Hamburg. Sie wollte ihrem gehbehinderten Mann in die Bahn helfen. Da schlug die Tür zu, klemmte sie ein. Die Zugführerin sah es nicht.

Sie ist 74 und arbeitet noch, hilft anderen auf die Füße. Er ist 84 und nicht mehr ganz so gut zuwege. An einem sonnigen Sonntag wollten die beiden Wedeler gemütlich per Bahn vom Hamburger Hauptbahnhof nach Frankfurt reisen. Sie standen auf dem S-Bahnhof Wedel, um den ersten Teil der Tour mit der Linie S1/S11 anzutreten. Doch das ging gründlich schief. Die S-Bahn-Türen klemmten ihre Hand ein. Dann fuhr der Zug los und ließ den 84-Jährigen auf dem Bahnsteig zurück.

Anschließend verfingen sich die beiden Wedeler heillos in den Mühlen von Technik und Verwaltung, verpassten deshalb ihren Fernzug nach Frankfurt – zudem muss die 74-Jährige die schmerzhafte Verletzung auskurieren. Übrig blieben Ärger über das Verhalten der Bahn und Scham über die vermeintlich erlittene Demütigung. Das Paar will sich deshalb auch namentlich nicht nennen lassen. Ihr Sohn aber machte seinem Unmut Luft und richtete scharfe Angriffe gegen die Bahn. Letztere ging der Beschwerde intensiv nach, konnte den Ärger aber nicht wirklich ausräumen.

Sie wollte ihm in den Zug helfen

Am Sonntag, 14. Oktober 2018, gegen 12.20 Uhr, soll die S-Bahn-Führerin dem älteren Paar die Tür am Bahnhof Wedel vor der Nase geschlossen haben. Dabei war die Frau bereits eingestiegen und hatte ihrem leicht gehbehinderten Mann eine helfende Hand entgegengestreckt, als die Tür wuchtig zuschlug und die Hand einklemmte. Die 74-Jährige schrie vor Schmerz auf, bekam die Hand auch nicht frei. Der Mann blieb auf dem Bahnsteig zurück, die Frau im Zug fuhr los, die Hand zwischen den Hartgummilippen der Waggontür.

Ein S-Bahn-Sprecher bestätigte die Ereignisse. Interne Befragungen der Zugführerin hätten aber ergeben, dass die Zugführerin die ausgestreckte Hand als Abschiedsgeste interpretiert hatte und davon ausging, dass der alte Herr gar nicht einsteigen wollte. Dass die Hand im Einzugsbereich der zuschlagenden Tür verblieb, habe die Zugführerin nicht bemerkt.

Auch helfende Mitreisende bekamen die Hand nicht frei

Helfenden Mitreisenden gelang es nach den Schilderungen der alten Dame nicht, die Tür während der Fahrt so weit zu öffnen, dass die eingeklemmte Hand wieder freikommen konnte. Ein junger Mann nahm per Notknopf Kontakt zur Zugführerin auf. Diese soll den Angabe zufolge einen Halt auf freier Strecke abgelehnt und dem Bittsteller beschieden haben, dass die alte Dame einige Minuten durchhalten solle bis zur nächsten Station: Rissen. Auch das bestätigte der S-Bahn-Sprecher.

Ein Halt auf freier Strecke käme auch bei schweren Verletzungen nicht in Frage, weil Ersthelfer viel besser in Bahnhöfen an den Zug herangeführt werden könnten als auf freier Strecke. Insofern habe die Zugführerin korrekt gehandelt.

Die Hand kam wieder frei, aber der Fernzug war weg

Im Bahnhof Rissen öffnete die Zugführerin dann auch die dem Bahnsteig abgewandte Tür und befreite so die alte Dame aus ihrer schmerzhaften Lage. Die Hand sei angeschwollen, drei Finger bewegungsunfähig, der Schmerz unbeschreiblich gewesen. In Sülldorf stieg sie zusammen mit dem jungen Helfer aus, und sie benachrichtigten ihren Mann in Wedel. Sie entschied, auf ihn zu warten. Den von der Bahn angebotenen Krankenwagen lehnte sie ab. Danach ging es auf eigene Faust zum Arzt, der die Hand ohne Befund röntgte (kein Bruch), eine Schwellung feststellte und Tabletten verschrieb. Die Heilung werde Wochen dauern.

Den Zug für ihre Fahrt vom Hamburger Hauptbahnhof nach Frankfurt konnten die beiden älteren Herrschaften nun nicht mehr erreichen. Die Fahrkarten verfielen. Mittlerweile war der Sohn der alten Dame in Sülldorf eingetroffen und nahm, wiederum vom Bahnhof Sülldorf aus, über die Notsäule Kontakt mit dem HVV auf. Dort habe ihm die Mitarbeiterin am anderen Ende der Leitung erklärt, er solle den Notarzt oder die Feuerwehr rufen. Sie selbst könne nichts tun. Ansonsten bliebe noch der Anruf bei einer Beschwerdestelle am nächsten Tag, wofür sie eine Telefonnummer bereit hielt. Das Problem mit den verfallenen Fahrkarten müsse der Anrufer mit der Deutschen Bahn klären.

Übrig bleibt die Frage, warum die Tür überhaupt zuschlug

Auch hier beschied der S-Bahn-Sprecher, dass der S-Bahn-Service am anderen Ende der Leitung korrekt reagiert habe. Er sei für Hilfe in akuten Notlagen zuständig. Die Kontaktaufnahme sei aber Stunden nach der Verletzung der Hand erfolgt und habe zudem Fragen berührt, die den Fernverkehr betrafen. Gleichwohl bedauerte der Sprecher den Vorfall und sprach von einer Verkettung unglücklicher Umstände. Er hoffe, dass das Ehepaar noch Kontakt zur Bahn aufnehmen werde und das Unternehmen die Gelegenheit bekomme, die Kritik auszuräumen. Bisher hatte der Sohn der alten Dame die Beschwerde geführt. Seine Mutter war, das ergab auch das Gespräch von abendblatt.de mit ihr, zu aufgeregt dafür und zu beschämt. Die Fahrkarten nach Frankfurt konnten die Eheleute in andere Fahrkarten wandeln.

Übrig bleibt neben dem menschlichen Schmerz die rein technische Frage, warum die S-Bahn-Tür überhaupt zuschlagen konnte und nicht per Lichtschranke daran gehindert wurde, die Hand einzuklemmen. Warum die Zugführerin kein Warnsignal empfing und warum die Tür nicht wieder aufging, nachdem ihre technische Sensorik den Fremdkörper zwischen den Hartgummilippen der Türen erspürt haben musste.

Die Antwort bleibt allgemein, der spezielle Fall unerklärt

Die Antwort der Bahn: "Grundsätzlich gilt: Falls ein Reisender oder ein Gegenstand von der Tür erfasst wird, öffnet sich diese wieder automatisch und die Weiterfahrt des Zuges ist nicht möglich. Das System hat einen äußerst geringen Toleranzbereich. Die breiten Gummidichtungen an den Türen sollen darüber hinaus Verletzungen verhindern." Warum all diese Sicherheitsvorkehrungen im vorliegenden Fall nicht gegriffen haben und die Hand der alten Dame nach dem abendblatt.de vorliegenden Protokoll des Arztes tatsächlich nicht unerheblich verletzt wurde, konnte der S-Bahn-Sprecher nicht sagen. Mehr als die gegebene allgemeine Auskunft habe er nicht. Gründe dafür nannte er nicht. Dass der geschilderte und weitgehend ja unstrittige Einzelfall mit seiner allgemeinen Aussage nicht in Einklang zu bringen ist, ließ er so stehen.

Den nahe liegenden Schluss, dass im konkreten Fall der alten Dame die schützende Automatik der Türen eigentlich nur defekt gewesen sein konnte, wollte der Sprecher nicht ziehen. Ein Fall, in dem die Bahn bei ähnlich gelagerten Problemen Schmerzensgeld oder Schadenersatz geleistet habe, sei ihm "nicht bekannt". Die alte Dame geht ab Freitag zur Physiotherapie. Die linke Hand kann sie nicht mehr zur Faust ballen. Zwei Finger machen nicht richtig mit.