Hamburg. Spätere Generationen werden voraussichtlich verwundert auf die Zeit schauen, in der öffentlich gequalmt wurde.

Die Menschheit ist einem nie endenden Wandel unterworfen. Oder wie Bob Dylan singt: „The times they are a changin’“. Was gestern noch normal und akzeptiert war, kann heute schon gesellschaftlich geächtet sein. Allein aus der Kulturgeschichte der Hygiene wären da kaum zu zählende Veränderungen zu berichten – besonders in olfaktorischer Hinsicht und was die Ausschaltung von Gerüchen angeht. Dies ist dann auch die perfekte und schnelle Überleitung zum eigentlichen Thema dieses Textes: der kleinen Kulturgeschichte des Rauchens.

Wer über Helmut Schmidt redet, der darf schließlich über die Qualmerei nicht schweigen. Schmidt war in den letzten Jahren seines Lebens nicht nur die letzte von wirklich fast allen akzeptierte moralische Instanz des Landes, er war auch der letzte öffentliche Raucher. Wo Schmidt auch auftrat, es wartete ein Aschenbecher auf ihn. Als er im Mai 2015 letztmals im Fernsehen zu sehen war, verzichtete er selbstredend nicht auf sein Laster. Sandra Maischberger wird so wenig wie irgendjemand anderes versucht haben, Schmidt an seine Vorbildfunktion zu erinnern.

Nikotingenuss stand auch für Welt-Gewandtheit

Schmidt war, als das Rauchen längst geächtet wurde, weiterhin Hardcore-Raucher, er qualmte stur, dreist, genussvoll. Jeder gestand es ihm zu, nicht nur aus Gründen der Sympathie. Sondern auch, weil Schmidt etwas ausagierte, das wir uns längst verboten haben: die ungesunde Sinnenfreude.

Dass die Raucherlobby mit dem Ableben des Altkanzlers einen schweren Schlag hinnehmen musste, war eigentlich gar nicht mehr der Rede wert – es waren der Schläge auch vorher schon viele. 96 Jahre alt wurde Schmidt trotz praktisch lebenslangen Rauchens. Und doch war am Ende auch er sterblich, wobei man mit Fug und Recht sagen kann: An den Zigaretten ist er nicht gestorben.

Gestorben ist zuletzt also auch der Hedonismus, wie wir ihn lange kannten. Nicht nur das Rauchen, sondern auch der Fleischverzehr befindet sich auf dem Rückzug. Spätere Generationen werden mit Verwunderung auf eine Zeit schauen, in der öffentlich Alkohol getrunken wurde und sich fröhlich Dönerspieße drehten. So wie wir heute schon den Kopf schütteln über die dicht gequarzten Büros von noch vor 10, 15 Jahren.

Die Lebenslinie von Helmut Schmidt

 

* 23. Dezember 1918

1918

23.12. Helmut Heinrich Waldemar Schmidt wird in Hamburg als Sohn des Studienrats Gustav Schmidt und seiner Gattin Ludovica im Krankenhaus an der Finkenau geboren.

1925

Helmut Schmidt kommt in die Volksschule an der Wallstraße.

1933

Helmut Schmidt erfährt, dass sein leiblicher Vater Halbjude ist – behält dieses Wissen aber bis 1984 für sich.

1936

Schmidt fliegt aus der Hitlerjugend, weil er den Wunsch nach Freiheit an eine Wand malt.

1937

März Abitur an der Lichtwarkschule in Winterhude; Wehrdienst in Bremen-Vegesack

1939

Feldwebel der Reserve zur Luftverteidigung Bremens

1940

Leutnant der Reserve

1941

Offizier an der Ostfront mit Belagerung Leningrads

1942

27. Juni. Helmut Schmidt heiratet Hannelore („Loki“) Glaser (1919–2010). Die kirchliche Trauung findet am 1. Juli 1942 in der St.­-Cosmae­-und­-Damiani-Kirche zu Hambergen statt.

1944

26. Juni. In Bernau wird Sohn Helmut Walter geboren. Er stirbt dort am 19. Februar. 1945 Zuschauer der Schauprozesse gegen die Widerständler des 20. Juli.Helmut Schmidt wird von wohlmeinenden Offizieren an die Westfront versetzt, um ihn vor Ermittlungen wegen Wehrkraftzersetzung zu schützen.

1945

April bis August Kriegsgefangenschaft.Schmidt wird SPD­-Mitglied.Schmidt beginnt sein Studium der Volkswirtschaftslehre sowie Staatswissenschaft.

1947

Helmut Schmidt wird Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS).8. Mai. Tochter Susanne wird geboren.

1949

Karl Schiller holt Schmidt in die Behörde für Wirtschaft und Verkehr.

1952

Leiter des Amtes für Verkehr

1953-1962

Mitglied des Deutschen Bundestages

1958

März. Helmut Schmidt wird nach Gründung der Bundeswehr zum Hauptmann d. R. befördert. Im Oktober/November 1958 nimmt er an einer Wehrübung in der „Iserbrook­Kaserne“ teil; noch während der Übung wird er mit der Begründung, er sei ein Militarist, kurzfristig aus dem Vorstand der SPD­Bundestagsfraktion abgewählt.

1961

13.12. Senator der Polizeibehörde (später Innensenator)

1965

erneut Mitglied des Deutschen Bundestages (bis 1982)

1966

Kampfabstimmung um den SPD-Landesvorsitz: Schmidt unterliegt Paul Nevermann mit 139 zu 176 Stimmen.

1967

Vorsitzender der SPD-­Bundestagsfraktion (bis 1969)

1968

vierwöchige Reise mit der Familie durch Osteuropa

1972

7. 7. Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen als Nachfolger von Karl Schiller; nach der Bundestagswahl nur Finanzminister

1974

16. Mai. Wahl zum Bundeskanzler

1975

Zusammen mit Giscard d’Estaing ruft Schmidt den Weltwirtschaftsgipfel ins Leben.

1978

6. Mai. Staatsbesuch in Langenhorn: Leonid Breschnew besucht Schmidt zu Hause.

1981

13. Oktober. Helmut Schmidt wird ein Herzschrittmacher eingesetzt. Zuvor musste er zweimal wiederbelebt werden.

1982

1.10. Helmut Kohl wird Nachfolger von Helmut Schmidt.

1983

Schmidt wird Hamburger Ehrenbürger.Schmidt wird Mitherausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“.

1993

Helmut Schmidt ist Mitbegründer der Deutschen Nationalstiftung.Die Helmut und Loki Schmidt Stiftung wird gegründet.

2009

Januar. In Hamburg feiern 400 Ehrengäste den 90. Geburtstag des Staatsmanns – darunter Valéry Giscard d’Estaing, Henry Kissinger und Richard von Weizsäcker.12. Oktober. Loki Schmidt wird Ehrenbürgerin.

2010

21. Oktober. Loki Schmidt stirbt.

2011

Helmut Schmidt tritt im Bürgerschaftswahlkampf für Olaf Scholz auf.

 

† 10. November 2015

1/34

Die in den 1960er-Jahren spielende Fernsehserie „Mad Men“ (2007–2015) ist aus vielen Gründen ein großer Hit geworden. Einer davon war die Hemmungslosigkeit, mit der dort gesoffen und geraucht wurde. Aber neben den Gelagen konnte man in seiner schönsten Pracht noch einmal das bestaunen, was mit dem Nikotingenuss eben auch verbunden ist: Eleganz, Coolness, eine gewisse gesellschaftliche, ja eine Welt-Gewandtheit.

Weltweit geraucht wurde (und wird) in der Tat, seit die Tabakpflanze im 15. Jahrhundert in Amerika entdeckt und rituell zunächst von Medizinmännern genutzt wurde. So war es dann quasi Christoph Kolumbus vorbehalten, den Tabak auch in Europa bekannt zu machen. Die Matrosen, Agenten jener Ur-Globalisierung, fanden Gefallen am Tabak, durften freilich auch noch auf medizinische Heilkräfte hoffen. So wie alle anderen, die das Rauchen schnell zu einer massenhaften Praxis machten. Geraucht wurde zunächst Pfeife, der Siegeszug der Zigarette fiel in das 19. und 20. Jahrhundert.

Goethe behauptete, dass Rauchen dumm macht

Was ein Akt der Gleichberechtigung war: Kaum eine Frau hätte das Paffen einer klobigen Zigarre oder das Herumnuckeln an einer Pfeife als damenhaft empfunden, und so war die filigran wirkende Zigarette durchaus ein Werkzeug weiblicher Selbstermächtigung.

Versuche, den Tabakkonsum einzudämmen, gab es früh, weil er als das gesehen wurde, was er stets war: eine Genussdroge. Der germanische Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe, der der Legende nach übrigens zwei Flaschen Wein am Tag trank, verabscheute den Tabak aus einem anderen Grund, er behauptete einst: „Das Rauchen macht dumm; es macht unfähig zum Denken und Dichten.“

Die Nazis, die ja so gerne und ausschließlich den biologisch kerngesunden Menschen propagierten, initiierten breit angelegte Kampagnen gegen das Rauchen. Verbote in öffentlichen Gebäuden und am Arbeitsplatz, Nichtraucherabteile, Erkenntnisse über das Passivrauchen und besonders eine Einschränkung der Tabak-Reklame – sage keiner, die Nazis seien nicht auch in gesundheitlicher Hinsicht modern gewesen. Mit der vollumfänglichen Vergangenheitsbewältigung hatten es die Deutschen nach 1945 erst einmal nicht so. Leider war es ausgerechnet der Aspekt des gesunden Lebenswandels, den sie sich aber gleich ziemlich konsequent austrieben. In Wirtschaftswunderzeiten und unter dem Einfluss der amerikanischen Populärkultur wurde gerne und viel geraucht. Wer sich heute die TV-Werbung von damals anschaut, ist einigermaßen irritiert. Und kann die Verharmlosung des Nikotinkonsums bestenfalls frivol finden.

Das Image der Zigarette war auf Freiheit fixiert

Die Betulichkeit der deutschen Fernsehwerbung, die 1974 nach einem Beschluss des Bundestags verboten wurde, ist aber vor allem schreiend komisch – man fragt sich, wer sich von derlei Stuss jemals hatte animieren lassen. Etwas anders sah und sieht immer noch, trotz regelmäßig unternommener Versuche, auch das rechtlich zu unterbinden, die Sache im Kino und auf Plakaten aus: Die Tabakindustrie darf dort, mit Einschränkungen, weiter werben. Sie tut das, indem sie junge und gut aussehende Menschen („Liberté toujours“) ins Rennen um den Zigarettenkonsumenten schickt.

Apropos Freiheit: Sie ist seit Beginn des Tabakkonsums und der diesbezüglichen Werbung ein Fixpunkt des Zigarettenimages. Möglichkeiten der Selbstinszenierung, Romantisierung des Alltags, auch eine bestimmte Form der Verruchtheit und Sexyness: Als Ausdrucksmittel hat die Zigarette immer noch einen guten Ruf unter denjenigen, denen die eigene Gesundheit erst einmal egal ist. Im Nachtleben hat die Zigarette seit ewigen Zeiten ihren Platz.

In vielen Kneipen darf jedoch in Deutschland schon seit 2008 nicht mehr geraucht werden, und längst ist die E-Zigarette für viele eine echte Alternative. Der Marlboro-Hersteller Philip Morris setzt künftig ganz auf die rauchfreie Zigarette. Ein Sinnbild für die kontinuierlich fortschreitende Abwendung von der Qualmerei.

Natürlich kann sich niemand Helmut Schmidt mit E-Zigarette vorstellen. Muss ja auch keiner: In Helmut Schmidts Jahrhundert war Rauchen über lange Zeit en vogue, aber in den letzten Jahren wurde es eine seltenere Erscheinung. Zum Solitär Helmut Schmidt passt ganz gut, dass er gefühlt der allerletzte Raucher des Planeten war.