Hamburg . Die Stadt plant ein neues Kreativ-Quartier in der alten Wilhelmsburger Fabrik – aber ohne Bleiberecht für die Pioniere.
Sie haben ein Manifest geschrieben, die Thesen auf einem Transparent in eine alte Fabrikhalle gehängt und sich davorgesetzt. In Polstermöbeln vom Sperrmüll wollen sich die Kreativen, die Künstler, der Stadtteilbeirat und die Leiterin der Geschichtswerkstatt eigentlich nicht beschweren. Denn endlich bewegt sich die Stadt und will aus ihrer Industriebrache, um die es hier geht, das Herz eines neuen Künstlerviertels machen. Das Problem: Die 1963 stillgelegten Wilhelmsburger Zinnwerke sind längst Heimat für Künstler und Kreative. Und die wollen beim neuen Plan nicht nur ein Wörtchen mitreden, sondern fordern ein Bleiberecht, das ihnen die Stadt nicht gewährt.
Die Zinnwerke im Reiherstiegviertel – das sind zwei ehemalige Elektrolysehallen nebst Anbau auf einem 11.000 Quadratmeter großen Grundstück am Veringkanal. Außen Industrieromantik, innen Kreativwerkstatt, die schon heute Sitz von Ateliers und Büros ist. Kurzum: ein Paradies für die Kreativbranche, wenn da nicht formale Mängel wie fehlender Brandschutz, fehlende Notausgänge, offene Statikfragen und damit verbundene Nutzungsbeschränkungen wären. Deshalb soll die alte Fabrik nun mit einem „tragfähigen“ Konzept „dauerhaft“ zum „Kreativquartier“ ertüchtigt werden, bevor Sanierungskosten von 800.000 Euro fließen können.
Menschen haben Existenzangst
Während Kultursenator Carsten Brosda beim Startschuss für das Interessenbekundungsverfahren von einem „positiven Entwicklungsschub“ spricht, Falko Droßmann, Leiter des Bezirksamts Mitte, erfreut ein „gutes und objektives Konzept mit den Leuten vor Ort und mit Kultur- und Kreativschaffenden aus dem gesamten Stadtgebiet“ erwartet und Egbert Rühl, Geschäftsführer der Hamburg Kreativ Gesellschaft, eine „dauerhafte Zukunft“ mit dem „besten Konzept“ sieht, haben die Menschen, die die Zinnwerke vor sieben Jahren erst zu einem Kreativquartier gemacht und aufgebaut haben, vor allem eines: Existenzangst.
Dabei kann sich die Entwicklung ohne große Unterstützung der Stadt sehen lassen. In den Zinnwerken sind die Grimme-Preis-nominierten „Konspirativen Küchenkonzerte“ entstanden, hier wurde der hochgelobte Dokumentarfilm „Die Wilde 13“ erdacht, und einmal im Monat zieht der Kulturflohmarkt „FlohZinn“ 5000 Menschen an.
Miete wird gezahlt
Die Nutzer zahlen pünktlich ihre Miete an den Eigentümer, die städtische Sprinkenhof GmbH, halten die Hallen und das Gelände auf eigene Kosten in Schuss, haben Kulturformate mit Mode, Genuss, Kino, Schauspiel und Design getestet und einen Skatepark angelegt. Knapp 100 Menschen arbeiten in den Zinnwerken.
„Nun tut die Kreativ Gesellschaft in ihrer Kommunikation aber so, als ob die Zinnwerke ein weißes Blatt Papier sind“, sagt Kerstin Schaefer von der Film- und Kulinaristik-Schmiede Hirn und Wanst. Statt Zinnwerke werde in der Ausschreibung „Veringhof 7“ benutzt, der „FlohZinn“ sei nur ein Flohmarkt. „Wir werden einfach ausradiert.“ Und dabei gehe es nicht um gekränkte Eitelkeit, sondern um bedrohte Arbeits- und Ausbildungsplätze. Die kreativen Existenzgründer vermissen Mitspracherecht und Standortgarantie. Stattdessen werde alles Bestehende infrage gestellt.
Wichtig fürs Image
Wie wichtig kreative Nischenviertel für das Image einer Stadt sind, zeigt der Blick in jeden ernst zu nehmenden Stadtführer – in London, Peking und New York ebenso wie in Leipzig oder Dresden. Vielleicht liest sich der aktuelle Plan der Stadt für die Zinnwerke deshalb wie eine „Auslese der Besten“ ohne Rücksicht auf die Pioniere. Denn im Ringen mit anderen Metropolen legt Hamburg laut Tourismus-Chef Michael Otremba durchaus Wert auf Kreativ-Quartiere wie das Gängeviertel oder den Oberhafen.
Die Zinnwerke sollen Zentrum eines „Kulturkanals“ in Wilhelmsburg werden. Clubs, Ateliers, Kino und Bühnen am Veringkanal schwebten schon Andy Grote vor, als er noch nicht Innensenator, sondern Leiter des Bezirksamts Mitte war. Nun übernimmt die städtische Kreativ Gesellschaft im Auftrag der Bezirksversammlung den Aufbruch, für den sich die bisherigen Nutzer lediglich bewerben dürfen. Mitentscheiden dürfen sie nicht. Nur „Anregungen der jetzigen Nutzer, örtlicher Akteure und interessierter Initiativen sollen einfließen“.
Mieter fühlen sich nicht gehört
„Anregungen.“ Das sorgt für Unruhe bei der wilden Zinnwerksmischung aus Musikern, Bildhauern, Tätowierern, Stadtforschern wie Dieter Läpple oder Gestalterin Martha Starke vom Designbüro „morgen“. Ihre Gemeinschaft habe sich intensiv mit den Bedürfnissen des Stadtteils auseinandergesetzt, erst sie hätten aus der Fabrik eine vielseitige Kreativwirkungsstätte mit offenen Büros gemacht. Und nun würden ihre Ideen „abgeschöpft“. Nicht nur Paula Zamora, die ihren Traum vom Theater am Kanal (TaK) schwinden sieht, fühlt sich „überrumpelt“.
Egbert Rühl, Geschäftsführer der Kreativ Gesellschaft, nimmt die Befürchtungen „ernst und wahr“. Grundlage eines offenen Verfahrens sei aber, dass alle mit den gleichen Voraussetzungen teilnehmen können. „Es gibt viele Akteure in Hamburg, die Interesse und Ideen für diesen Ort haben. Auch denen will die Kreativ Gesellschaft Zugang ermöglichen.“ Eine Bestandsgarantie der Nutzer habe der Auftraggeber, die Politik in Mitte, „nicht gewollt“.
Neue Kreative seien unbedingt erwünscht und willkommen, sagen die Kulturkanalanrainer. Aber die Ausschreibung der Stadt klinge nicht nach Auf-, sondern nach Umbau. „Dabei gibt es hier riesiges Potenzial“, so Kerstin Schaefer, die mit der Hirn und Wanst GmbH Hauptmieter der Zinnwerke ist und die Mensa der Hochschule für bildende Künste betreibt. „Wir haben viel zu bieten: Expertenwissen, Vernetzung im Stadtteil, Kulturformate. Wir leben hier. Und deshalb wollen wir auch die Spielregeln mitbestimmen.“
Ziel sei ein ökonomisch tragfähiges Konzept
Dass beim Neustart nicht mit den Zinnwerkern geplant werde, sei irritierend, sagt Stadtteilbeirat Lutz Cassel. Er fordert eine Bestandsaufnahme und eine Beteiligung, die den Namen verdiene. Auch der Verein „Zukunft Elbinsel“ befürchtet, dass der Ideenfabrik ein Konzept übergestülpt wird, das nichts mit der bisherigen Verankerung im Stadtteil zu tun habe. Das sieht der SPD-Bezirksabgeordnete Klaus Lübke anders: „Wir waren mit allen Akteuren am Kanal im Gespräch.“ Ziel sei nun ein ökonomisch tragfähiges Konzept. Die Kreativen erwidern: Zinn macht Sinn – jetzt erst recht! Kreativität dürfe nicht nur an Wirtschaftlichkeit gemessen werden.
Ein Konzept von außen sei kontraproduktiv. „Denn wir sind alle schon da – Boxer und Pädagogen, Clubbetreiber und Krankenhausgeschäftsführer, Industrielle, Designer und Metallbauer“, heißt es im Manifest. Honigfabrik, Atelierhaus 23 und auch die inzwischen geschlossene Soul-Kitchen-Halle werden oder wurden längst kreativ genutzt. Doch Egbert Rühl bleibt dabei: „Ein gutes (neues) Nutzungskonzept für die Zinnwerke hat das Potenzial, die Nachbarschaft zu befruchten.“ Die anschließende Sanierung der Hallen hängt laut Sprinkenhof GmbH an der Wirtschaftlichkeit. Sprecher Lars Vieten. „Wir hoffen, dass die Konzeptentwicklung einen Anstoß gibt, dieses untergenutzte Areal wieder mit Leben zu erfüllen.“
Auch das klingt wie ein Schlag ins Gesicht der bisherigen Nutzer und zeigt: Die Verwandlung von alten Fabrikhallen in neue Ausstellungs- und Veranstaltungsflächen ist von großem Interesse. Das Problem an Interesse ist nur, dass jeder sein eigenes hat.
Die Zukunft der Zinnwerke wird am heutigen Freitag (17.30 Uhr) im Bürgerhaus Wilhelmsburg besprochen. Infos im Netz: kreativgesellschaft.org/veringhof oder zinnwerke.de oder kulturkanal.jetzt