Hamburg. Hamburg soll wachsen. Potenziale gibt es auch in seinem Herzen: an den Elbbrücken, auf der Veddel und in Wilhelmsburg. Ein Ortsbesuch.
Alle zehn Minuten setzt sich im Kopf ein Schlagermove in Bewegung: „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo ...“ Er startet in Billstedt, am Berliner Tor oder in der Burgstraße und endet unter einer Baustelle. Die Endstation heißt HafenCity Universität und erinnert an den Schlagerklassiker von Christian Anders. Eine Haltestelle wie eine Kathedrale, faszinierend illuminiert, preisgekrönt – und doch menschenleer. Während sich ein paar Reisende Richtung Lohsepark zerstreuen, strebt niemand zum Ausgang Versmannstraße. Wer die Haltestelle verlässt, ahnt, warum. So sieht ein Nirgendwo aus.
An der Versmannstraße türmen sich ein paar graue Baucontainer, als hätte ein waghalsiges Kind Klötze übereinandergestapelt – die Bauwagenromantik vergangener Tage ist längst verweht, das 21. Jahrhundert verpackt alles effizient in Containern, sogar Bauleiter. Mein Blick kann noch weit schweifen: Richtung Hauptbahnhof grüßt das faszinierende Narbengesicht der Hanseatischen Materialverwaltung; in den anderen Himmelsrichtungen wächst das kühle Antlitz der HafenCity. Quadratisch, praktisch, mittelmäßig.
Um die Ecke hat der Viewpoint, dieser orangefarbene Vagabund, seine neue Heimat gefunden. Seine Umzüge erzählen vom Wachsen und Werden des Stadtteils; alle paar Jahre zieht er ostwärts. 63 Stufen führen zu einem Ausguck, der Stadtentwicklung anschaulich macht. Nun hat er eine neue Adresse, die kein Hamburger kennt: Wo bitte ist die Grandeswerderstraße?
Eine Vision verwandelt sich in Beton
Ende der 90er- Jahre war die HafenCity ein 157 Hektar großes Nichts im Herzen der Stadt, ein tollkühner Plan, er klang wie ein Versprechen auf Zukunft, er versprühte einen heute schmerzlich vermissten Pioniergeist. 20 Jahre später verwandelt sich diese Vision Meter für Meter in Beton.
Der Osten Richtung Elbbrücken im Baakenhafen gleicht noch einer unwirtlichen Steppe. Immerhin: An der Versmannstraße wachsen die ersten Häuser bis zu einer scharfen Demarkationslinie, an der baumlosen Baakenallee sind die Tiefbauarbeiten in vollem Gange. Der Sprung über die Elbe bleibt noch bloße Ankündigung – nur die blau-weiß gestreifte Figur von der Internationalen Bauausstellung setzt hier zum Hüpfer an. Sie strebt in den Süden, auf den Kleinen Grasbrook, auf der Suche nach neuem Land.
Noch ist sie nicht angekommen. Der Bus der Linie 111 endet am Baakenhöft. Die Verbindung vom Bahnhof Altona verspricht „Sehenswürdigkeiten im 111-Sekunden-Takt“ und liefert, hier an der Endstation hat sie ihr Pulver verschossen. Tamer Saka ist der einzige Mensch an diesem südlichen Sommermorgen im Wendehammer. Er steuert den Bus der Linie 111 und genießt die Pause. Kein Fahrgast weit und breit. Saka liest in einem Roman. Seit 26 Jahren fährt er für den HVV und liebt diese Strecke. „Das ist eine schöne und abwechslungsreiche Route, weil hier immer viele Touristen unterwegs sind“, sagt Saka.
Hoch hinaus zwischen zwei Brücken
Er sieht die HafenCity durch die Windschutzscheibe wachsen. „Im vergangenen Jahr lag hier noch ein leerer Platz. Nun beginnen die Bauarbeiten.“ Im Sommer macht ihm sein Job besonders viel Spaß. „Die Menschen sind entspannter, die Straßen leerer.“ Es sind die Tage, in der eine Metropole ihren Pulsschlag verlangsamt, ihre Lautstärke und die Schnelligkeit herunterregelt. Es sind die Tage, in der auch der 111er-Bus wie eine Verbindung in der brandenburgischen Pampa wirkt. Es fährt ein Bus nach Nirgendwo ...
Ungefähr so könnte es aussehen: kein Baum, kein Haus. Das Ende von Stadt. Die Elbe wendet sich ab, verbarrikadiert sich hinter einem Absperrgitter. Bilder wie diese werden schon in wenigen Jahren so vergessen sein wie vergilbte Postkarten des 19. Jahrhunderts – Hamburg wird sich radikal verändern. Nur dass beim Anblick des Jahres 2018 niemand nostalgisch wird. Im Sekundentakt donnern Baumaschinen über die „Umfahrung Versmannstraße“.
Auf der linken Seite türmt sich ein Flüchtlingsdorf im freien Raum. Der Bolzplatz verwaist, die Plätze zwischen den Wohnmodulen leer. Der Traum von Deutschland sah vermutlich anders aus.
Andererseits, hier ist Platz. Und wie viel davon. Hektarweise unfertige Stadt. Eine Sandkiste der Möglichkeiten! Eine Chance, die Planer und Investoren längst entdeckt haben und verwerten wollen. Die neue U-Bahn-Station an den Elbbrücken überwölbt schon ein beeindruckendes Glasdach, das auf eine lichte Zukunft weist. Hier, zwischen Freihafenbrücke und Elbbrücken, will Hamburg hoch hinaus. Ab 2025 soll der Elbtower den Himmel stürmen, ein 233,3 Meter hoher Wolkenkratzer. Er wäre das dritthöchste Haus der Republik. Ist das noch Hamburger Understatement? Oder doch schon Größenwahn?
Fußgänger sind weder geplant noch gewünscht
Vor allem ist es eine Investmentstory. Finanzmärkte erinnern manchmal an Kinder: Sie übertreiben gern, sind ziemlich verrückt, und ständig muss man ihnen Geschichten erzählen, damit sie laufen. Exakt so ist es mit Immobilienmärkten. 2017 prahlte Hamburg auf der wichtigsten Branchenmesse Mipim zum ersten Mal vom Elbtower; 2018 – als quasi letzte Amtshandlung – präsentierte der scheidende Bürgermeister Olaf Scholz die Pläne. Noch ist hier nur eine Baustelle. Ein unwirtlicher Planet für jeden Wanderer, er lässt mich schaudern.
Über die neue Elbbrücke führt der Weg auf die Veddel. Achtspurig zieht sich die Straße über den Fluss, bei jedem Lastwagen vibriert das Bauwerk. Es ist so infernalisch laut, dass kein Klingeln stets gehetzter Radler zu hören ist. Fußgänger sind hier weder geplant noch erwünscht. Genauso geht es auf der Veddel weiter, einem Stadtteil, der eher Trasse denn Lebensraum ist, den die Verkehre – Autobahn, Schnellstraßen, Bahngleise – strangulieren. Man möchte fliehen und weiß doch nicht, wohin.
Wobei: Ein Ziel ist über die Grenzen des Viertels bekannt: An der
Tunnelstraße liegt die Veddeler Fischgaststätte, vom Bund Heimat
und Umwelt als „historisches Wirtshaus“ geadelt. Klingt schräg,
aber überzeugt. Seit 1932 befindet sich das Restaurant in
Familienbesitz, seit 2006 führt Marion Göttsche die älteste
Fischgaststätte der Stadt
Reiseführer werden auf den Osten aufmerksam
Hinter dem schweren Vorhang ist die Zeit stehen geblieben: Der Eingang ist ein Time-Tunnel in die 60er-Jahre: Das Interieur unverändert, Wimpel und Schilder grüßen aus einem vergangenen Jahrhundert, und an der Kasse steht eine Emaille-Dose mit Konterfei von Helmut Schmidt als Kanzler. Aber der Fisch ist fangfrisch. „Wir machen den Kartoffelsalat jeden Morgen selbst“, sagt Göttsche. Die Karte ist so überschaubar wie legendär: Fischfiletstücke, Fischfrikadellen, Bratheringe, Scholle. Mehr braucht man nicht, um erfolgreich zu sein.
Dabei hatte Marion Göttsche mit Gastronomie ursprünglich nichts am Hut. „Ich bin der Liebe wegen aus Berlin nach Hamburg gezogen und war arbeitslos. Als dann auch noch mein Mann seinen Job verloren hat, haben wir das Angebot der alten Wirtsleute 2006 angenommen, den Laden zu übernehmen“, sagt Göttsche. Bald sollen die Söhne die Fischgaststätte weiterführen. Gute Reiseführer sind längst auf das Hamburger Original aufmerksam geworden – und so treffen sich an der Tunnelstraße Schlipsträger, Blaumänner und Touristen. Solange Zeitreisen unmöglich sind, ist die Fischgaststätte eine echte Alternative.
Hoffnungsort hinter alter Hafenlokomotive
Über die Sachsenbrücke führt mein Weg weiter auf den Kleinen Grasbrook, die Insel der zertrümmerten Träume. Hier sollten längst die Kräne das olympische Dorf für die Sommerspiele 2024 hochziehen. Statt neuer Schwimmhalle bleibt nun das alte Frucht- und Kühlzentrum, hier sprinten keine Stars, sondern parken Lkw, hier wächst keine Stadt, sondern Unkraut: Soldatenknöpfe, Löwenzahn, Schafgarbe. Und zwischen den Containern blitzt die Elbphilharmonie auf. Es lebe der Volksentscheid.
Es dürfte dauern, bis man den Puls der Stadt auf dem Grasbrook zu spüren beginnt. An den Zäunen in der Dessauer Straße kleben Warnungen, die einen feinen Sinn für Ironie zeigen: „Unbefugtes Betreten wird mit Hausverbot geahndet“ – als sei die Lagerhalle ein Kultclub wie der Berghain. Selbst die Werbeflächen am Veddeler Damm sind leer. An wen soll sich ihre Botschaft auch richten? Hier ist die Peripherie, die Menschen sind nur auf der Durchreise.
Das soll sich bald ändern. Hinter einer alten Hafenlokomotive, die scheinbar vergessen an der Straße steht, liegt ein Hamburger Hoffnungsort. Ein Ort, der die Menschen in diese Ödnis locken, ein Ort, der Geschichte mit Zukunft verbinden soll: das Hafenmuseum mit seinen historischen Schuppen, Gleisanlagen, Kränen, dazu die MS „Bleichen“. „Ein solches Ensemble gibt es in ganz Europa nicht noch einmal“, schwärmte der Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs und brachte als haushaltspolitischer Sprecher der SPD auch gleich 120 Millionen Euro mit an die Elbe.
Ein Jahrhundert Hafengeschichte
Noch ähnelt das Hafenmuseum einer über Jahre zusammengesuchten, etwas chaotischen Sammlung, einem Parkplatz für Ausstellungstücke. Im gewaltigen Schuppen 50 schlummern Exponate, die ein Jahrhundert Hafengeschichte erzählen. Auf dem Gelände dämmert ein Kühlcontainer aus dem Jahr 1971 vor sich hin. Draußen am Kai dümpeln ein über 100 Jahre alter Schwimmkran, ein Schutendampfsauger von 1909 und der Stückgutfrachter MS „Bleichen“ aus dem Jahr 1958.
„Als einer der ersten Bausteine für das neue Museum soll hier im Mai 2020 die ,Peking‘ festmachen“, erzählt Carsten Jordan, Leiter des Hafenmuseums. Mit dem Flying-P-Liner soll die jetzige Außenstation des Museums der Arbeit in eine neue Dimension segeln. Jordan lebt die Vision eines Museums, das dereinst die Massen auf den Grasbrook locken soll. „Mein Traum ist, dass wir einen der Tragkräne funktionstüchtig bekommen.“ Auch die Anbindung des Hauses soll besser werden. „Es soll hier eine Anlagemöglichkeit für Hadag-Schiffe geben.“ Heute steuert die Maritime Circle Line das Freilichtmuseum im Hafen an, ein Bus hält alle 20 Minuten.
Im Schuppen ist schon Leben. 30.000 Menschen besuchen das Museum in der Saison von April bis Oktober. Im Sommerferienprogramm basteln „Dampf-Kids“ Dampfschiffe aus Dosen. Und nebenan versorgen die Ehrenamtlichen der Kaffeeklappe die Besucher.
Veddeler Damm erinnert an Dantes Vorhölle
Das Faszinosum Hafen packt alle Generationen – es gibt schlechtere Themen für große Pläne. Wer Leben auf den Grasbrook bringen will, muss die Menschen locken. Zwischen den Schwerlastverkehr der Hafenwirtschaft mischt sich schon das eine oder andere Wohnmobil. Trotzdem erinnert der Veddeler Damm eher an Dantes Vorhölle. Er ist ohrenbetäubend laut, die Luft abgasgeschwängert, die Gegend wandererfeindlich. Ich muss da durch.
An der Ellerholzbrücke wird es etwas ruhiger. Es gibt wenige Orte, die den Hafen auf einen 360-Grad-Blick erklären: Straßengewirr, Schienenstränge, Silos, Strommasten, Kräne, Containertürme. Und seitab liegt die Stadt. Fernsehturm, Elbphilharmonie, der Michel, St. Nikolai, sie alle schrumpfen in dieser Hafenwelt zur pittoresken Landschaftstapete. Ein Wunderland.
Der Reiherstieg-Hauptdeich führt südwärts zurück in die Stadt. Ihre Außenposten liegen in einer Zwischenwelt, die nicht mehr Hafen und noch nicht Wohnviertel ist. Auch ihre Bewohner, das zeigt eine Armada von Satellitenschüsseln an den Fenstern, haben noch keine Wurzeln geschlagen. Eine Kreuzung weiter beginnt das städtische Leben in Wilhelmsburg. Und am Vogelhüttendeich mischt es sich gleich: Naturheilkundepraxis und Moschee, sanierte Gründerzeit und abgeranzte Altbauten, Spielothek und Budni.
Alte Probleme sind bekämpft, neue gekommen
Wer Vorurteile über Wilhelmsburg hegt, sollte durch die Veringstraße schlendern. Hier lässt sich Stadtteilentwicklung – Nörgler werden „Gentrifikation“ rufen – besichtigen. Einladende Altbauten, Eiscafés, Burger-Restaurants, Einzelhandel. Ein schlagendes Herz, auf das viele Hamburger Stadtteile neidisch sein dürfen.
Die Hubertus-Apotheke ist seit 1923 in Wilhelmsburg zu Hause und hat mit der klassischen Holzeinrichtung ihren alten Charme bewahrt. Seit 2002 betreiben Ute und Holger Lawrenz die Apotheke. Sie haben den Wandel im Stadtteil durch die Internationale Bauausstellung (IBA) hautnah erlebt. „Es hat sich einiges getan“, sagt Ute Lawrenz. „Viele Häuser wurden saniert, die Grünanlagen hergerichtet, ein Supermarkt ist dazugekommen. Das verbessert die Lebensqualität.“ Und doch hinterlässt der tiefer gehende Strukturwandel seine Spuren. „Viele kleine Läden mussten schließen, an ihre Stelle sind Imbisse getreten.“ Alte Probleme seien bekämpft, neue gekommen. „Aber Zusammenleben und Nachbarschaftshilfe klappen sehr gut. Es ist ein bisschen wie auf dem Dorf.“
Relativ neu im Dorf ist die Trauminsel. Das Café an der Veringstraße bietet Frühstück und Torten, Kaffeespezialitäten, Smoothies, Köfte & Co. Die Tasse Kaffee gibt es für einen Euro. Barhan Güzel, Cousin des Inhabers Hakan Güzel, kommt schnell ins Plaudern. „Wilhelmsburg ist unsere Trauminsel. Wir sind hier aufgewachsen, und der Wandel ist absolut positiv. Im Vergleich zu früher ist das heute fast wie das Schanzenviertel“, sagt er. Das Publikum sei jünger, beweglicher, durchmischter. Auch die Torten und Süßspeisen schmecken nach Crossover, Omas Backkunst, vegane Korrektheit, südländische Süße. „Wir nationalisieren nicht, wir bieten, was schmeckt“, sagt Güzel. Schmeckt schon.
Die Welt verändern ist machbar
Für Stadtpioniere ist der Westen Wilhelmsburgs erste Wahl: faszinierende Wasserlagen, Industriebauten mit Patina, Platz für Träume und Experimente. Vielfalt ist hier keine Worthülse, sondern Alltag. Selbst die alte Tante Postbank spricht mehrere Sprachen. Der türkische Kulturverein, der deutsche Wollladen und über allem ein Aufbruchgeist. „Die Welt verändern ist machbar“, verspricht ein Spucki von machbar-ev.
In einem Stadtteil, in dem sogar der Nazibunker an der Neuhöfer Straße zum Ökoenergiewunder mutiert, klingt das nicht zu hoch gegriffen. Der 1. FC Elbinsel versteht sich als Brückenbauer – und als „Hafen für Frauen und Mädchen aller Kulturkreise, die Fußball spielen wollen“. Bewegung als Bewegung. Wilhelmsburg verändert sich.
Natürlich gibt es noch Wohnblocks à la Wladiwostok, Betonungeheuer ohne menschliches Maß und städtebauliche Mitte. Das Zentrum verschandeln ein McDonald’s-Restaurant mit dem Schick einer Autobahnraststätte und ein Getränkehändler im Wellblechbau.
Aber daneben sprießt das Leben. Vieles hat die Internationale Bauausstellung 2013 in Gang gesetzt – sie pumpte nicht nur Hunderte Millionen Euro in den über Jahre vernachlässigten Stadtteil, sondern veränderte die Selbst- und Außenwahrnehmung der Insel. Da wirkt es fast etwas seltsam, dass ausgerechnet die neuen Paradebauten rund um die Neuenfelder Straße noch fremdeln.
Einfältige Baukastenarchitekturm vs. famoses Ufo
Als Wahrzeichen strahlt die Stadtentwicklungsbehörde, dieser famose Bau von Sauerbruch Hutton, weit in den Stadtteil hinein. Und doch wirkt er wie ein Ufo – faszinierend und fremd, nicht so recht von dieser Welt. Daneben hat ein Investor das größte Holzhaus Europas verbrochen – 371 vorgefertigte Appartements im sogenannten „Woodie“.
Was die Zukunft des Bauens werden sollte, erinnert mit seiner einfältigen Baukastenarchitektur eher an einen schlimmen Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten. Das Erdgeschoss, die wichtigste Fläche zum Erschaffen von Stadträumen, ist als überdachter Fahrradstellplatz vergeudet. Die autogerechte Stadt hat viele Metropolen verhunzt, wiederholt nun die Fahrradstadt alte Fehler? Für den Oberbaudirektor, der gleich daneben sein Büro hat, ständige Mahnung und Warnung zugleich.
Die nächste wartet an der Westseite der Behörden für Stadtentwicklung und für Umwelt. Dort wird eine Grünfläche (!) als Parkplatz zweckentfremdet. Fällt das niemandem auf? Oder stört das keinen? Vielleicht sollten die Senatoren Dorothee Stapelfeldt und Jens Kerstan einmal vor der eigenen Tür kehren.
In der Nordwand trainieren auch Profis
Am Inselpark gegenüber der Behörde beginnt das neue, das grüne Wilhelmsburg. Knallbunt heischen alle Häuser um Aufmerksamkeit, in Blautönen, in Grün, in Ocker. Sie wirken wie ein bunter Architekturzoo. Dafür betört die Mitte Wilhelmsburgs mit blühenden Landschaften. Was hatten die Hamburger vor fünf Jahren über die Internationale Gartenschau gemeckert, gemosert, gemault – und was ist daraus für ein Geschenk geworden. Der schmale Park, eingeklemmt zwischen Bahnstrecke und Wilhelmsburger Reichsstraße, mag nicht die schönste Grünanlage der Stadt sein, sie ist aber die abwechslungsreichste. Vor allem für Sportler: Hier schickt der Loop, plattdeutsch für Lauf, die Jogger ins Grüne. Loop to.
Ein Wahrzeichen des Sports ist Wilhelmsburgs Nordwand. 16 Meter ragen die Kunstfelsen der Kletterhalle in die Höhe – so bunt wie verspielt, so steil wie herausfordernd. Der weiche Boden wippt wie Wackelpudding, Sonnenlicht fällt in die Halle, im Hintergrund erklingt Rockmusik. „Das ist eine der Top-Hallen des Landes, weil sie von vornherein als Kletterhalle geplant wurde“, sagt Hausmeister Joachim „Jogi“ Rieck. Er hat den Bau der Halle mitverfolgt, die Besitzer kennengelernt und dann als Aushilfe angefangen.
„Die Nordwandhalle ist von Kletterern für Kletterer konzipiert worden.“ Hier kann man bouldern – also ohne Seil an der Wand entlanghandeln – oder klettern, hier trainieren Hochgebirgswanderer, vergnügen sich Flachlandtiroler. „Manche sind noch nicht ausgewildert“, lacht Rieck und erklimmt die Wand. „Klettern kann jeder: Der Sport beansprucht alle Muskeln und ist gesund.“
Nur wenige Dutzend Meter südlich der Nordwand hängen Kinder in den Seilen – im Hochseilgarten „Hanserock“. Davor prellen Basketballer Bälle, links üben Skater neue Sprünge, im Wasser kicken Kinder. Sportlicher ist kein Park.
Statt Autostraße Grün- und Wohnflächen
Auf dem Weg in den Süden passiere ich einen seltsamen kleinen Friedhof mit verwitterten Grabsteinen. Hier ruhen keine Verstorbenen, sondern „gute Ideen“. „Die Mona Lisa von hinten malen“ ist noch der originellste Einfall, dann wird es seltsam: „In der Abschaffung der Schulpflicht aktiv werden“ oder „eine moderne Kondomerie in einem etablierten Einkaufszentrum eröffnen“. Es gab schon bessere Ideen als den „Friedhof der guten Ideen“.
Die beste Idee wächst und gedeiht einen Ballwurf entfernt: Die Wilhelmsburger Reichsstraße, einst als Adolf-Hitler-Straße geplant, zerschneidet seit 1951 den Stadtteil und degradiert die Elbinsel zum Verkehrzubringer für Hamburg und Harburg. Im kommenden Jahr wird sie verlegt. Wo heute noch tagein, tagaus 60.000 Fahrzeuge rauschen, werden Grün- und Wohnflächen entstehen. Der Inselpark, den die Reichsstraße zerreißt, wird aufgewertet. Bald herrscht Ruhe.
Lauter wird es, wo es ohnehin laut ist – 400 Meter westlich entlang der Bahngleise. Vier Spuren neben zehn Gleisen bündeln den Krach und sollen ihn hinter höheren Lärmschutzwänden eindämmen. Die Anwohner an der Siebenbrüderweide bleiben skeptisch – davon künden viele Aufkleber an Mülltonnen und Stromkästen. Kirchdorf gilt vielen als Betonsünde, als gescheiterte Großsiedlung der 70er-Jahre an der Autobahn.
Aber Kirchdorf ist mehr als Kirchdorf Süd. Hier liegt die Hochhaustristesse – 40 Balkone, ein Blumenkasten – neben Eigenheimglück mit akkuratem Mülltonnenquartett und geschnittenen Rasenkanten. Die Gemeinsamkeit sind Satellitenschüsseln: Bei den einen hängen sie am Balkongeländer, bei den anderen stehen sie im Vorgarten. Ist das Programm so gut? Oder das Leben so schlecht? Wie gut, dass Helmut Schmidt das nicht mehr erleben muss. Der Altkanzler hatte 1978 vergeblich einen fernsehfreien Tag in Deutschland gefordert.
Die ersten Vögel zwitschern in Finkenriek
Neue Blicke eröffnen sich an der Kornweide. Hier verliert sich die Stadt, sie zerfasert in Wiesen und Weiden. Über den Friedhof Finkenriek schlage ich den Weg zur Elbe ein. Zum ersten Mal seit dem Start in der HafenCity höre ich Vögel zwitschern. Friedhöfe entschleunigen und lehren Demut. Grabsteine sind leise Geschichtenerzähler: Sie danken für langes Leben, sie feiern die große Liebe und beklagen zu frühe Tode. Viele Symbole – ob Anker, Schere oder ein Pudel – deuten manches an und lassen doch vieles im Vagen. Wir begegnen dort Vornamen, die von wiederkehrenden Moden erzählen, wie Emma und Friedrich, Greta oder Johann. Die Nachnamen stehen für Stadtgeschichte, erinnern an die Migration der Polen an die Elbe: Die Nowaks, Polczyks, Szymkowiaks haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Weiter geht es zur Badestelle Finkenriek, neben Wittenbergen das einzige halb offizielle Elbebad. Offiziell rät die Umweltbehörde wegen Sicherheits- und Gesundheitsrisiken vom Baden ab, verboten aber ist es nicht: Das Baden in Gewässern fällt unter den sogenannten Gemeingebrauch.
Ein Bad neben Binnenschiffen und Enten
Was zählen juristische Feinheiten, wenn die Sonne vom Hamburger Himmel brennt? Also hinein in die Fluten. Der Finkenrieker Hauptdeich mag kein Traumstrand sein, zum Baden taugt er allemal. Das Elbwasser riecht frisch, beim Hineintasten wirbeln Sand und Schwebstoffe auf; ein paar Steine warten als tückisches Souvenir vom Oberlauf auf Badende. Die Strömung ist extrem stark und erinnert mich an „La Paloma“: „... sie zieht mich hinaus auf See“. Meine Schwimmzüge zeigen keine Wirkung, ich scheine auf der Stelle zu dümpeln.
Die Elbe gleicht einem Laufband für Wasserratten, immer in Bewegung, niemals am Ziel. Lasse ich mich treiben, ziehen die wenigen Sonnenbadenden an mir vorbei. Dafür habe ich das Wasser für mich allein – jedenfalls fast, ich muss es nur mit ein paar Kanuten, einem Binnenschiffer und einer Handvoll Enten teilen. In der Ferne grüßt der Channel Harburg, in Wurfweite grummeln monoton die Bahnen über die Elbbrücke.
Marlies und Torsten Meier kommen gern her – sie stört der Krach kaum. „Man gewöhnt sich dran, wir sind Stadtmenschen. Wir dürfen die Augen ohnehin nicht zumachen“, sagt Marlies Meier. Sie sind mit ihrem Enkel hier, der vergnügt am Wasser spielt. „Hier haben wir schon als Kinder gebadet“, sagt die Harburgerin, „Wir waren damals nicht so gut bei Kasse, hier war es kostenlos.“ Geht es nach den Meiers, soll alles so bleiben, wie es ist. „Wir brauchen keinen Kiosk, keinen offiziellen Badestrand – dann wäre es mit der Ruhe bald vorbei.“
Gigantische Strommasten statt Hauptkirchen
Mit der Ruhe ist es vorbei, wenn man den Harburger Elbbrücken zustrebt. Autobahn, Hauptstraße, Bahntrasse, Bootshaus, Tankstelle, Grabsteinmanufaktur – eine Peripherie wie geschaffen für ein deutsches Roadmovie. Die alte Harburger Elbbrücke mit ihren mächtigen Portalen hingegen sieht aus, als würde Kaiser Wilhelm gleich vorbeireiten; er hatte die erste Straßenbrücke 1899 eröffnet. Der Blick macht klar, was Harburg von Wilhelmsburg unterscheidet: Die Insel hält stets Blickkontakt zur Innenstadt, Harburg ist auf sich allein gestellt. Hier dominieren keine Hauptkirchen das Panorama, sondern gigantische Strommasten, die selbst den architektonisch gewagten Channel Harburg niederdrücken, ihn kleiner machen, als er ist.
Ein irreführender Wegweiser führt mich zur Hafenschleuse. Soll hier der versprochene Aussichtspunkt sein? Und wenn ja, was soll er zeigen? Lagerhallen. Fertigungsstätten. „Bei Rosi“, dem ehemaligen Fährhaus, tragen die Deutschland-Fahnen Trauer. Auf dem Dampfschiffsweg erwandere ich den Strukturwandel. Selbst das Büdchen an der Blohmstraße mit dem schönen Ruhrgebiets-Versprechen „Trinkhalle“ ist verrammelt, die Hamburger Bratwurst längst Geschichte wie auch die Knolle Astra für zwei Euro. Vergangen wie das Harburger Schloss, das der Straße dahinter seinen Namen gibt.
Geblieben ist nur ein Seitenflügel, der eher nach Schlosserei denn nach Schloss aussieht. Es mischen sich Denkmäler und Zeitgeistarchitektur. Die Technische Universität betreibt ihren Innovationscampus Green Technologies, gegenüber gibt es Body & Soul Massagen. Das widersprüchliche Bild setzt sich am Karnapp fort – dem sympathischen Coaching-Café Grauer Esel folgen bald Leerstand und Büroklotz. Doppelgleise und eine fünfspurige Straße scheiden Schlossinsel und Harburgs Innenstadt. Letztere wirkt, als lägen die besten Zeiten hinter dem Stadtteil. Der „Steakhammer“ lockt mit dem fragwürdigen Versprechen „Volle Teller, kleine Preise“, das gelb verschalte Parkhaus bewirbt sich um eine Platzierung in den Top Ten der deutschen Bausünden, und der Schlussverkauf bei Karstadt klingt wie das Motto des ganzen Viertels.
Kunstsammlung in denkmalgeschützten Hallen
Die Lüneburger Straße war einst die Mö des Südens. Gut besucht ist sie immer noch, aber der Niedergang unübersehbar. Ein Leihhaus, ein Geschäft, das „alles zehn Euro“ verspricht, in einem weiteren ist alles „für einen Euro“ zu haben. Wer bietet weniger? Manche Ladenlokale sind längst verwaist. Alltag in Amazonien – so sehen deutsche Innenstädte im 21. Jahrhundert allerorten aus.
Harburg wirkt, als habe es ein wenig seine Mitte verloren. Auch der große Arbeitgeber im Herzen der Stadt – die Phoenix-Werke – ist Vergangenheit. Auf dem ehemaligen Fabrikgelände steht ein Shoppingcenter. In die alten denkmalgeschützten Hallen ist 2001 die Sammlung Falckenberg eingezogen. Die spektakuläre Schau zeitgenössischer Kunst öffnet donnerstags bis sonntags im Rahmen von Führungen. Und ist immer einen Ausflug wert.
Hinter der schweren, dunklen Tür öffnet sich eine andere Welt. Durch ein hell erleuchtetes Treppenhaus mit schwarzen Stufen – ein Werk des Berliner Architekten Roger Bundschuh – gelangt man in ein faszinierendes Schiebelager, das Schätze im Handumdrehen ans Licht holt, moderne Installationen öffnen Augen und Horizonte. Die Installation „The Palace at 4 A.M.“ mit 300 Monitoren von Jon Kessler spielt mit den Sichtweisen der Menschen.
„Man wird Voyeur und Exponat, Zuschauer und Schauspieler, Betrachter und Objekt zugleich“, erklärt Tatjana Hummel von den Deichtorhallen. Sie zeigt mir auch „Kunst zum Bekriechen“. John Bock hat mit seiner Installation „ArtemisiaSogJod>Meechwimper lummerig“ eine WG-Welt der 70er-Jahre mit Hochbett, Klo und Wandschrank entstehen lassen. Ich zwänge mich fasziniert durch dieses Werk – und fühle mich wie ein Kind. Kunst kann glücklich machen.
Ein See, der andernorts Meer genannt würde
Über die Wilstorfer Straße wandere ich bis zur A 253, die sich massiv durch die Stadt fräst. Unter der Autobahn, im Schatten des Betons, geht es entlang der Engelbek zum Außenmühlenteich. Früher wurde brachial zubetoniert, was den Straßenplanern im Weg war, heute reicht schon eine Grasmücke, um die Bauarbeiten zu stoppen. Wir Deutschen sind ein Volk der Extreme.
Wie lieblich liegt da der Außenmühlenteich. Vielleicht sind die Harburger zu bescheiden, vielleicht verstehen sie zu wenig von PR: Der Teich ist ein künstlicher See, der anderenorts Meer genannt würde. Er misst einen Kilometer in der Länge und 250 Meter in der Breite. Er wirkt nach dem Grau der Stadt wie ein grünes Paradies. Hier schaltet das Leben ein paar Gänge herunter, hier weht eine Brise, und das Wasser kühlt die hitzeflirrende Luft. Gut besuchte Gaststätten laden am Ufer ein; Sommerfrische, einen Nachmittag lang. Das Midsommerland verspricht nicht nur ein skandinavisches Lebensgefühl, es sieht auch so aus. Falunroter Anstrich vor Wasserlandschaft.
Gegenüber ist eine sogenannte Active-City-Bewegungsinsel gewachsen – wie bald in jedem Bezirk der Stadt. Sie stehen in der Tradition der alten Trimm-dich-Pfade und erzählen zugleich viel vom Wandel. Sie mahnen, Herz und Kreislauf in Schwung zu halten. Sie stehen nicht mehr verstreut im Wald herum, sondern sind ökonomisch auf wenigen Metern konzentriert, sie sprechen ein übles denglisches Kauderwelsch wie „Cool Down“ oder „Warm Up“ und sind selbstverständlich TÜV-zertifiziert. Nur falls jemand klagen will ...
Und plötzlich steht man im Kurort: Marmstorf
Je länger ich am Außenmühlenteich entlangwandere, desto mehr verblasst die Stadt. Die Landschaft wandelt sich, wird selbst ein Midsommerland. Verspielt und schattig windet sich der Schulteichgraben südwärts, ich treffe immer weniger Menschen. Am Wegesrand tun sich Felder auf. Der Süden ist grün.
Und plötzlich stehe ich inmitten eines Kurorts. Reetgedeckte Häuser, prächtige Niedersachsenhöfe, die Straße trägt Kopfsteinpflaster; der Ort schmiegt sich sanft an den Geestrücken, alte Bäume spenden Schatten. Das soll Hamburg sein? Das ist Marmstorf. Ein Walddorf im Süden.
Über den Marmstorfer Postweg strebe ich dem Stadtrand zu; die Straßennamen klingen unernst: Der Irrweg biegt links ab, er endet als Sackgasse. Hier ist das Land in der Stadt versteckt. Erst an der Sinstorfer Landstraße kommt die Metropole noch einmal mit Macht zurück. Die Autobahn 7 überquert die Straße, links liegt ein großer Gewerbehof. Ich steuere ihn nicht ohne Eigennutz an, braut doch hier Oliver Wesseloh, der Weltsommelier der Biere, das großartige Kehrwieder. Zumindest braut er es meistens, nur nicht heute. Betriebsferien. Sommerfrische kann grausam sein.
Es musst nicht immer City sein: Ab in den Süden
Statt ein kühles Pale Ale zu genießen, gehe ich dorthin, wo der Pfeffer wächst. Die Gewürzmanufaktur Ankerkraut ist eine Hamburger Erfolgsgeschichte. Was in einer Garage in Harburg begann, haben die Gründer Anne und Stefan Lemcke längst zum mittelständisches Unternehmen mit 60 Angestellten veredelt. „Auch andere Anbieter stellen gute Gewürze her“, sagt Timo Haas, Marketingleiter bei Ankerkraut. „Aber in unserer Kombination sind wir einzigartig.“
Ankerkraut verzichtet auf Zusatzstoffe wie Rieselhilfen, setzt stur auf eigene Ideen, höchste Qualität, ein einzigartiges Design und pfiffige Namen. Der Auftritt in der Gründer-Castingshow „Die Höhle des Löwen“ hat die Lemckes nach vorne katapultiert. Inzwischen hat Ankerkraut 250 Gewürze und Gewürzmischungen im Angebot. Weitere sollen hinzukommen, Lemcke jettet als Geschmacksreisender um die Welt.
Sinstorf mag am Rande der Stadt liegen, clevere Unternehmer haben den Stadtteil auf die Deutschlandkarte gesetzt. Stadt ist Abenteuer, sie lebt nicht nur von Häusern und Hinterhöfen, Flusslandschaften und Straßenschluchten, sondern vor allem von den Ideen ihrer Bürger, dem kreativen Geist, dem Unfertigen und den Unterschieden. Es muss nicht immer City sein, es lohnt, Hamburg immer neu zu entdecken. Ab in den Süden.