Hamburg. In der Elbphilharmonie kombinierte die Römerin Arien des Venezianers mit Auszügen aus dessen „Vier Jahreszeiten“.

Wir alle waren einmal jung, wir blühten auf und welken; wir werden alle sterben. Das Dasein ist so, der Kreis der vier Lebens-Jahreszeiten muss sich schließen. Mit der existenziellen Eindringlichkeit eines Schopenhauer-Traktats kommt die hintersinnig kluge Programm-Choreografie daher, mit der Cecilia Bartoli zwei Tatsachen zu dieser Unausweichlichkeit präsentiert: wie einfallsreich und bis tief in die hinterste Herzkammer ­gehend Vivaldis Musik ist (zur Erinnerung: Vor der energischen Wiederbelebung durch Bartoli galt der Venezianer als tumber Vielzuvielschreiber, höchstens ein C-Telemann mit roten Haaren). Und, zweite Tatsache, dass sie 52 Jahre alt ist.

Zwei Jahrzehnte, nachdem sie mit ihrem ersten, spektakulären Vivaldi-Konzeptalbum einen Publikumsliebling produzierte und den in Nischen vor sich hin werkelnden Alte-Musik-Spezialisten Frei- und Spielräume eröffnete, kehrte Bartoli nun mit einem neuen Vivaldi-Projekt, ganz anders gewichtet, zu diesen Wurzeln ihrer Karriere zurück. Und räumte, wie sollte es anders sein, mit einem davon inspirierten Sortiment im Großen Saal der Elbphilharmonie ­alles ab, was man dort mit diesem diffizilen Repertoire abräumen kann.

Dieses Gefühl, sich in jede Note zu verlieben

Viel ist passiert. Der präzise funkelnde Koloraturmezzo der Römerin hat noble Jahresringe angesetzt und leuchtet wärmer und satter; was sie jetzt damit macht, spielt, singt und lässt, ist durch und durch unter ihrer Kontrolle. Bis in die Haarrisse der Erschütterung hinein, die sie zulässt, weil sie zu jeder Charakterrolle gehören und die Zeit der ­jugendlichen Naiven vorbei ist. Doch es hat eben auch immer den Drive und diese Gestaltungsfreude des durchlebten Moments, dieses Gefühl, sich in jede Note zu verlieben, als wäre sie die letzte, die man unbedingt noch singen will, bis der Vorhang fällt.

Natürlich will Bartoli im Rampenlicht wie immer verführen, bezaubern, überwältigen, schwindlig singen. Doch sie hat – und das war das wohl Wahrhaftigste an diesem Konzert – inzwischen auch die Größe, den Mut zum Unschönen, zum Zerbrochenen und Gekitteten mit vielsagenden Gesten darzustellen: Bei „Gelido in ogni ­vena“ aus „Farnace“ wurde einem angst und bang, weil sie zur Mutter wurde, die vom Schatten ihres leblosen Sohnes sang und langsam zum Stuhl am Bühnenrand wankte. Und in „Se lento ancora il fulmine“ aus „Argippo“ keifte sie metallisch und zorngallig die Wut einer reingelegten Frau ­heraus. Nichts interessiert sie in solchen Momenten weniger als die Wahrung irgendeiner Form. Hier sollte es wehtun, und je mehr und länger, desto besser. Sie muss nicht mehr für drei trillern, um noch etwas zu beweisen.

Die Musiciens du Prince-Monaco sind als Eingreiftruppe dabei

Vivaldi dieser Güte gibt’s nicht mal eben von der Stange, deswegen hatte Bartoli – anders als auf der aktuellen CD – die Musiciens du Prince-Monaco, 2016 von ihr gegründet, als kleine, feine Tournee-Eingreifgruppe dabei. Auf ­Barockbeamten-Betulichkeit konnte man auch bei denen lange warten. ­Rasante Tempi und aufbrausendes Phrasieren waren Trumpf. Insbesondere Gast-Solo-Geiger Andrés Gabetta spielte auf volles Risiko (und kümmerte sich dabei nicht immer um Intonation). Ausdruck, ach was: Hochdruck sollte A und O sein. Und ohne ein einziges Mal von einem Diven-Rollenkostüm ins nächste zu wechseln, stand nicht nur eine Vivaldi-Bartoli in der Arien-Arena im Großen Saal, sondern gleich zehn. Ihre Auswahl für diesen Anlass war ­ungemein clever, und mit Blick auf den im Barock beliebten Spektakelfaktor geschmackssicher verfeinert: Hier ein Pas de deux nach Noten mit der Solo-Flöte und Vogelzwitschern, dort mit der Solo-Oboe; bei „Zeffiretti che sussurrate“ kam es zum Surround-Vivaldi, weil Bartoli durch die Ränge wanderte, während Ferngeigen und eine Flöte auf anderen Ebenen des Raums unterwegs waren. Mit das Beste, Timing ist ja alles, kam zum Schluss: Das „Se mai senti spirarti sul volto“, jede Note wie aus Samt, anmutig und erwachsen, gereifte Leistung.

Wo die Tonarten nicht ganz der Dramaturgie entsprachen, modulierte sich Kapellchen-Leiter Gianluca Capuani seine Übergänge am Cembalo zurecht, bis eines zum anderen passte. Freihändiges, sympathisches Abschmecken der Zutaten, sehr souverän. Ohnehin stand jede Arie für sich, für den jeweiligen Affekt, als ginge es um eine Therapiestunde, die sich ganz und gar auf einen klar umrissenen Daseinsmoment konzentrierte. Ohne die „Le quattro stagioni“-Intermezzi wären diese Gefühlsausbrüche nur noch drastischer aufeinandergeprallt. Sie rahmten den Abend, beginnend mit dem ersten Satz aus dem „Frühling“ und ausklingend mit dem Ende vom „Winter“. Der Kreis schloss sich, und Bartolis Stimme verstummte schon vor diesem Finale.

Immer anders, immer Bartoli

Erst im Zugabenblock gönnte sie sich Abstecher in andere Werkkataloge: das „Desterò dall’ empia Dite“ aus Händels „Amadigi“, Cherubinos „Voi che sapete“, bis in den fluffig verpuffenden Schluss reizend, aus Mozarts „Figaro“ die Tränchendrücker-Canzone „Non ti scordar di me“ (ohne Jonas Kaufmann, aber mit Mandoline) und ein letztes ­Duell mit dem Trompeter, von „Summertime“ verfremdet, in einer Steffani-Arie. Immer anders, immer Bartoli.

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