Hamburg. Finale des „Greatest Hits“-Festivals mit zwei radikalen Konzertprogrammen und ordentlichem Wein-Gelage auf Kampnagel.
Gäbe es einen Himmel für Konzertkritiker unter Dauerbeschallung, genau so dürfte er aussehen. Man konnte sich endlich einmal hinlegen, um ungestraft abzuschalten, während Musik passierte; nach jedem Aufstehen gab es nicht nur Gebäck für die Gattin wie in Loriots Bettentest-Sketch, sondern ganze Gänge und Wein satt (wahlweise Wasser). Alles war im sehr bekömmlichen Vollpensionspreis von 45 Euro inbegriffen und von Tim Mälzers Speisenwerft so liebevoll wie großzügig im Foyer aufgetischt.
Wer wollte, konnte große Abschnitte des gut siebenstündigen Programms durch moralphilosophisch gerechtfertigtes Dösen in toleranter Gesellschaft überspringen. An diesem ungewöhnlichen Sonnabend auf Kampnagel war das Verdauungs- oder Besinnungsnickerchen – bei so manchem Gast dieses „Symposions“ durch die Weinverkostung unausweichliche Notwendigkeit – gar kein Problem, im Gegenteil.
Zwischendurch Gemüse-Moussaka und Wein
„Klingt irgendwie anders …“, urteilte eine Besucherin fröhlich schon in einer der ersten Zwischenmahlzeit-Pausen nach einem der ersten Gläser. Was wohl nicht nur am jeweiligen Glasinhalt lag, sondern vor allem an der sehr neuen Avantgarde-Musik, mit der das Klangforum Wien ein knappes Dutzend Hör-Portionen zum interessanten Büfett angerichtet hatte. Man musste sich diese Kompositionen, die das Finale des „Greatest Hits“-Festivals bildete, nicht erst schöntrinken, sie waren es schon, jede auf ihre sehr eigene Art.
Einstimmender Auftakt, noch die ganz alte Schule und wie schon bei der Premiere vor sechs Jahren, war Mahlers „Trinklied vom Jammer der Erde“. Der ehemalige Hamburger Opern-Intendant Louwrens Langevoort moderierte die folgenden Stücke launig an und er verwies gern fachkundig auf das antike Vorbild dieser Sause aus Sprit, Speisen und Schall.
Ausufernde Gelage-Szenen spielten sich bis tief in die Nacht zwar nicht ab, es reichte aber immerhin für zunehmend entspanntes Plaudern und den einen oder anderen schnaufenden Schnarcher in der verdunkelten Tiefe des Raumes. Neben den ordentlich ausgezogenen Schuhen, während auf der Bühne Delikatessen wie Sciarrinos lautmalerisch verfremdetes Klarinetten-Solo „Let Me Die Before I Wake“ präsentiert wurde. Und auch das Kichern im Publikum, als Langevoort auf die Möglichkeit des Verdünnens von Wein hinwies, war ein Beleg für das Erreichen des Klassenziels, von dem vor Beginn am Infostand amüsiert die Rede gewesen war: „Dass am Ende möglichst alle Besucher betrunken sind.“
Vor dem Käse ein Schlagzeug-Solo
Ein erster akustischer Hauptgang vor der Gemüse-Moussaka mit Kräutersalat war Klaus Langs „der pythagoräische fächer“, bei dem Lang selbst sehr beruhigend auf der Orgel orgelte. Ob die erst am Ende entdeckten Musiker neben der Bühne ebenfalls gespielt haben? Heilige Eide ablegen möchte man dafür lieber nicht, auch die 50 Minuten angekündigte Spielzeit waren beim konzentrierten Nachdenken erstaunlich schnell vergangen.
Der Theaterschlaf sei ja der gesündeste, witzeln entsprechende Kollegen gern, wenn die Rede auf ihre Arbeitsbedingungen kommt. Musik kam und Musik ging jedenfalls, die Besucher waren inzwischen nach dem Stifado vom Holsteiner Rind fast schon beim Käse, vor dem ein von Xenakis komponiertes Schlagzeug-Solo die satte Ruhe im Saal virtuos pulverisierte.
Ein fernes Echo des Greatest-Hits-Konzerts am Vorabend im Großen Saal der Elbphilharmonie war das: Dort, beim letzten der drei bejubelten Programmpunkte, hatte das NDR-Orchester gleich ein Dutzend Schlagwerker mit mehr als drei Dutzend Instrumenten auf der Bühne aufgefahren, um Edgar Varèses radikale Orchester-Etüde „Arcana“ von 1927 auf Saal und Publikum loszulassen. Brachiale, laute, rohe, immer noch gefährlich-faszinierende Musik in Übergröße, die nach wie vor viel zu selten live von der Kette gelassen wird.
Ein Stück von Olga Neuwirth als Absacker
Dompteur und Sachwalter war der auf solche Spezialitäten spezialisierte François-Xavier Roth. Er behielt die Nerven, lotste das Tutti sicher und klar strukturierend durch diese tolle Buckelpiste. Auch dort wurde, unter ganz anderen ästhetischen Vorzeichen allerdings, einigen Göttern gehuldigt. Es gab zum Auftakt frühen, spröden, hochkonzentriert vergeistigten Boulez, mit „Figures – Doubles – Prismes“ und danach das abenteuerliche „Voci (Folksongs II)“ von Luciano Berio, bei dem Antoine Tamestit seine Bratsche so herzhaft wild bearbeitete, als wäre sein Solopart für die Adoption durch Stadion-Rocker freigegeben worden.
Hypnotisierender, sanft in den Fast-Schlaf zurückwiegender Höhepunkt einen Tag später auf Kampnagel war Terry Rileys „In C“: Minimal Music vom Feinsten, bei dem sich Phasen und Phrasen auch ohne Zugabe von vergorenem Traubensaft kunstvoll groovend gegen- und ineinander verschoben. Danach noch etwas Butterkuchen und ein Stück von Olga Neuwirth als Absacker, und der Rest der Nacht durfte beginnen.
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