Hamburg. Richterin wirft Polizei Ermittlungsfehler vor: Zeugen getäuscht und beeinflusst. Keine Beweise für Schuld des 54-Jährigen.

Sie ist Opfer eines entsetzlichen Verbrechens geworden. Sie wurde vergewaltigt, auf sie wurde mehrfach eingestochen, so dass sie beinahe ihren Verletzungen erlag. Fast 38 Jahre liegt der versuchte Mord und der Missbrauch an Astrid B. (Name geändert) inzwischen zurück. Und jetzt muss das Opfer mit der Gewissheit leben, dass ihr Peiniger wohl nie gefasst werden wird: Am Mittwoch sprach das Landgericht einen Mann frei, der der Tat vom 1. November 1980 verdächtig war.

„Wir konnten nicht feststellen, dass Sie das furchtbare Verbrechen begangen haben“, sagte die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring mit Blick auf den Angeklagten Frank S. Vielmehr habe die Beweisaufnahme ergeben, dass der heute 54-Jährige nicht des versuchten Mordes schuldig sei. „In diesem Verfahren gibt es nur Verlierer.“

Richterin kritisiert Soko "Cold Cases" massiv

Gefasst, mit gefalteten Händen, lauschte der hagere Mann den Worten der Richterin, die erläuterte, warum er aus Sicht der Kammer zu Unrecht in Untersuchungshaft gesessen hat. In der Urteilsbegründung übte die Vorsitzende darüber hinaus massive Kritik an der „Cold-Cases“-Einheit der Polizei, die Frank S. als Verdächtigen ermittelt hatte. Es gebe Hinweise, dass Zeugen „hoch suggestiv befragt“ und „gegebenenfalls sogar getäuscht“ worden seien. Wenn sich ein solches Vorgehen bestätige, seien dies teilweise „verbotene Ermittlungsmethoden“ gewesen. Mehreren Indizien, die zu Lasten des Hamburgers zusammengetragen wurden, sei „aufgrund fehlerhafter Polizeiarbeit kein oder nur noch ein äußerst geringer Beweiswert“ zugekommen“, so die Richterin.

Das Opfer des Verbrechens war am Abend des 1. November 1980 in Steilshoop heimtückisch mit dem Messer angegriffen worden. Die damals 16-Jährige stellte sich tot. Der Täter zog sie noch in ein Gebüsch und versuchte, sie zu vergewaltigen. Als Passanten aufmerksam wurden, ergriff der Verbrecher die Flucht. Das Opfer erlitt schwerste Verletzungen und verlor zwei Liter Blut. Die Jugendliche konnte nur durch eine Notoperation gerettet werden.

Frank S. steht finanzielle Entschädigung zu

Jahrzehntelange blieb die Tat unaufgeklärt – dann nahm sich die Soko „Cold Cases“ des Falls an. Im Februar 2018 erwirkte sie schließlich einen Haftbefehl gegen Frank S. Weil der zur Tatzeit erst 16 Jahre alt war, fand der Prozess vor einer Jugendkammer statt. Viereinhalb Monate saß Frank S. in Untersuchungshaft. Laut Gesetz steht dem 54-Jährigen eine Entschädigung für die erlittene Zeit hinter Gittern zu, für jeden Tag 25 Euro.

Schon der Verteidiger von Frank S., Rechtsanwalt Jan Jacob, und auch die Staatsanwaltschaft hatten Freispruch gefordert. Sein Mandant, so Verteidiger Jacob, sei angesichts des Urteils „ natürlich erleichtert und sieht sich rehabilitiert“.

Befragung des Opfers sei suggestiv gewesen

Wie groß sind die Chancen, ein bald vier Jahrzehnte zurückliegendes Verbrechen aufzuklären? Wie genau kann sich jemand an etwas erinnern, das vor so langer Zeit geschah? Stets ist genau zu hinterfragen, wie zuverlässig Zeugen sind. Und je mehr Zeit vergangen ist, desto größer die Gefahr, dass Erinnerungen getrübt oder überlagert sind. Die Anklage gegen Frank S. hatte sich auf mehrere Indizien gestützt. Da war unter anderem das Opfer der Tat, das angeblich mit 80- bis 90-prozentiger Sicherheit den Verdächtigen auf einem Foto erkannt habe. Tatsächlich sei die Befragung der Frau durch "Cold-Cases"-Ermittler „suggestiv“ gewesen, kritisierte Richterin Meier-Göring, die Frau sei teilweise „gebrieft“ worden.

Zudem habe eine sogenannte Wahllichtbild-Vorlage in keiner Weise den Anforderungen entsprochen, nach denen Fotos von sehr ähnlich aussehenden Menschen gezeigt werden sollen. Auch habe ausschließlich Frank S. auf seinem Foto Kleidung getragen, wie sie zu Beginn der 80-er Jahre typisch war. Auch die Aussage eines Belastungszeugen aus dem früheren Freundeskreis des Verdächtigen sei „in hoch dubioser Weise zustande gekommen“, bemängelte die Vorsitzende.

Wurde Belastungszeugen eine Belohnung angeboten?

Bei einer ersten Vernehmung der Polizei hatte der frühere Kumpel noch gesagt, er könne sich an nichts erinnern, insbesondere nicht an das Tatmesser. Eine Woche später behauptete der Zeuge, er erkenne die Waffe zu 100 Prozent. Im Prozess hatte der Mann dann bekundet, ein Foto des Messers habe seinerzeit im Vernehmungszimmer an der Wand gehangen, versehen mit Pfeilen, die auf Besonderheiten hinwiesen. „Ich brauche wohl nicht zu betonen, wie hoch suggestiv das war“, so die Richterin.

Zudem gebe es Hinweise, dass ein „Cold-Cases“-Ermittler gegenüber dem Belastungszeugen eine mögliche Belohnung erwähnt sowie fälschlicherweise behauptet haben könnte, dass auf dem Tatmesser die DNA von Frank S. zu finden sei. „Solche Vorgaben, wenn es sie denn gab, würden die kriminalistische List überschreiten“, betonte die Richterin. Es wären „verbotene Ermittlungsmethoden“.

Auch „Cold-Cases“-Einheit sei ein Verlierer

Bei diesem Prozess gebe es „nur Verlierer“, sagte die Vorsitzende: das Opfer, das „furchtbares, schreckliches Leid“ erfahren und danach über viele Jahre versucht habe, in Ruhe leben zu können. Und das jetzt die Hoffnung hatte, die Tat würde aufgeklärt. „Wie bitter, ja kaum erträglich muss es für sie sein, dass sie ihren inneren Frieden verloren hat, ohne die Gewissheit zu bekommen“, dass das Verbrechen aufgeklärt wird, sagte die Richterin.

Verlierer sei auch der Angeklagte, der aus seinem Leben gerissen und verhaftet wurde. Und nicht zuletzt sei auch die „Cold-Cases“-Einheit der Polizei Verlierer in diesem Verfahren, weil sie nicht einen „ersten Gerichtserfolg vermarkten“ könne, sondern „erstmal Fehler aufarbeiten“ müsse. „So ein Verfahren darf es nicht noch einmal geben.“ Nichtsdestotrotz sei es wichtig, dass die „Cold-Cases“-Unit ihr „absolut erstrebenswertes Ziel“ weiter verfolge: nämlich lange zurückliegende Taten aufzuklären.