Hamburg. Olaf Scholz und sein umstrittener Vorschlag. Auch in der Bürgerschaft war das Thema präsent. Staatssekretär Bösinger vermittelt.
Von Marathon- oder Skilangläufern kennt man dieses Bild: Kaum haben sie die Ziellinie überquert, brechen sie völlig entkräftet zusammen. Nicht ganz so dramatisch, aber durchaus ähnlich sah es am Donnerstagabend im Rathaus aus. Nachdem die 121 Abgeordneten der Bürgerschaft einen wahren Debattenmarathon bewältigt und um 21.08 Uhr den Haushalt 2019/2020 mit rot-grüner Mehrheit beschlossen hatten, konnten sich zwar alle noch auf den Beinen halten. Aber die Erschöpfung war vielen von ihnen deutlich anzusehen.
Mehr als 20 Stunden lang
Drei Monate lang hatten sie in Dutzenden Ausschusssitzungen schon über den Senatsentwurf für den Doppelhaushalt 2019/2020 beraten, bevor es von Dienstag an drei Tage lang im Plenum zur Sache ging. Mehr als 20 Stunden lang tauschten die Politiker dann noch einmal ihre unterschiedlichen Sichtweisen aus. Nicht jeder der Teilzeit-Parlamentarier, die fast alle noch einem Hauptberuf nachgehen, war sich danach sicher, ob eine derart ausufernde Veranstaltung wirklich nötig war.
Beim abschließenden Umtrunk in der Lobby, zu dem Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) traditionell nach der letzten Sitzung des Jahres einlädt, war jedenfalls auch das Reizwort „Berufsparlament“ – wie es sie in allen anderen Bundesländern gibt – hier und da zu hören. Kurzfristig sind zwar keine Änderungen zu erwarten, aber das Thema bleibt auf Wiedervorlage.
31,5 Milliarden Euro
Von den drei Tagen, an denen über Ausgaben von insgesamt 31,5 Milliarden Euro beraten wurde, blieb aber noch einiges mehr hängen als die Erkenntnis, dass auch sitzen, reden und zuhören ziemlich anstrengend sein kann.
Grundsteuer: Einer, der gar nicht mehr dabei ist, schwebt dennoch hin und wieder wie ein Geist durchs Rathaus: Olaf Scholz. In der Generaldebatte kritisierte Oppositionsführer André Trepoll (CDU) die hohen Mieten, die allen Anstrengungen des Senats zum Trotz weiter steigen. Und dann gebe es ja noch „diesen wahnsinnigen Vorschlag von Olaf Scholz, der die Mieten gerade in Großstädten, gerade hier in Hamburg noch erheblich teurer macht“, so Trepoll – eine Anspielung auf den Vorschlag des heutigen Bundesfinanzministers zur Reform der Grundsteuer.
Mit spöttisch-bösem Unterton wandte sich Trepoll an den neuen Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD): „Was ist da los, Herr Tschentscher? Ist der Kontakt abgerissen? Haben Sie seine Nummer verlegt? Drückt er Sie immer weg? Nutzen Sie doch mal Ihren Einfluss!“
SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf reagierte dennoch erbost: Trepolls Behauptung, das Scholz-Modell führe zu zusätzlichen Belastungen, sei eine Unterstellung. „Woher haben Sie denn die Daten?“, wetterte Kienscherf. Nach seinen Informationen würde das Grundsteuer-Aufkommen in Hamburg, das zuletzt bei rund 475 Millionen Euro im Jahr lag, sogar um sieben Millionen Euro sinken. Der CDU-Fraktionschef sage „ganz bewusst die Unwahrheit“, so Kienscherf. „Und das ist schäbig.“
Der Schlagabtausch hatte zweifelsohne Unterhaltungswert. Neutrale Beobachter stutzten dennoch über beide Äußerungen. Denn tatsächlich ist weder Trepolls Behauptung belegt, das Scholz-Modell führe zu steigenden Belastungen für alle Mieter und Eigenheimbesitzer (für einige natürlich schon, schließlich müssen die bisherigen Ungerechtigkeiten auf Anordnung des Bundesverfassungsgerichts beseitigt werden), noch hatte bis dato jemand gehört, dass in Hamburg sogar eine Entlastung der Bürger möglich sei.
Wie kam das zustande? Das fragte sich auch CDU-Finanzexperte Thilo Kleibauer und reichte umgehend eine Kleine Anfrage an den Senat ein. „Das Scholz-Modell wirft viele Fragen und Unsicherheiten auf“, sagte er. „Die müssen schnell geklärt werden.“
Kompliziertes Modell
Nach Abendblatt-Informationen hat die Finanzbehörde bislang noch nicht ermitteln können, wie sich das äußerst komplizierte Scholz-Modell – das im Kern auf einer Neubewertung aller Immobilien bundesweit fußt – konkret auf Hamburg auswirken würde. Aber das Bundesfinanzministerium (BMF) hat diese Berechnung zumindest überschlagsmäßig für alle Länder durchgeführt, und daraus geht hervor, dass das Aufkommen in der Hansestadt um gut 13 Millionen Euro oder 2,8 Prozent zurückgehen würde. Das wäre etwas näher an den Kienscherf-Aussagen als an Trepolls Behauptung. Und damit könnte der Senat, der den Scholz-Vorschlag skeptisch sieht und zusammen mit Bayern für ein einfaches Modell plädiert, in dem die Grundsteuer einzig nach der Fläche von Grundstücken und Immobilien berechnet wird, zumindest in finanzieller Hinsicht leben.
Doch wie realistisch ist diese Rechnung überhaupt? Um das zu klären, kam am Freitag einer aus Berlin nach Hamburg, den sie hier bestens kennen: Rolf Bösinger, früher Leiter des Planungsstabes der Senatskanzlei und später Staatsrat in der Wirtschaftsbehörde, bevor er seinem langjährigen Weggefährten Olaf Scholz nach Berlin folgte und Staatssekretär im BMF wurde. Bösinger tourt derzeit durch alle Bundesländer und versucht ihnen das Scholz-Modell schmackhaft zu machen.
Belastungen für Bürger
Keine leichte Aufgabe, das zeigte auch das Treffen in der Finanzbehörde. Statt der angesetzten 60 Minuten saß man zweieinhalb Stunden zusammen, und trotz der freundschaftlichen Atmosphäre hielt sich die Annäherung in Grenzen. „Es sind noch sehr, sehr viele Fragen offen“, sagte Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) nach dem Gespräch. Die Experten seiner Behörde und des BMF würden nun Beispielrechnungen für alle 104 Hamburger Stadtteile aufstellen, um zu schauen, wie die Belastungen für die Bürger sich verändern würden.
Dass sich das Steueraufkommen von derzeit 14 Milliarden Euro bundesweit insgesamt nicht erhöhen soll, ist zwar das Ziel aller Beteiligten. Doch darüber hinaus werden alle Kommunen – denen die Grundsteuer zufließt – auf die Auswirkungen für ihre Region achten. Für Hamburg bedeutet das: Dass durch die Reform Villenbesitzer in Harvestehude ent- und Mieter in Billstedt stärker belastet werden, soll auf jeden Fall verhindert werden. Die Zeit drängt nun. Denn die Neuregelung muss auf Geheiß der Verfassungsrichter bis Ende 2019 stehen, das ist für so ein komplexes Projekt ein sportlicher Zeitrahmen. Dass beim nächsten Treffen im Hause Scholz am 14. Januar schon Einigkeit erzielt werden kann, gilt als unwahrscheinlich.
Überraschung: Mitunter sorgen nicht nur Aussagen im Parlament für Überraschung, sondern schon die Aufforderung, überhaupt etwas zu sagen. So erging es Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) in der Debatte über die Arbeitsmarktpolitik. In der Erwartung, dass zunächst die AfD-Fraktion an der Reihe sei, reagierte sie auf den Aufruf von Bürgerschaftsvizepräsident Dietrich Wersich (CDU) zunächst verdutzt. Wie? Ich schon? Ja, so Wersich im gespielten Oberlehrerton: „Hier. Pult. Reden. Haushalt. Arbeit.“ Folgsam düste die Senatorin ans Mikro und wunderte sich: „Man ahnt ja nicht, dass ’ne ganze Fraktion gar nichts zum Thema Arbeitsmarktpolitik zu sagen hat.“
Lustig: Später meldete sich der AfD-Abgeordnete Harald Feineis zu dem Thema dann doch noch zu Wort und zeigte, dass er durchaus etwas von der Materie versteht. Für den Lacher des Tages sorgte er dennoch unfreiwillig: „Ich habe viele alleinerziehende Frauen gehabt“, betonte er – und schob erst in das Gelächter seiner Kollegen nach „... in der Vermittlung!“ Feineis war viele Jahre als Personalvermittler tätig.
Resolut: Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) lässt sich höchst selten aus der Reserve locken und hält sich auch im Parlament in der Regel an ihr Manuskript. Doch in der allerletzten Debatte am Donnerstag ging sie gleich mehrfach in die Offensive und konterte pointiert die Kommentare der Opposition. Eine Zwischenfrage von Heike Sudmann (Linkspartei) verbat sie sich dennoch. „Nein, das will ich nicht, das ist nur ein rhetorisches Mittel“, bügelte sie das Ansinnen resolut ab. Den meisten Abgeordneten war das vermutlich ganz recht. Denn kurz darauf waren die Haushaltsberatungen beendet.