Hamburg. Nach einem Unfall sitzt der bekannte Trainer im Rollstuhl. Das Hamburger Abendblatt hat den 78-Jährigen begleitet.
Neulich ist Uwe Seeler mal wieder vorbeigekommen. „Hallo Eugen, wie geht es dir?“ Eugen Igel setzte sich in seinen Rollstuhl, dann sind sie nach nebenan ins Café am Maienweg gefahren und haben geplaudert. Über den Fußball von heute und die alten Zeiten, über den HSV und Jogis Nationalmannschaft, über Sepp Herberger und Uwes erste Weltmeisterschaft vor 60 Jahren in Schweden, über Charly Dörfel und seine Späße auf und vor allem neben dem Platz.
Manchmal taugen Erinnerungen, um das Leben leichter zu machen.
Nach zwei Stunden mit Anekdoten im Minutentakt haben sie sich verabschiedet. „Bis bald, Eugen.“ Bevor Uwe Seeler in sein Auto gestiegen ist, hat er noch gesagt: „Eugen Igel war und ist immer noch ein unglaublich beliebter Mann im Hamburger Fußball. Als Trainer ein absoluter Fachmann und gleichzeitig ein ganz feiner Kerl. Ich finde es bemerkenswert, wie er sein Schicksal meistert.“ Uwe Seeler machte ein kurze Pause: „Und ich bewundere ihn, weil er nicht aufgegeben hat.“
Einige Wochen zuvor hatte sich Eugen Igel einen Strohhut mit schwarz-rot-goldenem Streifen auf den Kopf gesetzt. Er trug eine poppige Sonnenbrille und hatte den blauen Trainingsanzug vom Hamburger Fußball-Verband angezogen. Dann ging es mit einem Spezial-Taxi nach Jenfeld.
Auf die Terrasse neben den Kunstrasenplätzen des Hamburger Fußball-Verbands knallte die Sonne. Knapp 50 Schiedsrichter hatten sich zum Saisonabschlussfest in Jenfeld eingefunden. Es gab ein paar Auszeichnungen und kleine Geschenke, kalte Getränke und ein großes Grill-Büfett. Und wenig später ein Gruppenfoto auf dem Fußballplatz mit Eugen Igel und „seinen Jungs“.
Ein junger Schiedsrichter beugte sich herunter zu Eugen Igel und gratulierte ihm nachträglich zum Geburtstag. „Alles Gute für dich.“
Vor drei Jahren hatte das Sommerfest an gleicher Stelle stattgefunden. Eugen Igel hat damals die besten Unparteiischen in Hamburg trainiert, damit sie an den Wochenenden fit waren. Sechs Jahre lang war er Trainer von Hamburgs Schiedsrichtern, von denen es einige bis in die Erste und Zweite Liga schafften.
Es ist der 25. Juni 2015. Das traditionelle Spiel gegen eine Auswahl der Hamburger Journalisten haben die Schiris mit 8:2 für sich entschieden. Anschließend wird gefeiert. Und am Ende dieser feuchtfröhlichen Veranstaltung fragt der junge Schiedsrichter, ob er Eugen Igel mit dem Taxi mitnehmen soll. Es geht noch auf einen Absacker in die Bar Big Easy in Barmbek. Eugen Igel nickt am Tresen ein. Der junge Schiedsrichter leiht sich gegen 3.20 Uhr einen Smart. Car2go. Fünf Minuten später kommt es um die Ecke zu einem fürchterlichen Crash.
Im Unfallbericht der Polizei heißt es später: „Tatzeit 26.6.2015, 3.25 Uhr, Tatort Hufnerstraße/Rübenkamp. Am Unfallort kam der Fahrer von der Fahrbahn ab und stieß gegen den Mast einer Lichtzeichenanlage. Dabei wurde der Beifahrer schwer verletzt.“
Von einem Moment auf den anderen ändert sich alles im Leben des Eugen Igel. Und auch für den jungen Schiedsrichter ist von nun an nichts mehr so, wie es war.
Eugen Igel ist im Hamburger Fußball eine Legende. Man muss vorsichtig sein mit solchen Begriffen. Aber es gibt nur wenige, die so lange in solch unterschiedlichen Funktionen im Amateurbereich tätig waren. Und noch weniger, die so viel Erfolg hatten. Zehn Meisterschaften, fünfmal Vizemeister, zweimal ist er mit seinen Teams in die nächsthöhere Staffel aufgestiegen. Einmal scheiterte er am Aufstieg in die Zweite Bundesliga.
Es sind, wenn man so will, Erfolge aus seinem ersten Leben.
Eugen Igel sitzt jetzt in einem Rollstuhl. Er kann die Beine nicht bewegen. Und die Finger auch nicht. An der linken Hand spreizen sie sich, dort kann er bei Bedarf eine spezielle Halterung anbringen. Für nahezu alles, was er tun möchte, muss er jemanden um Hilfe bitten. Er hat seine Selbstständigkeit verloren.
Aber nicht seinen Kampfeswillen. Das ist wie früher auf dem Platz.
Eugen Igel erzählt, wie sich das Leben jetzt anfühlt. Es ist auf 40 Quadratmeter zusammengeschrumpft. Ein helles Zimmer, von dem noch ein kleines Bad abgeht. An der Wand ein großes Krankenhausbett, das Fenster geht zum grünen Innenhof. Davor ein Schreibtisch, auf dem sein iPhone und ein größeres Tablet in einem Ständer stehen, sodass er die Tasten mit dem kleinen Stift der Manschette an seiner linken Hand bedienen kann. Daneben auf dem Fußboden in der Zimmerecke ein riesiger Fernseher.
An den Wänden Trikots, Mannschaftsfotos, Zeitungsausschnitte. In den Regalen Pokale, Meisterschalen und Fußbälle mit Autogrammen. Stumme Zeugen seiner zahlreichen Erfolge als Hamburger Fußballtrainer.
Er erzählt, wie groß die Unterstützung für ihn ist. Durch seine Familie. Und seine vielen Fußball-Freunde, die er über all die Jahre kennengelernt hat.
Er hat dem jungen Unfallfahrer niemals Vorwürfe gemacht
Der Unfall? „Ich weiß nur noch“, sagt Eugen Igel, „dass es einen unheimlich lauten Knall gegeben hat – und dass ich im Krankenwagen wieder aufgewacht bin.“ Ganz Barmbek müsse davon wach geworden sein. So heftig sei der Aufprall gegen einen Ampelmast gewesen.
Warum das passiert ist? „Darauf habe ich keine Antwort“, sagt Eugen Igel.
Der junge Fahrer war schon am nächsten Tag bei ihm am Krankenbett. „Er besucht mich bis heute regelmäßig“, sagt Eugen Igel. Hat er dem jungen Schiedsrichter jemals Vorwürfe gemacht? „Noch nie.“
Er musste vor Gericht ziehen, damit der Unfall und die finanziellen Folgen geklärt werden konnten. Es gab unterschiedliche Aussagen über den Unfallhergang vor Gericht. Wenn der junge Schiedsrichter zu Besuch kommt, dann sprechen sie über alles Mögliche. Über spannende Spiele, über das Regelwerk, über Tabellenstände. Über Pokal-Überraschungen und über Meisterschaften.
Über den Unfall sprechen sie nicht.
Und über die anderen Folgen? Dass sein Leben von einem Moment auf den anderen zu Bruch gegangen ist? „Es ist passiert, und ich kann es ja jetzt nicht mehr ändern“, sagt Eugen Igel.
Was überlegt und pragmatisch klingt, ist das Ergebnis eines langen und schmerzhaften Prozesses. Und eines Kampfes, bei dem Aufgeben nie eine Option gewesen ist. Auch wenn zwischen dem Unfall und heute insgesamt elf Krankenhausaufenthalte liegen. Eine schier endlose Liste von medizinischen Versuchen, ihn am Leben zu halten oder die Folgen des ständigen Wundliegens zu behandeln. Die beiden längsten waren in der Asklepios Klinik St. Georg und in der Uniklinik Eppendorf (UKE) und dauerten 47 Tage. Die kürzesten waren in der Klinik Barmbek und im UKE mit sechs und sieben Tagen. Quasi stellvertretend für alle Ärzte geht sein besonderer Dank an UKE-Professor Marco Blessmann, sagt Igel.
Im Februar 2016 musste Eugen Igel für zehn Tage ins Krankenhaus Heidberg. Zu mühsam waren das Atmen, das Sprechen und das Schlucken geworden. Die Ärzte führten einen Luftröhrenschnitt durch und setzten ihm eine Trachealkanüle ein.
Eugen Igel ist jetzt 78 Jahre alt. Er ist mitten im Krieg, am 20. Mai 1940, in St. Georg in Hamburg zur Welt gekommen. Seinen Vater hat er nie kennengelernt. „Der ist auf der Krim gestorben.“ Seine Mutter ist mit ihren drei kleinen Kindern nach den Bombenangriffen auf Hamburg nach Tönning gezogen. „Dort haben wir zu viert in einem Zimmer im Fliegerhorst gewohnt.“
1953 sind sie nach Hamburg zurückgekehrt. Eugen hat auf dem Gymnasium Heimfeld sein Abitur gemacht und wollte Sportjournalist werden. „Ich habe beim ,Hamburger Abendecho‘ zwei Jahre volontiert.“ Sie haben jeden Sonntag gearbeitet. Und hinterher ging es vom Pressehaus am Speersort immer noch in die Kneipe. „Das hat meine Ehe nicht ausgehalten. Aber heute habe ich ein gutes Verhältnis zu meiner Frau.“
Facebook ist sein Anschlussan die Welt da draußen
Der Fußball behielt in seinem Leben immer die Oberhand. „Irgendwann rief mich St. Paulis Präsident Wilhelm Koch an und fragte, ob ich nicht Geschäftsführer beim damaligen Regionalliga-Club werden wollte.“ Fünf Jahre lang führte er vom Schreibtisch am Millerntor aus die Geschicke des Vereins. „Bis Ernst Schacht Präsident wurde, dann ging es nicht mehr.“
Eugen Igel ging zum Hamburger Fußball-Verband. Eine sichere Anstellung. 35 Jahre lang, bis 2005, war er für Spielansetzung und Verbandsgericht, Frauen- und Mädchenfußball zuständig. Und begann eine beispiellose Trainerlaufbahn. Sein Rezept? „Ich habe immer sehr viel Wert auf gute Menschenführung gelegt“, sagt er. „Viele Einzelgespräche geführt.“ Aber auch: „Zuckerbrot und Peitsche, sonst nutzen die Spieler deine Gutmütigkeit gnadenlos aus.“ Und er hat sich auf jedes Training gezielt und akribisch vorbereitet. „Manchmal habe ich bis zu zwei Stunden lang einzelne Trainingspläne ausgearbeitet.“
Eugen Igel, der sich selbst als mittelmäßigen Fußballer („Zweikampfstark, aber danach den Ball sofort zum nächsten Mann spielen“) bezeichnet, hat seine Trainerlaufbahn in Bendestorf begonnen. Er hat danach beim Horner TV, beim Lauenburger SV, beim VfL Lohbrügge, bei Holstein Quickborn, bei Urania, bei Rasensport Elmshorn und bei Hummelsbüttel gearbeitet. Dort trainierte er Ex-Profis wie Georg Volkert, Peter Hidien und Manfred Mannebach, aber auch junge Talente wie den späteren HSV-Profi Jens Duve.
Sie schafften 1985 mit Hummelsbüttel die Teilnahme an der Aufstiegsrunde zur Zweiten Bundesliga. Gegen Rot-Weiß Essen musste vor 5500 Zuschauern auf dem Platz von Barmbek-Uhlenhorst ein Sieg her. 2:0 führte Hummelsbüttel, ehe sehr leichte Abwehrfehler schließlich zur 2:3-Niederlage führten. „Vorher hatte es über Dritte Angebote von Geldzahlungen aus Essen an uns gegeben, die wir natürlich abgelehnt haben“, sagt Igel. Heute sagt er: „Ich gehe mal davon aus, dass damals gemauschelt wurde.“
Eugen Igel kennt Hunderte von solchen Geschichten. Er ist ein wandelndes Lexikon. Er beantwortet noch heute zahlreiche Anfragen von Interessierten über Spiele und Spieler aus dem Hamburger Amateurfußball. Er benutzt dafür einen dünnen Stift, den er sich mit einer Ledermanschette an die leblose linke Hand gehängt hat. Es ist seine Antwort auf den Verlust der Selbstständigkeit.
Hat er einen Psychologen zu Hilfe genommen, um mit seinem Schicksal fertig zu werden? Oder sich zumindest damit zu arrangieren? „Nein“, sagt Igel. „Das bringt doch nichts.“ Natürlich habe er sich oft gefragt, warum ihm das passiert sei. „Aber die Gedanken habe ich dann schnell von der Platte gefegt.“
Man muss schon etwas nachbohren, um zu erfahren, dass er sehr oft gegen die Verzweiflung ankämpfen musste. „Da sind auch Tränen geflossen.“ Es sei eine schwere Zeit gewesen. Das Schlimmste sei, dass man von einem auf den anderen Moment rausgerissen wird. Aus dem Leben, aus der Gemeinschaft. „Es gab Perioden, wo ich kaputt war“, sagt er. Das seien „Tiefpunkte“ gewesen, „wenn ich dann meinen Moralischen bekommen habe“.
Wenn er in seinem Stuhl am Fenster gesessen hat, und da draußen sind die Leute vorbeigelaufen. „Die haben sich vielleicht zu einem Bierchen verabredet und konnten da einfach hingehen.“ Das sei für ihn alles „so unendlich weit weg“.
Jede Nacht kommt ein Pfleger und dreht ihn nach drei oder vier Stunden auf die andere Seite. „Ich kann nur drei Stunden auf einem Luftkissen sitzen.“
Nach der ersten Operation sagte der Arzt, dass sie eine weitere OP machen würden, weil die Chance bestehe, dass er vielleicht wieder seine Beine bewegen könnte. „Das hat aber nicht geklappt.“
Sein Tagesablauf ist fest strukturiert. 7.30 Uhr Wecken, danach Frühstück. Ab zehn Uhr wird er in den Rollstuhl gesetzt. Er beantwortet an seinem Computer Fußball-Fragen, ist bei Facebook sehr aktiv, hat bis zu 250 Klicks pro Tag und manchmal 6000 Facebook-Freunde, die ihm folgen. „Das ist für mich der Anschluss zu der Welt da draußen.“
„Ich bin in der Diaspora aufgewachsen“
Nach dem Mittag kommen ab 14 Uhr die ersten Besucher in sein Zimmer im Alten- und Pflegeheim am Maienweg. Sie bleiben ein, zwei Stunden. Danach Zeitunglesen und Fernsehen. Eugen Igel empfängt Sky und schaut nahezu jedes Fußballspiel.
Woher nimmt er den Lebensmut? „Die Verwandtschaft ist mein Halt. Und die vielen Freunde aus dem Fußball, die mich nicht vergessen haben.“
Und noch etwas gibt ihm Kraft – sein Glaube. „Ich bin in der Diaspora aufgewachsen.“ Als Katholik in Hamburg und Schleswig-Holstein. Eugen Igel war als Junge Messdiener, er ist auf Eiderstedt mit Altären und Messgewändern groß geworden. Am Wochenende ist er mit den Pastoren zu den Gottesdiensten in Husum und St. Peter-Ording gefahren. „Das hat mich geprägt.“
Er ist noch heute gläubiger Katholik, findet Kraft im täglichen Gebet und ist auch in seiner Zeit als Fußballtrainer sonntags zur Kirche gegangen, wann immer es möglich war. Weihnachten war er mit dem Rollstuhl im Mariendom. Im dortigen Kolumbarium hat er sich bereits ein Urnengrab ausgesucht. Gibt es ein Leben nach dem Tod? „Ich hoffe.“ Angst vor dem Tod hat er nicht. „Hatte ich nie.“
Ist es also Gottes Wille, dass er ihm, dem aktiven Ausnahmetrainer, diese harte Prüfung am Ende seines Lebens auferlegt hat? Eugen Igel überlegt lange. „Ich muss das so in Kauf nehmen“, sagt er schließlich. Ja, vielleicht sei das eine Art Prüfung. Einerseits sei er enttäuscht und habe auch mit dem Blick nach oben oft gefragt: „Warum ich?“ Andererseits habe ihn dieser fürchterliche Schicksalsschlag in seinem Glauben noch fester gemacht.
Und er hat auch die Hoffnung nicht aufgegeben. Die Hoffnung, „dass ich eines Tages vielleicht doch noch einmal alleine laufen kann“. Eugen Igel ist ständig im Internet auf der Suche nach technischen Fortschritten für Querschnittsgelähmte. Nach Roboterhänden und Roboterbeinen zum Beispiel. „Vorher konnte ich ja alles machen, was ich wollte.“ Nun braucht er für alles einen Menschen, der ihm hilft.
Wenn es so etwas wie Glück in seiner Situation gibt, hat dieses einen Namen. Cornelia Griggs, seine Nichte, ist zu seiner größten Stütze geworden. „Sie ist meine Generalsekretärin.“ Sie kümmert sich um sämtliche Behördenangelegenheiten, ums Einkaufen, um sein Wohlergehen. „Sie ist meine wichtigste Person.“
Cornelia Griggs sitzt in einem Café in Winterhude. Hier betreibt sie mit ihrem Mann einen trendigen Laden mit Mode, Schmuck und Einrichtungsgegenständen. Den ersten Concept-Store am Mühlenkamp. Die Diplom-Modedesignerin hat sich vor vier Jahren selbstständig gemacht. Zuvor hat sie bei einem großen Modeunternehmen gearbeitet und ist viel um die Welt gereist. Als vor elf Jahren ihre Tochter geboren wurde, hat sie den Job aufgegeben, um freiberuflich zu arbeiten und sich um ihr Kind zu kümmern.
Cornelia Griggs ist 54 Jahre alt und hat, quasi von heute auf morgen, noch einmal einen Menschen an ihre Seite bekommen, um den sie sich jetzt sehr intensiv kümmert. „Eugen ist der Bruder meiner verstorbenen Mutter.“ Nach dem Unfall hat zuerst ihr Vater alles geregelt. „Doch der ist 85, und irgendwann hat er es dann einfach nicht mehr geschafft.“
Cornelia sagt, dass sie vorher nie sehr viel Kontakt zu ihrem Onkel gehabt habe. Man habe sich dann und wann auf Geburtstagen und Familienfesten gesehen. „Aber jetzt war da ja keiner mehr, und dann ist es doch gar keine Frage, dass man zur Stelle ist.“ Eugen Igel sagt: „Ohne Conny ginge das alles nicht.“
Cornelia Griggs hat eine Generalvollmacht. Sie macht die gesamte Buchhaltung und die Korrespondenz. Mit der Versicherung und der Krankenkasse, den Anwälten und dem Finanzamt, den Gerichten und dem Pflegeheim. Sie besucht ihren Onkel mindestens einmal in der Woche, bringt die Post und Kosmetikartikel. Manchmal kocht sie etwas für ihn, bringt Blumen oder frische Erdbeeren vorbei.
Neulich hat sie zwei Tüten Haribo mitgebracht. „Und dann hat sich Eugen bei Amazon zwei Kilo-Dosen Haribos bestellt.“ Sie hat ihm nämlich auch ein Amazon-Konto eingerichtet. „Da hat er zuletzt fünf modische Sonnenbrillen bestellt.“ Jede einzelne hat sie ihm auf die Nase gesetzt und dann das Aussehen kommentiert. „Das Internet ist ein Segen für Eugen.“ Es ist seine Verbindung zur Welt da draußen. „Seine Unabhängigkeit, seine Freiheit.“ Es bedeutet echte Teilhabe.
Igels Lebensmut nehmen sich viele Freunde zum Vorbild
„Eugen ist unheimlich liebenswert“, sagt sie. Man müsse sich das doch nur einmal vorstellen, wie das ist, wenn man praktisch nichts mehr selbst machen kann. „Wenn du aufwachst, wartest du darauf, dass jemand kommt und dich aus dem Bett hievt. Dich anzieht. Dich in den Rollstuhl setzt. Dich auf Toilette bringt, dich füttert. Deinen Trinkbecher füllt.“
Eigentlich sei er meistens guter Dinge, sagt sie, aber natürlich gibt es auch die anderen Phasen. „Als er vor zweieinhalb Jahren so große Schwierigkeiten mit dem Sprechen, dem Atmen und dem Schlucken hatte und nur mithilfe einer Trachealkanüle in der Luftröhre überlebt hat, war er, glaube ich, nahe dran, aufzugeben.“
Er hat es nicht getan. Und sich wieder ins Leben zurückgekämpft. „Er ist so tapfer und hat sein Schicksal einfach angenommen“, sagt sie und ist ja selbst eine Heldin in dieser Geschichte.
Wie bei jedem Menschen gibt es auch bei Eugen Igel noch die schönen und die schlimmen Momente. Die Freude, wenn die Freunde kommen. Sein alter Fußball-Stammtisch mit ehemaligen Trainern und Spielern.
Und die Momente, wenn die Schmerzen so groß sind, dass er manchmal nach oben schaut und leise sagt: „Hol mich hoch zu dir.“ Unvorstellbare Schmerzen in beiden Händen. Inzwischen seien diese mit Medikamenten einigermaßen auszuhalten. Zweimal am Tag nimmt er starke Schmerztabletten. Morgens um 7.30 Uhr schluckt er sieben Stück, auch gegen Spastiken und vorbeugend gegen Fieber.
Und dann die einsamen Momente, wenn er alleine in seinem Bett liegt. Im Fernsehen läuft ein Heimatfilm. Eugen Igel denkt dann jedes Mal, wie selbstverständlich es die Menschen da draußen nehmen, dass sie an der Alster spazieren gehen können. „Diese Gedanken kommen immer wieder.“ Auch wenn er sie eigentlich nicht mehr zulassen will. Er hat sich arrangiert. „Es lohnt sich, sein Schicksal anzunehmen, es zu akzeptieren und damit zu leben“, sagt er. Das ist, wenn man so will, seine Botschaft.
Was Eugen Igel vorlebt, versetzt seine Freunde und Bekannten immer wieder in Staunen und nötigt ihnen allerhöchsten Respekt ab. „Als wir damals von dem furchtbaren Unfall erfahren haben, war das für uns alle ein riesiger Schock“, sagt Norbert Grudzinski, Schiedsrichter-Assistent an der Linie in der Bundesliga. „Als ich an seinem Krankenbett stand, dachte ich nur: Wie können wir ihm jetzt helfen? Denn jahrelang hatte Eugen ja uns geholfen. Mit seiner Menschlichkeit, seinem offenen Ohr für alle, seiner stets guten Laune und seinem respektvollen Umgang. Er ist im Hamburger Fußball eine überragende Persönlichkeit.“
Wie er jetzt mit seiner Krankheit umgeht, davor zieht Norbert Grudzinski „alle Hüte dieser Welt“: „Mit welchem Lebensmut, mit welcher Kraft und Energie Eugen sein Schicksal meistert, das ist nicht in Worte zu fassen.“ Er sei damit ein großartiges Vorbild für alle, die ein ähnliches Schicksal ereile. „Dass er sich nicht zurückzieht, sondern in diesem Kreis bleibt, hat meine tiefe Bewunderung.“ Und es zeige, „dass der Fußball als Familie funktioniert“.
Er sei aber auch ein Vorbild für alle, die gesund sind. „Wenn mir jetzt morgens die U-Bahn vor der Nase wegfährt und ich mich darüber ärgere“, sagt Grudzinski, „denke ich an Eugen und frage mich: ,Mein Gott, worüber regst du dich eigentlich auf? Wie klein sind deine angeblichen Probleme?’“ Und wie groß sei der Wille dieses Mannes, weiter am Leben teilzunehmen.
Eugen Igel hat sich in Boberg ins Leben zurückgekämpft.
Roland Thietje sitzt am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer in Gebäude C auf dem Gelände des Unfallkrankenhauses in Lohbrügge. Hierher wurde Eugen Igel verlegt, nachdem er in der AK St. Georg zweimal am Rückgrat operiert worden war.
Einige Körperfunktionen hat er sich mühevoll zurückerobert
Der Leiter des Querschnittgelähmten-Zentrums (QZ) in Boberg hat das Modell einer Wirbelsäule aus dem Schrank geholt und auf den Tisch gestellt. „Schauen Sie, der Mensch hat sieben Hals-, zwölf Brust- und fünf Lendenwirbel“, sagt der 54-Jährige. Je höher die Verletzungsebene, desto dramatischer sei die Diagnose für den Patienten.
Bei Eugen Igel ist das Rückgrat zwischen dem vierten und sechsten Halswirbel beschädigt. Daraus resultierte eine Rückenmarkschädigung in Höhe des dritten Halswirbels. Die genaue Diagnose lautet: Querschnittlähmung inkomplett unterhalb C3 mit motorischen Restfunktionen bis S1.
„Herr Igel war, als er zu uns gekommen ist, total positiv eingestellt“, sagt Thietje. Er habe versucht, die Situation so anzunehmen, wie sie ist. „Er wollte das Beste daraus machen.“ Er hat sämtliche Therapien mitgemacht. Ein funktionelles Handtraining, ein spezielles Sitztraining, die Kräftigung des Kreislaufs sowie ein Ess- und Schreibtraining mit Hilfsmitteln.
Heute trainiert Eugen Igel zweimal in der Woche auf dem Trimmrad, fährt zwischen zwei und sieben Kilometer.
Solche Willensstärke ist keinesfalls jedem Patienten gegeben. Wie reagieren die Betroffenen auf die schmerzliche Diagnose? „Es gibt alles“, sagt Thietje. Das habe auch nichts mit dem Alter der Patienten zu tun. Es gebe sehr junge Menschen, deren Rückgrat komplett zerstört sei und die ihm bei der ersten Visite sagen: „Okay, damit muss ich jetzt klarkommen.“ Und es gebe andere, denen er die Diagnose drei-, viermal erkläre, die aber bei dem Patienten trotzdem nicht ankomme. „Sie akzeptieren es einfach nicht.“ Und reagieren mit Aggressionen und mit Heulen, mit Wut und mit Lethargie. Thietje hat sämtliche Reaktionen erlebt. „Manche machen einfach die Augen zu, wenn ich ins Zimmer komme.“
Mit 131 Plätzen ist das QZ das größte in Deutschland. Patienten kommen aus ganz Norddeutschland, um hier ihre Situation zu verbessern. Um vielleicht irgendwann ihre Beine oder einzelne Finger wieder bewegen zu können. Für spezielle Fragestellungen ist das Einzugsgebiet der Klinik noch deutlich größer. „Jeder Fall liegt anders“, sagt Thietje.
Auch Eugen Igel hat sich Funktionen zurückerobert. Arme spreizen, Ellenbogen beugen, Handgelenke strecken, das alles ist besser geworden. Die Finger kann er nicht spreizen. „Stellen Sie sich nur einmal vor, was es bedeutet, die Hände nicht mehr benutzen zu können“, sagt Thietje. Er kämpft seit mehr als einem Jahrzehnt dafür, dass sich die Situation für die Querschnittsgelähmten in Deutschland verbessert. Als stellvertretender Vorstandsvorsitzender von „Barrierefrei Leben Hamburg“ oder auch als Vizepräsident des Deutschen Behindertensportverbands.
In Hamburg, sagt er, habe sich in Sachen Barrierefreiheit eine Menge getan. Auch die Gesellschaft lerne mehr und mehr den normalen Umgang mit behinderten Menschen.
Thietje registriert eine Entkrampfung im Umgang mit der Thematik. Dazu beitragen würden Filme wie „Ziemlich beste Freunde“ oder auch die zunehmende mediale Präsenz des Behindertensports etwa bei den Paralympics. „2012 in London war die Stimmung in den Stadien bei den Paralympics viel euphorischer als in den Wochen zuvor bei den Olympischen Spielen.“ Die Rollstuhlbasketball-Weltmeisterschaft in Hamburg, die am vergangenen Sonntag zu Ende gegangen ist, sei ein weiterer Meilenstein auf diesem Weg.
Thietje selbst hat sich in der Behandlung von querschnittsgelähmten Menschen auf die Implantation von Zwerchfell-Nerven spezialisiert. „Durch Elektrosimulationen können wir den Patienten die verloren gegangene Fähigkeit, selbstständig zu atmen, wiedergeben.“ Dass sich aber irgendwann der Traum erfüllt, ein verletztes Rückenmark komplett wiederherzustellen, hält er für extrem unwahrscheinlich. „Dazu sind die anatomischen Strukturen, ähnlich wie beim Gehirn, viel zu komplex.“
Eugen Igel muss mit seiner Behinderung leben. Weiterleben. Tag für Tag. Er hat schlechte und gute Momente. Er hadert nicht mehr. Und er kann sich wirklich freuen.
Als Uwe Seeler sich verabschiedet hat, rollt Eugen Igel zurück in das Pflegeheim. Er steuert das Gefährt gekonnt in den engen Fahrstuhl, fährt hoch in den zweiten Stock und über den hellen Flur in sein Zimmer. Er lächelt. „Uwe hat auch nie aufgegeben“, sagt er.