40 Jahren haben die Chinesen eine einmalige Erfolgsgeschichte hingelegt – gegen alle Prognosen und Wirtschaftslehren. „Keine Entfernung, auch nicht ferne Berge und weite Ozeane, können Leute mit Beharrlichkeit daran hindern, ihr Ziel zu erreichen“ – nicht von ungefähr zitierte Chinas Staatschef Xi Jinping dieses alte Sprichwort beim Besuch von US-Präsident Donald Trump.

Diese einmalige Aufholjagd beeindruckt Sommer – denn er kennt noch das alte China. Seine Erinnerungen an das vergangene Reich der Mitte machen einen Teil des Reizes und seines Unterhaltungswertes aus. „Das China, das ich in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts kennenlernte, gibt es nicht mehr.“ Er beschreibt Lehmziegelbauten, Kohlbeete und Baumwollfelder. „Es war alt, arm und armselig, auf dem Lande der Steinzeit näher als der Neuzeit.“

Heute schickt dieses Land sich an, die Welt zu erobern. „China First“ heißt konsequenterweise Sommers neues Buch. „Die Welt auf dem Weg ins chinesische Jahrhundert.“

Was nach reißerischem Titel klingt, weist der 88-Jährige auf 480 Seiten detailliert nach. China baut überall in der Welt Einflusssphären mit der neuen Seidenstraße unter dem Titel „one belt, one road“ aus. Und es besetzt Zukunftstechnologien – mit Strategien wie „Made in China 2025“: „Heute kommen 90 Prozent der LED-Lampen, 80 Prozent der Computer und 70 Prozent der Handys aus China“, schreibt Sommer. Der Wirtschaftsteil mag etwas zahlenlastig daherkommen – die Zahlen aber lesen sich auch wie eine Belastung.

Sommers Buch ist klug strukturiert und ermöglicht dem schnellen Konsumenten das Querlesen; zugleich ist es journalistisch fesselnd. Es kommt nicht als Doktorarbeit mit Fußnoten-Leporello daher, sondern als großes gedrucktes China-Dossier, für das selbst in der „Zeit“ der Platz fehlt. Sommer geht es ebenso um geopolitische Fragen wie um die Wirtschaftsstrategie, um Spannungsfelder und Menschenrechte. Seine Sprache ist mitunter drastisch, wenn er von einem „Infrastruktur-Kreuzzug“ schreibt oder von einer „digitalen Gesinnungs- und Tugenddiktatur“, die „Orwells ,1984‘ weit in den Schatten stellt.“

Absolut lesenswert ist seine Einschätzung der politischen Weltlage – mit den wachsenden Konflikten zwischen den USA und China, den Gefahren eines Handelskonflikt, aber auch den vielen anderen Krisen, die in Fernost zwischen Korea und Taiwan köcheln. Sein Ausblick „Keine Illusionen, keine Obsessionen“ bleibt erfreulich knapp und ergeht sich nicht in großen Welterklärer-Ratschlägen.

„Wenn heute in China ein Sack Reis umfällt, bebt die Erde“, schreibt Sommer in Anlehnung an ein klassisches Zitat. Willkommen im chinesischen Jahrhundert. Wer dieses Jahrhundert verstehen will, sollte das Buch lesen.