Stellingen. Abschied vom ersten Raubkatzennachwuchs seit 16 Jahren. Ein Jungtier wird nach Schottland vermittelt. Für die übrigen drei Katzen läuft die Suche nach passenden Zoos

    Eine der letzten Chancen, Hagenbecks Tigerfamilie vollständig zu sehen, wollen sich auch drei Halbwüchsige nicht entgehen lassen. „Hey, Jungs, die lassen gleich die Tiger raus“, sagt einer, bevor die Schieber zur Freilaufanlage aufgehen. Wenig später jagen sechs Großkatzen mit mächtigen Sprüngen ins Gehege, zerrupfen die ausgelegten Jutesäcke und nehmen die präparierten Kürbisse nach allen Regeln der Raubtierkunst auseinander. Zähne rein. Pranke drauf. Leb wohl, Kürbis! Oder, wie die Jungs kommentierten: „Voll die Aggressionsanfälle. Die eskalieren total.“

    Ganz so schlimm war es nun auch wieder nicht beim arrangierten Herbsttermin im Tierpark. Aber wenn Rindfleisch in ausgehöhlten Kürbissen versteckt wird, tut ein Sibirischer Tiger, was ein Sibirischer Tiger tun muss. Er zerfetzt alles, was zwischen ihm und dem Leckerbissen steht. Ist angeboren. Kann man nichts machen. Als größte Raubkatze der Erde hat man ja auch einen Ruf zu verlieren.

    Einem anderen Ruf, dem des Erwachsenwerdens, müssen nun die vier Jungtiere folgen, wie der Tierpark am Donnerstag verkündete. Demnach werden die 15 Monate alten, bald geschlechtsreifen Nachwuchstiger Hamburg nach und nach verlassen. Knapp eineinhalb Jahre, nachdem sich Hagenbeck über die vier Tigernachzuchten gefreut hatte, muss das erste Tier, das Männchen Vitali, schon wieder ausziehen. Zuvor hatte der Tierpark 16 lange Jahre auf Tigernachwuchs gewartet.

    Da die Großkatzen paarweise gehalten werden und adult in freier Wildbahn eher Einzelgänger sind, sollen mögliche Konflikte mit der Vermittlung in andere Zoos vermieden werden. Schon jetzt sind die Jungen optisch kaum noch von ihren Eltern zu unterscheiden. „Auch in der Natur suchen sich die Jungtiere nach etwa zwei Jahren ein eigenes Revier“, sagt Hagenbecks Tierarzt Michael Flügger. Insofern sei die Zeit reif. Kater Vitali soll schon in den kommenden Wochen in Schottlands einzigem Safaripark Blair Drummond ein neues Zuhause finden. „Die Entscheidung, welches Tier wohin zieht, treffen nicht wir“, sagt Flügger. Dafür sei Jo Cook, die Londoner Koordinatorin des Europäischen Erhaltungszuchtprogramms (EEP), zuständig. Bei der Verteilung spielt neben dem Bedarf in anderen Tierparks auch die genetische Vielfalt unter den etwa 250 Tigern in europäischen Zoos eine Rolle. Inzest soll zwingend vermieden werden.

    Wie rasch sich Hagenbecks Tigergehege lichtet, werden folglich die kommenden Monate zeigen. Eine vage Option für das zweite junge Männchen besteht bereits in einem japanischen Zoo. Wo und wann die beiden weiblichen Jungtiere unterkommen, ist noch unklar. „Ausschlaggebend ist, welcher Zoo im EEP gerade Männchen oder Weibchen braucht“, sagt Flügger. Auch wann das erwachsene Paar bei Hagenbeck wieder eine Zuchtfreigabe erhält, wird vom EEP-Koordinator entschieden. Gerade das Weibchen Marushka gilt wegen seines raren Genpools als bedeutsames Tier, Vater Yasha kam vor zwei Jahren nach Hamburg. In der Natur sind Sibirische Tiger wegen zunehmenden Lebensraummangels vom Aussterben bedroht.