Hamburg. Der TV-Journalist und Gründer von NestWerk kritisiert: Angela Merkel hat die Integration von Flüchtlingen Ehrenamtlichen überlassen.
Das Video zeigt sanfte Wellen im Meer, gefilmt mit einer Drohne. Dazu erklingt das Lied „Wohin in dieser Welt“, gesungen von Reinhold Beckmann. Der TV-Journalist und Musiker hat es an diesem Wochenende veröffentlicht in Gedenken an Aylan Kurdi, dem Flüchtlingsjungen, dessen Leichnam vor drei Jahren an die türkische Mittelmeerküste angeschwemmt wurde. Das Foto des kleinen Syrers kurdischer Abstammung, der mit seiner Familie fliehen wollte, erschütterte damals weltweit viele Menschen. Jetzt kritisiert der Gründer der Organisation NestWerk, die Jugendlichen in Brennpunkten hilft, Zynismus gegenüber Flüchtlingen und gravierende Fehler bei der Integration.
Herr Beckmann, was hat Sie bewogen, dieses Video zu produzieren?
Reinhold Beckmann: Den Song „Wohin in dieser Welt“ habe ich mit einem Freund damals direkt nach der Veröffentlichung des Fotos des ertrunkenen Aylan geschrieben. Zugegeben – der Text lag dann einige Monate in meiner Ablage. Will sowieso niemand hören, dachte ich. Heute bin ich froh, dass wir das Lied für unser neues Album „Freispiel“ aufgenommen haben. Seit einigen Monaten flüchten zwar weniger Menschen über das Mittelmeer, aber die „Ich-greife-durch-Show“ des neuen italienischen Innenministers Salvini hat die Sterbequote der Flüchtlinge weiter ansteigen lassen. Inzwischen bezahlt jeder siebte Flüchtling laut UN-Migrationsbehörde die Reise über das Mittelmeer mit seinem Leben. Das hat durchaus mit der neuen römischen Politik zu tun, die systematisch privaten Rettungsschiffen das Anlanden verwehrt.
Andererseits sinkt durch die rigide Politik auch von anderen Staaten die Zahl derer, die über das Meer die Flucht wagen ...
Beckmann: Entschuldigung, aber wie zynisch ist denn diese Argumentation? Erfolgreiche Politik ist, wenn Menschen ertrinken? Wir diskutieren jetzt also ernsthaft darüber, ob es noch legitim ist, Menschenleben zu retten? Kann das unser Ziel sein? Auch ich war damals überzeugt, dass das Aylan-Foto die Debatte um das Flüchtlingsdrama verändern würde. Doch das globale Mitgefühl hielt nicht lange an. Das Thema verschwand, obwohl das Problem blieb. Allein im letzten Jahr sind mehr als 3000 Menschen ertrunken. Es darf keine politische Option sein, Menschen auf dem Mittelmeer aus Abschreckungsgründen sterben zu lassen.
Der große Flüchtlingsansturm nach Deutschland liegt nun über drei Jahre zurück. Wie sehen Sie die Entwicklung?
Beckmann: Nach wie vor finde ich die Geste von Angela Merkel, die Arme auszubreiten großartig und richtig. Und die große Welle der Solidarität in unserem Land war wunderbar. Doch der Merkel-Satz „Wir schaffen das“ stimmte nicht, denn die Bundesregierung hat danach keine Logistik, kein Management aufgebaut, um dafür zu sorgen, dass die Menschen, die zu uns kommen, aufgefangen und integriert werden. Ehrlicher wäre gewesen, wenn Angela Merkel formuliert hätte: „Ihr schafft das schon.“ Sie hat dieses Problem, diese große Herausforderung einfach der Gesellschaft übergeben. Den Ehrenamtlichen, den Hilfsorganisationen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich Deutschland im Sommer 2015 durch die dramatische Fluchtbewegung in einer absoluten Ausnahmesituation befand. Erwarten Sie nicht zu viel von der Politik, wenn Hunderttausende binnen weniger Wochen über die Grenzen kommen?
Beckmann: Ich wurde neulich für eine Sendung zum im Dezember anstehenden 100. Geburtstag von Helmut Schmidt gefragt, was ihn damals ausgemacht hat. Der Gedanke kam mir, wie hätte Helmut Schmidt wohl gehandelt? Er war jemand, der in Konfliktsituationen durch seinen Pragmatismus Dinge gelöst hat. Denken Sie an die Flutkatastrophe in Hamburg. Oder an die Anschläge auf die innere Sicherheit des Landes durch die RAF. Bei der Flüchtlingskrise hätte ich mir gerade diesen Pragmatismus gewünscht. Stattdessen war bundesweit kein funktionierender Plan für Integration zu erkennen. Konzeptionell und strukturell ist da in den letzten drei Jahren nicht viel passiert.
Was hätte konkret passieren müssen?
Beckmann: Das größte Problem ist die Flickschusterei. Zu glauben, ein paar Notmaßnahmen würden reichen. Nach dem Motto: In ein paar Jahren wird sich das Problem von alleine lösen. Angela Merkel hätte es zu ihrer Sache machen und sofort ein Integrationsministerium schaffen müssen. Besetzt mit hochkarätigen Entscheidern, die Strukturen erstellen für Schulbildung, Sprachkurse und Arbeitsmodelle. Ein transparentes und engagiertes Konzept, das auch kritische Bürger überzeugt. Die Wirtschaft würde das unterstützen, wir brauchen Einwanderung. Stattdessen schob man das Problem in die Kommunen, die mit dem Ansturm überfordert waren. Und dort sind die Mitarbeiter in den Behörden verständlicherweise total überarbeitet. Und aus Angst, Fehler zu machen, entscheiden sie dann lieber gar nichts.
Ein hartes Urteil.
Beckmann: Ich war neulich wieder in der Flüchtlingsunterkunft in Neuenfelde, wo unsere Pädagogen von NestWerk die Jugendlichen betreuen. Dort leben Flüchtlinge verschiedener Kulturen und Nationalitäten seit Jahren in Containern, teilen sich Duschen und Küchen. Was soll da wachsen? In Containern, aufgestellt zwischen Airbus und Apfelplantagen? Wie sollen da Leute qualifiziert werden für den Arbeitsmarkt? Wie sollen sie unsere Sprache lernen? Wie soll dort Integration gelingen?
Bessere Wohnungen und bessere Qualifizierungen bedeuten aber auch noch mehr Ausgaben für Flüchtlinge. Da freut sich die AfD …
Beckmann: Das beste Konjunkturprogramm für die AfD ist doch, wenn irgendetwas in der Flüchtlingspolitik nicht funktioniert. Auch deshalb muss sich was ändern. Dazu gehört auch, dass Jugendliche, die hier einen Job oder einen Ausbildungsplatz haben, ein Bleiberecht bekommen. Wir können den Arbeitgebern nicht zumuten, dass sie in Leute investieren, sie ausbilden, sie qualifizieren und diese dann abgeschoben werden. Wir brauchen endlich ein Einwanderungsgesetz, vielleicht sogar in einigen Punkten nach kanadischem Vorbild, das den Menschen, die zu uns kommen, auch was abfordert. Wie heißt es so schön: fördern und fordern.
Aber viele Flüchtlinge wollen sich gar nicht integrieren, sie verachten unsere westlichen Werte.
Beckmann: Für einen kleinen Teil mag das stimmen. Damit müssen wir offensiver und selbstbewusster umgehen. Ich halte nichts von dieser Übertoleranz, wenn argumentiert wird, wir dürfen den Flüchtlingen auf gar keinen Fall unsere Werte aufzwingen. Das ist der falsche Weg. Hier gilt das Grundgesetz für alle. Genauso wenig helfen die ständigen Panikmacher mit ihrer Angst vor allem, was fremd und anders ist. Mir ist durchaus klar, dass die Debatte nicht einfach ist. Im Moment driften wir jedenfalls kulturell ab, die Ignoranz nimmt zu und der Hass aufs Fremde ebenfalls. Wir versuchen in unseren Projekten bei NestWerk den Jugendlichen mehr denn je, demokratische Werte wie Empathie, Respekt und Toleranz nicht nur zu vermitteln, sondern auch abzufordern.
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki hat der Kanzlerin nach den rechtsradikalen Übergriffen in Chemnitz eine Mitschuld gegeben. Die Wurzeln lägen in ihrem Satz „Wir schaffen das“. Ostdeutsche glaubten, ihnen würde vorenthalten, was Flüchtlingen gewährt werde.
Beckmann: Er ist klug genug zu wissen, dass er hier überzogen und provoziert hat. Es hilft nicht, weiteres Öl ins Feuer zu gießen. In Ostdeutschland gibt es auch viele gebrochene Biografien. Menschen, die zu den Verlierern der Wende gehören. Das klingt bei einigen noch nach. Die Wende hat eben nicht alle abgeholt. Die Erfolge der AfD liegen vor allem darin, dass im ländlichen Bereich es keinen Arzt, keinen Einkaufsladen, keine Polizeistation, kein Amt und keinen Briefkasten mehr gibt. Untersuchungen bestätigen genau dies. Von Überfremdung ist nicht die Rede.
Wie hat sich die Arbeit bei NestWerk durch die Flüchtlinge verändert?
Beckmann: Aus der Jugendarbeit, mit der wir vor 20 Jahren begonnen haben, ist immer mehr Integrationsarbeit geworden. Wir haben bei uns eine Vielzahl von jugendlichen Flüchtlingen, um die wir uns hier in Hamburg kümmern. Die Sprache ist der Schlüssel zu allem. Und Fußball ist die beste Sprachschule. Deshalb spielen wir ja auch so viel Fußball in den Unterkünften. Ob Syrer, Kurden, Afghanen oder Jugendliche aus Eritrea – alle müssen unsere Sprache reden, wenn sie miteinander kicken wollen.
Und wie läuft das?
Beckmann: In Wilhelmsburg haben wir zum Beispiel einen afghanischen Jugendlichen namens Mohammed, der in Kabul den US-Truppen als Dolmetscher geholfen hat, weil er so gut Englisch konnte. Als die Amerikaner das Land verlassen haben, musste er sich vor der Terrorgruppe al-Qaida verstecken. Seinen besten Freund, der auch für die Amerikaner übersetzt hat, haben sie gleich umgebracht. Mohammed ist dann unter größter Gefahr nach Deutschland geflohen, war vier Monate zu Fuß unterwegs. Sein Sprachtalent ist so groß, dass er jetzt für NestWerk den anderen Jugendlichen die deutsche Sprache vermittelt. Aber es gibt leider auch die andere Seite. Kinder, deren Eltern Analphabeten sind, und die tun sich dann sehr schwer in der Schule.
Können Sie Eltern verstehen, die befürchten, dass das Niveau im Unterricht sinkt, wenn Flüchtlinge mit sehr niedrigem Bildungsstand in die Klasse kommen?
Beckmann: Ja. Es gibt solche Fälle. Ich kann den Unmut verstehen. Aber es gibt eben auch viele junge Flüchtlinge, die mit ihrem Biss, es hier unbedingt schaffen zu wollen, das Gegenteil beweisen. Übrigens bin ich sicher, dass in ein paar Jahren ein Nationalspieler mit arabischen oder afrikanischen Wurzeln für Deutschland spielen wird. Es gibt da einige bemerkenswerte Talente. In Neuenfelde kickt bei uns ein afghanischer Junge, der mangels Fußballschuhen in viel zu kleinen Badelatschen spielt. Und er trickst trotzdem die anderen aus.
Herr Beckmann, irgendwie sehen Sie alles immer sehr positiv.
Beckmann: Falsch. Aber meine Grundstimmung zum Leben ist tatsächlich positiv. Die Arbeit bei NestWerk verlangt auch, mit Problemen umzugehen. Neulich hatten wir in einer Unterkunft beim Fußball eine Schlägerei zwischen Jugendlichen. Der Grund dafür war eine Rivalität zwischen ethnischen Gruppierungen. Wir mussten das Fußballangebot abbrechen, der Konflikt war nicht zu lösen, und haben zunächst zwei Wochen pausiert. Es ist halt nicht so einfach, wenn Kulturen, die wenig voneinander wissen, über Jahre auf engstem Raum ohne Perspektive zusammenleben müssen.
Wie schätzen Sie die Stimmung unten den Ehrenamtlichen ein, die sich nun über Jahre engagieren?
Beckmann: Bei NestWerk ist sie nach wie vor gut. In einer so großen Gruppe stützen wir uns gegenseitig. Aber ich beobachte anderswo Frustration und Erschöpfung. Viele sind auch enttäuscht, weil ihre ehrenamtliche Leistung kaum gewürdigt wird.
Haben Sie angesichts des Aufschwungs der nationalkonservativen Kräfte in Deutschland und Europa Angst um unsere Demokratie?
Beckmann: Nein. Demokratie ist anstrengend, aber lohnenswert. Und Demokratie lebt ja auch vom Wettstreit guter Ideen. Die sind leider im Moment in der Politik etwas weniger geworden.