Hamburg. Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, sieht eine tiefe Verunsicherung in Teilen der Hamburger Bevölkerung.
Die erste Umfrage zur politischen Lage in Hamburg seit vielen Monaten hat gleich mehrere bemerkenswerte Ergebnisse geliefert: Die Identifikation der Hamburger mit ihrer Stadt ist weiterhin sehr hoch, aber zunehmend glauben die Menschen, dass sich Hamburg negativ entwickelt. Das geht aus der repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Abendblatts hervor. Verkehrsprobleme werden gravierender wahrgenommen als der Wohnungsmangel.
Ebenfalls auffällig: Die Hamburger bewerten die Arbeit von Bürgermeister Peter Tschentscher nach rund neun Monaten im Amt etwas besser als die von Vorgänger Olaf Scholz; die CDU-Spitzenkräfte können nicht überzeugen; die Grünen haben wie bei nahezu jeder Wahl oder Umfrage massiven Zulauf; die AfD kommt nicht einmal ansatzweise auf die Zustimmung wie in östlichen oder südlichen Bundesländern. Ein Gespräch über die Ergebnisse mit Manfred Güllner, dem Gründer und Geschäftsführer des in Berlin ansässigen Instituts Forsa. Güllner ist Mitglied der SPD.
Mit dem Berliner Blick auf Hamburg: Welche Entwicklung fällt Ihnen als Erstes auf?
Manfred Güllner: Die Hamburger identifizieren sich sehr stark mit ihrer Stadt. Aber trotzdem bewerten sie die Entwicklung Hamburgs zunehmend negativ. Irgendetwas in der Stadt grummelt, was durchaus Folgen für die Bewertung der Parteien hat. Es gibt eine sehr große Mehrheit in der Bevölkerung, die die Verkehrssituation kritisiert. Als zweites großes Problem wird die Lage auf dem Wohnungsmarkt genannt.
Sie haben die Stimmung in den unterschiedlichsten Ballungsräumen mit ähnlichen Problemen erhoben. Worin liegt der Hauptunterschied zu Hamburg?
Güllner: Ein Unterschied ist, dass die Identifikation mit der Stadt hier höher ist als in manch anderen Metropolen, die Entwicklung der Stadt aber negativer eingeschätzt wird. Die Frankfurter zum Beispiel glauben, dass sich ihre Stadt positiv entwickelt hat, obwohl die Probleme am Wohnungsmarkt noch ausgeprägter sind als in Hamburg.
Hamburg und den Hamburgern geht’s überwiegend gut, dennoch wird die Stimmung schlechter. Warum?
Güllner: Das Gefühl scheint bei den Menschen zu wachsen, dass staatliche Institutionen und auch privatisierte Versorgungseinrichtungen nicht mehr richtig funktionieren. So gibt es bundesweit einen deutlichen Rückgang an Vertrauen in ganz viele Institutionen, den wir in dieser Form im letzten Jahrzehnt noch nie beobachtet haben. Vieles im Alltag der Menschen funktioniert nicht oder nicht mehr. Ein Beispiel: die Diskussion über Fahrverbote beziehungsweise die Sperrung von zwei Straßenabschnitten in Hamburg für Dieselautos. Hamburg hat vor vielen Jahren, also sehr früh, versucht, intelligente Lösungen im Verkehrsbereich zu finden – wie die Sierichstraße, die morgens Einbahnstraße in die eine und abends Einbahnstraße in die andere Richtung ist. Statt solche Ideen mit den heutigen technischen Möglichkeiten weiterzuentwickeln, spricht man jetzt nur noch über Fahrverbote. Aber die lösen die Verkehrsprobleme nicht. Es gibt viele weitere Beispiele für kleine Dinge, die aus Sicht der Leute nicht funktionieren. Deshalb macht sich die Wahrnehmung breit: „Darum kümmert sich niemand.“
Uns überrascht, dass sich Bürgermeister Peter Tschentscher so schnell aus dem Schatten seines Vorgängers gelöst hat.
Güllner: Tschentschers Zufriedenheitswerte sind seit dem Sommer gestiegen. Warum das so ist, können Sie besser einschätzen als wir aus der Ferne ...
Tschentscher ist sehr präsent in der Stadt, sucht den Kontakt zu den Bürgern. Vielleicht sind zudem die Zustimmungswerte für Scholz in der Folge des G-20-Gipfels gesunken. Wie wird Tschentscher denn im Vergleich zu Bürgermeistern in anderen Metropolen bewertet?
Güllner: Er liegt im oberen Drittel der Bürgermeister von Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern. Er hat einen recht guten Wert und steht deutlich besser da als beispielsweise die Amtsinhaber in Bremen, Köln oder Berlin. Dort gibt es extreme Unzufriedenheiten mit den jeweiligen Stadtoberhäuptern.
Was würden Sie Parteien in Hamburg empfehlen, sollte man Sie nach Ableitungen aus der Umfrage fragen?
Güllner: Die Bürgerschaftswahl in Hamburg ist wie auch die Wahlen in Bremen und Berlin aus Sicht der Bürger eher eine Kommunalwahl als eine Landtagswahl. Viele lokale Politiker sehen das allerdings nicht so und machen im Rathaus eher eine konfliktgeladene „große“ Politik. Die Wähler haben aber eine starke Konsenserwartung und wollen, dass „die“ sich zusammenraufen. „Die“ sollen in der Sache diskutieren, aber ohne ideologische Konfrontationen. Der Appell lautet also, sich mehr an den Interessen der Bürger zu orientieren. So sollte zum Beispiel die CDU die Rolle als Opposition nicht übertreiben.
Ole von Beust (CDU) ist zunächst wegen des Versagens des SPD-geführten Senats mithilfe des Rechtspopulisten Schill an die Macht gekommen, hat später aber eine Politik aus der Mitte der Stadt heraus gemacht. Ein Vorbild?
Güllner: Die Politik vor Ort sollte sich immer an den Interessen der politischen und gesellschaftlichen Mitte in den Städten und nicht an denen von Minoritäten und Randgruppen orientieren.
Hat Olaf Scholz, als er 2011 nach Hamburg zurückkam und für die SPD im Wahlkampf wenig mehr als „Klarheit“ und „Vernunft“ versprach (neben dem Bau von Wohnungen und der Abschaffung der Kitagebühren), richtig gehandelt, nicht auf Konflikte zu setzen?
Güllner: Genau das erwarten die Leute. Und das hat der Hamburger SPD auch deutlich mehr Stimmen gebracht als bei den vorausgegangenen Bundestagswahlen.
Und aktuell?
Güllner: Dass die Hamburger SPD noch stärkste Kraft ist und bei der Frage zur Bürgerschaftswahl mit 30 Prozent etwa doppelt so hoch liegt wie bei Umfragen zur Bundestagswahl, ist nur ein schwacher Trost für die Partei. Hamburg war einmal eine SPD-Hochburg. 50 Prozent der Wahlberechtigten, nicht nur der Wähler, haben hier mal für die Partei gestimmt.
Zur AfD. In Ihrer Umfrage fällt auf, dass potenzielle Wähler der AfD die Lage, die Entwicklung, die Zufriedenheit mit der Politik besonders schlecht bewerten. Sind es irrationale Ängste, die die Leute umtreiben?
Güllner: AfD-Wähler sind keine harmlosen Protestwähler. Die AfD wird gewählt von dem immer vorhandenen Potenzial von für rechtsradikales und fremdenfeindliches Gedankengut Anfälligen. Dieses Potenzial hat aber nicht immer rechtsradikale Parteien gewählt, wie etwa die Glatzköpfe von der NPD. Ein radikalisiertes Segment der Mittelschicht hat sich lange hinter anderen Parteien versteckt oder gar nicht gewählt, ist aber jetzt zur AfD übergelaufen. AfD-Wählern geht es überwiegend objektiv nicht schlecht, sie haben aber große Statusängste und wählen aus tiefster Überzeugung die AfD. Das sind Überzeugungstäter, die kurzfristig nicht wieder rückholbar sind. Deshalb ist die Diskussion in der CDU hierüber auch völlig abwegig.
Manche Politiker kritisieren die Ungenauigkeit solcher Umfragen und zweifeln die Aussagekraft an. Beispiel USA: Dort hatten beinahe alle Meinungsforschungsinstitute einen Wahlsieg Hillary Clintons vorhergesagt. Und jetzt regiert Trump.
Güllner: Die Vorhersagen zur Stimmenverteilung, dass also Clinton fast drei Millionen Stimmen mehr erzielt hat als Trump, waren korrekt. Nur die Umrechnung in das Wahlmännersystem hat, warum auch immer, nicht funktioniert.
Also lagen viele Institute hier genauso falsch wie beim Brexit …
Güllner: Wenn die Hälfte für und die andere Hälfte gegen etwas ist, können Umfragen bei den immer vorhandenen Fehlermargen keine Auskunft über den exakten Ausgang einer Abstimmung liefern. Genauso können wir bei einem Wert von 5 Prozent für eine Partei nicht sagen, ob sie mit 5,1 Prozent über oder mit 4,9 unter der Fünf-Prozent-Hürde liegt. Hier darf unsere Zunft keine Genauigkeit suggerieren, die sie nicht hat. Institute, die bei Umfragen noch Stellen hinter dem Komma ausweisen, können Sie als unseriös abschreiben. In diesem Sinne spiegelt unsere Umfrage die aktuelle politische Stimmung Anfang 2019 wider – aber Stimmungen sind noch keine am Wahltag sicheren Stimmen.