Hamburg. Wie gut sind Hamburgs Radwege? Teil 1 der neuen Abendblatt-Serie: bedrohliche Ampelschaltung und Fußgängerslalom.
Beim Ausbau des Radverkehrs macht die Stadt Fortschritte, jedoch nicht so schnell wie erhofft. Das zentrale Element der Radverkehrsstrategie, ein Netz aus 14 Velorouten, wird später fertig als geplant. Statt 2020 werden Teile der Strecken, die das „Rückgrat“ des Radverkehrs bilden sollen, erst später ausgebaut sein. Mit dem Fahrradclub ADFC hat das Abendblatt für eine neue Serie sämtliche Velorouten und wichtigen Knotenpunkte getestet – wie gut sind sie?
Zu den in Verzug liegenden Abschnitten zählt die Straße An der Alster (Velorouten 5 und 6), die mit jährlich mehr als zwei Millionen Radlern eine der am stärksten genutzten Strecken überhaupt ist. Aber auch der Ausbau der Hafenstraße (Veloroute 12), des Eppendorfer Wegs (Veloroute 13), der Elbgaustraße (Veloroute 14) und der Veloroute 10 an der Versmannstraße sowie zwischen Harburger Binnenhafen und Hausbruch verzögert sich. Insgesamt sind noch 25 Kilometer des 280 Kilometer langen Netzes ohne Ausbauplan.
120 Kilometer der Velorouten laut Senat fertig
Für den Fahrradclub ADFC ist das symptomatisch. Er bemängelt Tempo und Entschlossenheit des Senats bei der Förderung des Radverkehrs. Auch TU-Verkehrsforscherin Philine Gaffron kritisiert den fehlenden politischen Mut.
Laut Hamburgs Verkehrsbehörde gibt es aber keinen Grund zur Klage: 120 Kilometer der Velorouten seien bereits fertig – darunter aber etwa 100 Kilometer Straße, an denen kein Handlungsbedarf vorlag. Für weitere 140 Kilometer der Velorouten liegen konkrete Pläne vor, ihr Umbau ist bis zum Jahr 2020 vorgesehen. Die Umsetzung werde „mit Hochdruck vorangetrieben“, sagt Behördensprecherin Susanne Meinecke. Eine solche Radverkehrsförderung habe es noch nie gegeben.
Die gefährlichsten Stellen für Radler
Es könnte so schön sein, morgens um 10 Uhr an der Straße An der Alster. Ist es aber nicht. Der Berufsverkehr presst sich noch Auto an Auto stadteinwärts. Zwei Spuren, viel Blech, viel Stillstand. Alltag halt. Genau wie auf dem Radweg daneben. Auch viel los, allerdings anders und mit weniger Platz. Der Radweg ist gut zwei Meter breit, dafür mit Gegenverkehr, brenzligen Überholmanövern, kreuzenden Fußgängern und stellenweise uneinsehbaren Kurven. Ein Rennradfahrer kann gerade noch fluchend einem entgegenkommenden Vater mit Kinderanhänger ausweichen. Alltag halt.
Der im Prinzip malerische Radweg hat für Hamburg eine ebenso große Bedeutung wie die Straße für die Autos. Eine Hauptroute der Zweiradgesellschaft, mehr als zwei Millionen Fahrräder kommen hier pro Jahr vorbei, zwei Velorouten werden an dieser Stelle gebündelt. „Aber es ist einer der gefährlichsten Radwege Hamburgs“, sagt Johanna Drescher, Leiterin der hiesigen Geschäftsstelle des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). Viele Beschwerden, aber seitens des Senats kein Plan, wie sich dieses Nadelöhr auflösen ließe.
"Brennpunkte des Radverkehrs"
Kritische Enge An der Alster, erzwungener Fußgängerslalom auf Stresemannstraße und Hoheluftchaussee, lebensgefährliche Ampelschaltungen am Dammtor: Laut ADFC sind das nur einige der vielen „Brennpunkte des Radverkehrs“. Sie stünden exemplarisch für den enormen Nachholbedarf auf den gegenwärtigen Hauptwegen der Zweiradfahrer. Denn bis die 14 Velorouten das beabsichtigte „Rückgrat des Hamburger Radverkehrs“ bilden, fährt die Masse an den Hauptverkehrsstraßen. Radfahrer suchen gemeinhin den kürzesten Weg, sind „bremsfaul“ und „umwegsensibel“. Sie auf Velorouten zu lenken wird ein hartes Stück Arbeit. Und dauert wohl noch.
Dort, wo sich der Radverkehr heute abspielt, liegt „viel im Argen“, sagt Dirk Lau, Hamburgs ADFC-Vize, bei einer 20 Kilometer langen Rundtour durch die Stadt. „Vielerorts geben wir den Radwegen die Note ,Sechs‘.“ Gefährlich, schlecht ausgebaut, nur für „Hardcore-Biker“ zu benutzen.
Nicht grundlos will der Senat den Anteil des Radverkehrs mit einer 35 Millionen Euro teuren Ausbauoffensive auf 25 Prozent steigern. Lärm, Abgase und Flächenverbrauch sollen damit reduziert werden. Derzeit liegt der Anteil erst bei 15 Prozent. Fernab der Velorouten wage sich die Stadt nicht, den Platz für den Autoverkehr zu beschneiden, meint der ADFC. Auch nicht An der Alster. „Wir würden uns bei der Umsetzung der Fahrradstrategie mehr Entschlossenheit wünschen“, sagt Drescher.
Bedrohliche Ampelschaltungen am Dammtor
An der Straße Alsterglacis (Dammtorbahnhof), einem Radweg-Knotenpunkt, sei die Ampelschaltung für Radfahrer in Richtung Uni schlecht. Rechtsabbiegende Autos haben zur gleichen Zeit Grün. „Hier kommt es immer wieder zu extrem gefährlichen Situationen, weil Radfahrer übersehen werden“, sagt Drescher.
Laut Statistik waren abbiegende Autos im vergangenen Jahr die Hauptursache für schwere Radunfälle. Allein 563 Zusammenstöße gab es deswegen. Der ADFC macht auch Ampelschaltungen wie am Dammtor dafür verantwortlich.
Gefährliche Stellen gebe es aber auch auf bereits umgebauten Straßen. Am Gänsemarkt in Richtung Valentinskamp werden Radfahrer in die Mitte der Fahrbahn auf einen niedlichen Radstreifen geführt – zwischen links- und rechtsabbiegenden Autos sowie wartenden Bussen. „Wenn sie da zwischen zwei 40-Tonnern stehen, bleibt nur die Angst. Und dann kann man sich mal fragen, ob man dort seine Kinder allein fahren lassen würde“, sagt Drescher. Für den ADFC ein verkorkster Alibi-Abbieger, zumal der Schutzstreifen auf dem Valentinskamp abrupt endet.
Fußgängerslalom an der Stresemannstraße
Auf der Caffamacherreihe in Richtung Planten un Blomen ist Rad-Infrastruktur gar nicht erst vorgesehen. Während der zweispurige Autoverkehr ungeduldig drängt, fahren viele Radler genötigt auf dem Fußweg – und empören die Fußgänger. Ein Bild, das auch auf der Stresemannstraße zur Normalität gehört. Der halbe Hamburger Westen fährt hier in die City oder aus der Stadt heraus. Aber statt in der Tempo-30-Zone auf der Fahrbahn fahren zu dürfen, werden Radfahrer per Benutzungspflicht auf die Borde gezwungen. Vor und hinter der Sternbrücke fehlt ein eigener Radweg, folglich ist das eine Schiebstrecke oder ein Fußgängerslalomparcours. „Das Fahren auf der Fahrbahn wäre sicherer und sinnvoller“, sagt ADFC-Tester Dirk Lau. Der Gipfel für den Radlobbyisten: An der Baustelle des Kaltenkirchener Platzes werden Radler gleich ganz ausgesperrt. Nur um per Umleitung zu einer schmalen Gleisunterführung zu gelangen, die sich Fußgänger und Radler teilen müssen. „Dauernd Beschwerden“, sagt Lau.
Dass noch nicht alles Gold ist, weiß auch Verkehrsforscherin Philine Gaffron von der Technischen Universität Hamburg. Aber: „Es hat sich beim Radverkehr viel verbessert. Allerdings ist Hamburg auch auf einem vergleichsweise schlechten Niveau gestartet.“ Deshalb könne noch nicht alles funktionieren.
Um von einer auto- zu einer radgerechten Stadt zu werden, sei es ein langer Weg. Das definierte Ziel „Fahrradstadt“ müsse insofern „konsequenter“ an den Hauptwegen des Radverkehrs verfolgt werden. Im Grundsatz hält es Gaffron genau wie der ADFC aber für „großartig“, dass es ein „Bündnis für den Radverkehr“ und gemeinsame Ziele von Behörden und Bezirken gibt. An denen müsse sich der Senat messen lassen.
Nach einer entspannten Passage durch den Volkspark holt Dirk Lau an der Volksparkstraße die baumwurzelgedellte Holterdiepolter-Radwege-Realität wieder ein. Die Kreuzung zur Kieler Straße ist hübsch erneuert worden, aber alles davor ist alter Hamburger Standard: knapp einen Meter breit, ruppig gepflastert, vergessenes Ödland. Als Erfolg darf hier gelten, wenn Fußgänger und Radfahrer aneinander vorbeikommen, ohne handgreiflich zu werden.
Verkehrsforscherin fordert mehr Tempo-30-Zonen
Das Problem sei, dass der Senat seine gesamte Radstrategie auf den Velorouten bündelt, sagt Lau. „Dabei bleibt die Situation an vielen Hauptstraßen und Achsen wie Kieler Straße oder Osdorfer Landstraße katastrophal – und das auf Jahre –, oder es wird wie an der Habichtstraße der autogerechte Status quo zementiert.“ Um das Niveau anderer Modellstädte des Radverkehrs zu erreichen, müssten laut Verkehrsforscherin Gaffron unter anderem auch mehr Tempo-30-Zonen eingerichtet werden.
Vermeintlich zukunftsfähig umgebaut ist der Lokstedter Siemersplatz. Der Weg dorthin über die Vogt-Wells-Straße ist Berg-und-Tal-Fahrt, aber richtig „lustig“, sagt Dirk Lau, wird es erst am Platz selbst. Eine Abfahrt des Radwegs auf die Straße wurde inzwischen per Schild gesperrt. Planer und Radfahrer hätten ziemlich schnell gemerkt, dass die auf die vierspurige Straße führende Radspur zu kurz, zu gefährlich und für alle zu überraschend kommt. Die Folge: akute Lebensgefahr. Dass auch die Spur für rechtsabbiegende Radler zum Lokstedter Steindamm vergessen wurde? Tja.
Warum drängt sich der Eindruck der Halbherzigkeit bei der Radverkehrsstrategie auf? Martin Bill, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen, sagt: „Als Politiker wünsche ich mir immer, dass es schneller geht; aber ein derart großes Projekt geht leider nicht über Nacht.“ Rot-Grün mache so viel wie keine andere Regierung zuvor. Mehr als 200 Maßnahmen werden derzeit geplant. „So viele, dass wir bei einigen Projekten gar keine Büros mehr finden, die Planungskapazitäten haben. Auch Baumaßnahmen mussten schon verschoben werden, weil keine Baufirma gefunden wurde.“
"Ziel von 50 Kilometer Radweg im Jahr verfehlt"
Dem ADFC-Tester würde es manchmal schon reichen, einen Radweg zu finden. An der Hoheluftchaussee gleicht Radfahren dem Abtasten eines Flickenteppichs. Radweg, Fußgänger, kein Radweg und noch mal von vorn. Gelinde gesagt: heikel. Auch beim Schlussakkord auf dem neuen Radstreifen auf der Edmund-Siemers-Allee ist Dirk Lau nicht ganz zufrieden. Top-Belag, aber keine Möglichkeit zum Überholen, zeitgemäß sei das nicht. Die Ausbaubreite von 1,85 Metern beziehe sowohl die Markierung als auch den Bordstein mit ein – unterm Strich an der falschen Stelle gegeizt.
Für CDU-Verkehrexperte Dennis Thering passt das ins Bild. 2017 wurden 30 Kilometer Radverkehrsinfrastruktur fertigstellt, zuvor waren es noch 45 Kilometer – und 33 Kilometer 2015. Das Ziel von 50 Kilometern pro Jahr sei verfehlt worden, die „Bilanz unbefriedigend“. Für Dirk Lau sei das Verfehlen des Zeitplans bei „so ehrgeizigen“ Vorhaben wie Velorouten und Fahrradstadt zwar nachvollziehbar. Andererseits sei es das einzige Ziel zum Radverkehr im Koalitionsvertrag, das mit einem Datum hinterlegt war.
Lesen Sie am Mittwoch: Die Veloroute 1 im Test – von der City nach Rissen