Hamburg. Vor 25 Jahren gewann er als letzter Deutscher die German Open am Rothenbaum. Eine Rückschau zwischen Grauen und Staunen.
Es werde gewiss nicht lange dauern, ehe er sich mit Grausen abwende, hatte Michael Stich angekündigt. Und tatsächlich ist noch kein Ball gespielt, als er das erste Mal die Hände vor das Gesicht schlägt. Die Erkenntnis, dass der junge 1,93-Meter-Schlaks mit den dünnen Storchenbeinen und der Prinz-Eisenherz-Gedächtnisfrisur, der da angespannt und dennoch leichtfüßig über den roten Sand des Centre-Courts am Hamburger Rothenbaum tänzelt, er selbst ist, kommt für den 49-Jährigen natürlich nicht überraschend.
Schmerzhaft allerdings scheint sie noch immer zu sein, auch nach mehr als 25 Jahren. „Meine Güte, hatte ich eine üble Frisur“, sagt Stich also, „wenn es möglich wäre, müsste man den Friseur heute noch verklagen. Wobei man sich ja die Frage stellen muss, ob ich überhaupt bei einem Friseur gewesen bin, denn als Frisur kann man das ja eigentlich nicht bezeichnen!“ Auch Legenden muss man widersprechen, wenn sie Unsinn reden. Aber hier ist Widerspruch tatsächlich nicht angebracht.
Michael Detlef Stich, geboren am 18. Oktober 1968 in Pinneberg, ist ein Mann, der auf seine äußere Erscheinung durchaus achtet. Auch wenn sein Frühstück an diesem Morgen aus einer Dose Cola und einem Waffelkeks besteht, hat der wohl bekannteste Hamburger Sportler nach Uwe Seeler den Körper, der ihn zur deutschen Tennislegende machte, weitgehend konservieren können. Unter dem weinroten Poloshirt zeichnet sich kein Wohlstandsbäuchlein ab, die Haare sitzen, akkurat gestutzt und mit einem Pflegeprodukt in Form gebracht.
Zum Termin in seinem Büro an der Heilwigstraße ist Stich mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis gekommen. Weil sein Titelgewinn am Rothenbaum 25 Jahre her ist und seitdem kein deutscher Spieler mehr dort triumphieren konnte, bat das Abendblatt den heutigen Turnierdirektor zum gemeinsamen DVD-Schauen. Auf dem Programm: der vom NDR erstellte Sendungsmitschnitt von Stichs Finale am 9. Mai 1993 gegen den Russen Andrej Tschesnokow.
Brodelnde Atmosphäre
Nie zuvor hat er das Match in voller Länge gesehen. Videoanalyse, um den Gegner zu studieren oder um seine eigenen Fehler noch einmal im Nachhinein zu sezieren, so etwas gab es zu seiner aktiven Zeit nicht; wenigstens nicht bei ihm. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich das brauchte. Heute würde ich es anders machen“, sagt er. Na dann: Film ab.
Auf dem Laptop-Bildschirm erscheint ARD-Moderator Gerhard Delling, damals 35 Jahre alt und modisch in etwa auf dem Stand wie Stichs Frisur. Angesichts der blauroten Krawatte, die er zum lindgrünen Hemd trägt, möchte man jedem Zuschauer wenigstens eine vorübergehende Farbblindheit wünschen. Stichs Outfit, das ihm sein damaliger Ausrüster Reebok zur Verfügung gestellt hat, ist allerdings auch nicht viel besser.
„Streifenhörnchen“, so nennt sich Stich selbst, als er sieht, wie er auf dem Court vor dem Warmspielen die Trainingsjacke abstreift. „Damals fand ich die Kleidung super, auch wenn diese weit geschnittenen Shirts eigentlich total unpraktisch waren, weil man manchmal darin mit dem Schlägergriff hängen blieb. Aber diese Slim-Fit-Hemden, die die Jungs heute tragen, gab es damals ja nicht, auch wenn wir sie hätten tragen können.“
Im Hintergrund ist Jo Brauner zu hören, der Stadionsprecher, der die Kontrahenten vorstellt. Brauner, heute 80 Jahre alt, war als „Tagesschau“- und als Stadionsprecher des HSV die Stimme Hamburgs. Wer die heutigen Animateure in Sportarenen in ihre Mikrofone brüllen hört, wünscht sich bisweilen die Sachlichkeit eines Jo Brauner zurück.
An die Minuten vor seinem zweiten Rothenbaum-Endspiel – 1992, ein Jahr zuvor also, war er am Schweden Stefan Edberg gescheitert – hat Michael Stich kaum Erinnerungen. Einzig die brodelnde Atmosphäre rund um das damals noch offene Stadion hat er abgespeichert. Hamburg stand noch immer unter dem Eindruck des Attentats auf Monica Seles, die neun Tage vorher während des Damenturniers an selber Stelle vom geistesgestörten Steffi-Graf-Fan Günter Parche mit einem Küchenmesser in den Rücken gestochen worden war. Nun hatte, 29 Jahre nach dem Triumph von Wilhelm Bungert, wieder ein Deutscher die Chance auf den Titel, und dann auch noch der aufstrebende Jungstar aus der eigenen Stadt!
Aufschlag war eine gute Waffe
„Beim Einschlagen, das ich mit meinem Coach Mark Lewis traditionell auf einem Kleinfeld absolvierte, habe ich gesehen, wie immer mehr Menschen auf die Anlage strömten. In dem Moment wurde mir klar, dass die allermeisten davon wegen mir kamen, und das macht dann doch etwas mit einem 24-Jährigen“, sagt er. Zwei Jahre zuvor, als 22-Jähriger, hatte er in Wimbledon zwar seinen einzigen Titel bei einem Grand-Slam-Turnier gewonnen. Aber Hamburg, das Turnier in seiner Heimat, das er schon als Kind besucht hatte, besaß einen Stellenwert, mit dem nichts anderes mithalten konnte. Den Beweis dafür lieferte die emotionale Siegerrede.
Die allerdings ist noch gute dreiein-viertel Stunden entfernt, als Stich und Tschesnokow zur Seitenwahl ans Netz schreiten. Schiedsrichter Paulo Pereira aus Brasilien, gegen die Hamburger Maisonne mit einem weißen Baseballcap geschützt, hat die beiden Kontrahenten zu sich gerufen. Der Gast aus Russland gewinnt den Münzwurf und entscheidet sich für Rückschlag. „Ich habe immer eher versucht, zuerst aufzuschlagen, weil mein Aufschlag eine gute Waffe war und es das Selbstbewusstsein stärkt, wenn man mit einer Führung ins Match startet“, sagt Stich, der auch auf dem Bildschirm nicht wirkt, als sei er über Tschesnokows Wahl besonders unglücklich. Allerdings, sagt er, habe sich der Russe durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. „Gefühlt war es ihm völlig egal, ob er aufschlagen durfte oder ich. Gegen ihn musste man immer extrem gut spielen, weil er ein sehr gutes Auge hatte und schnell konterte. Da wirkte ein Serve-and-Volley-Spiel, das ich bevorzugte, nicht so gut wie bei vielen anderen Gegnern.“
Michael Stich: Highlights und Enttäuschungen der letzten zehn Jahre
Stich ging als klarer Favorit in die Partie. Tschesnokow, der zwischen 1985 und 2001 auf der Profitour spielte und damals 27 Jahre alt war, wurde in der Weltrangliste nur auf Position 74 geführt. Der Lokalheld dagegen, 1988 als Profi gestartet und 1997 nach dem Halbfinal-Aus gegen den Franzosen Cedric Pioline in Wimbledon wegen Dauerblessuren an Schultern und Knie vom Leistungstennis zurückgetreten, war Elfter des Rankings. Zwar hatte der Russe drei der fünf vorangegangenen Duelle mit Stich für sich entschieden, auf Sand jedoch, wo der Hamburger sich wohler fühlte als sein Gegner, war es das erste Aufeinandertreffen. Die einzige Frage, die auch Reporter Volker Kottkamp (heute 74) in seiner Anmoderation thematisierte, war die nach der Fitness.
Tschesnokow war nach einem 6:0, 6:2-Viertelfinalspaziergang gegen den Argentinier Horacio de la Peña durch einen ebenso lockeren 6:2, 6:4-Sieg über den Münchner Bernd Karbacher ins Finale eingezogen. Stich dagegen hatte in seinem besten Turniermatch im Viertelfinale beim klaren 6:3, 6:2 endlich den ersten Sieg gegen US-Topstar Ivan Lendl geschafft. „Das hat emotional viel Kraft gekostet“, erinnert er sich. Es folgte ein physischer Kraftakt gegen den Spanier Emilio Sanchez, den er am Sonnabend, einen Tag vor dem Endspiel, mit 5:7, 7:6 (7:3), 7:6 (7:2) niederringen konnte. Und nun sollte es im Endspiel über drei Gewinnsätze gehen. Konnte das klappen?
Zu viele Fehler
Kottkamps Zweifel an seiner körperlichen Verfassung kontert Stich vor dem Bildschirm mit einem Lachen. Er schätzt den Kommentator, der bis 2008 für die ARD am Mikrofon saß, sehr, „ich habe ihm immer gern zugehört, er war ein angenehmer Typ“. Aber in dem Fall seien alle Sorgen unangebracht gewesen. „Du bist, insbesondere bei einem Finale in deiner Heimatstadt, so mit Adrenalin vollgepumpt, dass es vollkommen egal ist, ob du am Tag zuvor eine oder drei Stunden gespielt hast“, sagt Stich.
Tatsächlich ist, als endlich der erste Ball gewechselt wird, von Müdigkeit doch ein wenig zu sehen. Stich macht viele leichte, auch ungewohnte Fehler, insbesondere beim Volley und bei der Vorhand. Sein erstes Aufschlagspiel bringt er allerdings, trotz eines Breakballs gegen sich, mit zwei rund 200 km/h schnellen Assen durch. „Auf den Service konnte ich mich verlassen“, sagt er. Nicht wenige hielten vor allem seinen zweiten Aufschlag für den besten der Welt.
Doch schon im zweiten Spiel, das Tschesnokow leicht gewinnt, zeigen sich die ersten Schwächen. „Da bin ich schon leicht genervt, weil ich zu viele Fehler mache, siehst du?“, sagt er und deutet auf den Schirm, auf dem der junge Stich eine wegwerfende Handbewegung macht. Dazu diese Geste, die bei Tennisprofis oft zu sehen ist – das Durchschwingen des Arms als Trockenübung ohne Ball, um sich selbst noch einmal zu vergewissern, dass man es doch eigentlich viel besser kann. „Das hilft auch, um den Fokus zu behalten und die negativen Emotionen abzublocken, die nach einem Fehler aufkommen“, sagt er.
Von den modernen Auswüchsen der Regenerationsarbeit wie stundenlanger Konsultation von Physiotherapeuten und Masseuren, dem Eintauchen in Eisbäder oder der Zufuhr von Superfood getauften Spezial-Energieriegeln hat Stich keine sonderlich hohe Meinung. „Ich glaube sogar, dass dieses Verhätscheln des Körpers zu mehr Verletzungen führt. Die Spieler verlernen dadurch, auf die Signale zu hören, die ihr Körper ihnen sendet“, sagt er.
Dass heutzutage auf der Bank im Zehnminutentakt gegessen werde, hält er ebenfalls für eine Modeerscheinung ohne erkennbaren Nutzen. „Ich habe früher nur dann mal ein Stück Banane gegessen, wenn ich wirklich Hunger hatte. Energie-Gel oder Müsliriegel gab es bei mir nicht. Nach einem Match habe ich ein paar Nudeln gegessen und ein Bier getrunken.“ Seinen Zuckerschub während eines Matches holte Stich sich aus Cola. „Die habe ich im Wechsel mit stillem Wasser getrunken. Einerseits wegen der Energie aus dem Zucker, aber auch wegen des Geschmacks. Nur Wasser, das fand ich langweilig, und die damals aufkommenden Mineralgetränke mochte ich nicht“, sagt er.
„Tennisspielen war für mich damals kein Beruf“
Zwei Dinge sind es, die in der Anfangsphase des Finales besonders auffallen. Zum einen die Armbanduhr an Stichs linkem Handgelenk; ein Accessoire, das heute kaum noch einer der aktuellen Profis trägt. Die Erklärung dafür ist allerdings nicht in der wechselnden Mode zu finden, sondern deutlich einfacher. „Ich hatte damals einen Vertrag mit Ebel und war verpflichtet, diese Uhr zu tragen. Sie hat mich nicht gestört“, sagt Stich.
Zum anderen, und das ist im Vergleich zur heutigen Generation höchst angenehm: Die Zeit zwischen den Ballwechseln ist deutlich kürzer. Dass das 1993er-Finale mit Beteiligung des spanischen Sandplatzhelden Rafael Nadal wohl fünf statt 3:12 Stunden gedauert hätte, liegt nicht nur an der gewachsenen Athletik oder daran, dass heute kaum noch jemand Serve-and-Volley spielt. Sondern die allermeisten versuchen, mehrere Meter hinter der Grundlinie ihr Territorium zu verteidigen. „Wenn ich sehe, dass die Jungs heute nach fast jedem Ballwechsel zum Handtuch rennen und sich das Gesicht abwischen! Guck mal, wie wir das gemacht haben. Punkt, umdrehen, weiterspielen. Und geschwitzt haben wir auch“, sagt Stich. Im Training wische sich niemand ständig im Gesicht herum, und bei jedem Ballwechsel gestöhnt, wie leider längst auch im Herrentennis üblich, wurde auch nicht. „Ist alles Gewohnheit. Ich würde mir wünschen, dass das in Matches auch wieder weniger würde.“
Kann sein, dass er gerade ein wenig klingt wie diese Menschen, die finden, dass früher sowieso alles besser war. Aber es stimmt, das Match erscheint, auch wenn das Niveau nicht das Prädikat „Weltspitze“ erreicht, flüssiger als heutige Partien. „Wenn ich heute gegen einen wie Nadal spielen müsste, der vor jedem Aufschlag ewig an seinem Hemd herumzupft, da würde ich verrückt werden“, sagt Stich, während auf dem Bildschirm der in einer Loge platzierte damalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel (FDP; heute 81) für einen sehr gelungenen Vorhandstopp Stichs applaudiert. „Ach, der war auch da? Das habe ich gar nicht gewusst“, sagt er.
Politik spielt im Leben von 24-Jährigen meist keine große Rolle. Michael Stich war da keine Ausnahme. Er wuchs im bürgerlichen Milieu auf. Vater Detlef, der für Stichs zweiten Vornamen Pate stand, war Diplomkaufmann, die 1999 verstorbene Mutter Gertrud verzichtete zugunsten der Betreuung der drei Söhne – Thorsten ist sieben, Andreas zwei Jahre älter als Michael – auf ihren Beruf als Sekretärin. Stich machte an der Bismarckschule in Elmshorn sein Abitur. Dass er sein Geld später mit seinem Hobby verdienen würde, stand lange Zeit überhaupt nicht zur Debatte. „Tennisspielen war für mich damals kein Beruf“, sagt er.
1991 erstmals in Top Ten der Weltrangliste
Erst mit dem Gewinn der deutschen Jugendmeisterschaften 1986 begann Stich zu überlegen, ob ihm sein Talent nicht doch den Weg in den Profisport ebnen könnte. 1991 stieß er durch den Halbfinaleinzug bei den French Open in Paris erstmals in die Top Ten der Weltrangliste vor, im November 1993 erreichte er auf Rang zwei seine höchste Platzierung, nachdem er bei der ATP-WM unbesiegt zum Titel marschiert war.
Es war die Zeit, in der sich Michael Stich Gedanken darüber zu machen begann, wie er seine Preisgelder anlegen sollte. Anfangs hatte sich sein Vater darum gekümmert, doch 1994 hatte Stich die Idee, eine Stiftung zu gründen. Seitdem leisten er und sein Team Aufklärungsarbeit rund um das Thema HIV und Aids. Fast zwei Millionen Euro, erwirtschaftet aus Wohltätigkeits-Events wie Golfturnieren oder dem jährlichen Drachenbootrennen auf der Alster, sind an die Immundefekt-Ambulanz des Universitätsklinikums Eppendorf geflossen, damit praktische Hilfe für am HI-Virus erkrankte Kinder geleistet werden kann. „Ich wusste damals nichts über Aids. Sich mit einem solchen Thema zu beschäftigen, das hat mich enorm reifen lassen“, sagt er.
Auf dem Centre-Court hat Michael Stich gerade das Break zum 3:1 im ersten Satz geschafft. Er ist jetzt auch vor dem Laptop voll drin im Match. „Komm jetzt!“, feuert er sich an. Das ist deutlich mehr Emotion, als er auf dem Platz zeigt. „Freude über gelungene Punkte war bei mir äußerlich kaum zu sehen, das war immer so“, sagt er. „Aufregen konnte ich mich immer über Negatives, weil ich wusste, dass ich es viel besser kann. Es musste immer perfekt sein, damit ich zufrieden war.“ Diese Besessenheit, an jedem Tag wieder ein Stück besser zu werden, zeichnet diejenigen aus, die es in die Spitze schaffen. Wobei Stich Wert darauf legt, auf das richtige Maß zwischen An- und Entspannung zu achten. „Keiner kann jeden Tag auf Hochtouren fahren. Du musst wissen, wann es wirklich wichtig ist.“
Sein Aufschlagspiel zum 4:1 bringt Stich zwar durch, aber ihm fällt auf, dass ihm das keine Sicherheit bringt. „Wie auch, denn ich hatte in jedem Aufschlagspiel Breakbälle gegen mich. Tschesnokow steht erstaunlich knapp hinter der Grundlinie, wenn ich serviere. Er konnte meinen Aufschlag gut lesen und hat ihn attackiert. Unsere Taktik war gewesen, ihn hoch in die Mitte anzuspielen, um ihm keine Konterschläge zu ermöglichen. Aber das hat nicht funktioniert, und das sieht man mir an. Ich bin unzufrieden.“
Beim Stand von 4:2 sieht man zum ersten Mal, dass Stich einen Blick zur Trainerbox hinüberwirft, in der sein Coach Mark Lewis neben dem im Jahr 2000 verstorbenen Daviscup-Teamarzt Joseph Keul sitzt. Augenkontakt war damals die einzige Art von Steuerung, die Stich zuließ. „Ich wollte nie während eines Matches gecoacht werden.“ Die Idee der Herrentennisorganisation ATP, Coaching während eines Matches zu gestatten oder die Trainer gar auf die Bank zu lassen, gefällt ihm nicht. „Auf dem Platz sollte ein Spieler für sich selbst verantwortlich sein!“ 4:2, 15:0, wieder ein ganz schwacher Volley. „Ich bin faul, bewege mich schlecht“, hadert der Stich vor dem Schirm mit dem auf dem Schirm. Aber der Aufschlag kommt, sechstes Ass zum 5:2, Tschesnokow verkürzt zwar noch einmal, aber nach 35 Minuten geht der erste Durchgang mit 6:3 an den Favoriten. 69 Prozent Erfolgsquote beim ersten Aufschlag sind für einen Risikospieler wie ihn ein starker Wert, 13 von 25 Netzpunkten ein schwacher. „Touchloses Gefummel“, schimpft er. Auf dem Platz äußert sich die Unzufriedenheit im Zurechtziehen der Schlägerbesaitung; ein Ritual, das man heute fast kaum noch sieht. Aus einfachem Grund: „Wir haben damals mehrheitlich noch mit Darmsaite gespielt, die sich bei jedem Schlag verzogen hat. Heute sind die Saiten aus Kunststoff, die nicht mehr verrutschen.“ Leuchtet ein. Stattdessen nimmt man eben mehr Handtuchpausen.
Es gibt eine ganze Reihe an Sportlern – Tennisprofis sind da keine Ausnahme –, die sich ganz genau an jeden einzelnen Wettkampf erinnern. „Wenn du Niki Pilic fragst, wie sein Halbfinal-Match im Doppel 1970 bei den US Open ausging, wird er dir sogar noch sagen können, wann genau das erste Break gelungen ist. Er kennt sogar meine Ergebnisse besser als ich selbst“, bemüht Stich das Beispiel des langjährigen deutschen Daviscup-Kapitäns Pilic, unter dem er 1993 den wichtigsten Mannschaftswettbewerb der Welt gewinnen konnte. Stich selbst ist keiner dieser Sportler, er hat wenige Ergebnisse wie auf Knopfdruck parat. Dass er jedoch nicht einmal mehr weiß, dass im Rothenbaum-Finale von 1993 der zweite Satz im Tiebreak verloren geht und dass er im dritten Satz den Tiebreak trotz 1:5- und 3:6-Rückstands noch gewinnt, überrascht dann doch.
Unzufriedenheit und Ungeduld brechen sich vor dem Bildschirm im selben Maße Bahn, wie der junge Stich auf dem roten Sand die Contenance verliert. 1:1 im zweiten Satz, wieder fliegt eine zu schlecht getroffene Vorhand ins Aus. Auf dem Court schmettert Stich wütend einen Ball auf den Sand und ist kurz davor, seinen Schläger zu zerhacken. Auf seinem Bürostuhl sitzend schlägt er sich mit der flachen Hand wuchtig auf den Oberschenkel. „Ich bewege mich wie ein Schlumpf. Was hätte ich noch erreichen können, wenn der liebe Gott mir eine Vorhand geschenkt hätte! Es ist unfassbar, was ich da spiele“, platzt es aus ihm heraus. Mit einem Doppelfehler schenkt er Tschesnokow das Break zum 3:1. Reporter Kottkamp sagt, das habe sich abgezeichnet.
Der doppelte Stich ist unzufrieden, er leidet sichtlich, als Tschesnokow mit dem zehnten Punkt in Serie 4:1 in Front geht. Der Schläger wird auf den Boden geprügelt, bleibt aber ganz. „Schläger zerhacken habe ich oft gemacht früher, Das ist ein geiles Gefühl, vor allem auf Hartplatz, wenn er so richtig schön zerbricht.“ Dass Jungs wie Alexander Zverev heute schon als Rüpel gelten, wenn sie ihr Arbeitsgerät öffentlich zu Klump hauen, hält Stich für Unsinn. „Der Ärger muss ja auch mal raus.“
Kurioser Moment
Dass Tennismatches durch kuriose Ereignisse kippen, hat man schon oft gesehen. Auch dieses Endspiel hat einen solchen Moment, als beim Stand von 2:5 im zweiten Satz die Mikrofonanlage streikt. Mehrere Minuten müssen beide Spieler warten, Tschesnokow schnappt sich sogar einen Stuhl und setzt sich an die Grundlinie. „Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern“, sagt Stich. Genützt hätte es ihm aber fast, denn der Russe ist aus dem Rhythmus, Stich kommt auf 5:5 heran. Zwei Spiele später gibt es den ersten Tiebreak. Stich spielt ohne Spannung, ohne Konzentration.
Beim Stand von 0:5 pfeift jemand im Publikum. „Das habe ich sofort gehört. Guck, ich beschimpfe den“, sagt er. Diese selektive Wahrnehmung habe er immer gehabt. „Wenn es gut lief und das Publikum hinter mir war, habe ich nichts davon wahrgenommen. Aber wenn es schlecht lief und einer hat gemeckert, hab ich den sofort gesehen.“ Gefallen findet Stich allerdings nicht an der Reaktion, die er gerade sieht. „Ich war sicherlich nicht immer ein Sympathieträger auf dem Platz. Ich konnte schon ein ziemlicher Kotzbrocken sein.“
Tatsächlich hatte Michael Stich es nicht leicht, die Sympathien des Volkes zu erobern. Da gab es diesen 17-Jährigen aus Leimen, der 1985 Wimbledon – und damit die Herzen aller Tennisfans – gewann. Stich war mit Sicherheit nicht der schlechtere Tennisspieler als Boris Becker, mit dem er 1992 in Barcelona Olympiasieger im Doppel wurde. Im Gegenteil: Jim Courier, einer der US-Stars jener Zeit, sagte einmal den Satz: „Wenn wir alle an unserem Leistungslimit spielen, dann ist Michael der Beste.“
Die Fähigkeit, die Becker hatte, war allerdings die, dass er das Publikum mitriss und dazu nutzte, so oft wie möglich an sein Leistungslimit zu gelangen. Stich dagegen hat sich schon ein ums andere Mal gefragt, was möglich gewesen wäre, wenn er noch intensiver, noch fokussierter für seine Karriere gearbeitet hätte. Mit Sicherheit aber wäre er dann nicht der Mensch geworden, der er heute ist: einer, der sein Leben im Griff hat, der eigene Unternehmen führt, sechs Ehrenämter ausübt, sich für zeitgenössische Kunst ebenso interessiert wie den Aufbau eines Onlineportals. Und der aus voller Überzeugung sagt, dass er glücklich ist mit dem Leben, das er führen darf.
Tschesnokow war ein starker Konterspieler
Bis zum großen Glück am Rothenbaum ist es indes noch ein weiter Weg. Nach dem ersten Spiel des dritten Satzes macht Stich jetzt seine erste Pause, geht zum Luftschnappen auf die Terrasse. Als er zurückkommt, sieht er einen deutlich aggressiveren Spieler, dem es hilft, dass er sich auf seine Stärken besinnt. „Das war nicht geplant, weil Tschesnokow als starker Konterspieler Netzangriffe auszunutzen verstand. Aber ich war unzufrieden und musste etwas ändern. Grundsätzlich habe ich meist versucht, nur auf mich zu schauen und nicht darauf, was der Gegner gut kann.“ Aberglaube war außerdem nie Stichs Metier. Seine einzige Marotte ist auch auf der Aufzeichnung zu beobachten: beim Seitenwechsel nicht auf Linien zu treten. Ansonsten sieht man mehr Überzeugung, das Finale gewinnen zu können.
Karen Krüger betritt den Raum, Stichs langjährige Managerin, Beraterin, längst auch eine gute Freundin. Sie reden über die vielen Finals, bei denen sie nicht live dabei sein konnte, weil sie Kunden zu betreuen oder anderweitig zu arbeiten hatte. Auf dem Platz gleicht Tschesnokow zum 4:4 aus und hat bei 40:0 drei Breakbälle, die Stich abwehrt, bei 30:40 mit einem sehr gewagten Stopp. Als er sich das Spiel mit einem Ass holt, kommt erstmals die Jubel-Faust. „Siehst du, die Stich-Faust. Aber bloß nicht laut jubeln. Niki Pilic hätte jetzt gesagt, ich hätte Tschesnokow am Break schnuppern lassen.“ Um ihm am Ende dann doch zu zeigen, wer der wahre Champion ist.
Diese Demonstration gibt es dann noch eine Spur deutlicher im Tiebreak. Der Russe führt schnell 3:0. „Ich bewege mich unheimlich schlecht“, schimpft Stich, der nun fast so aufgeregt ist, als säße er vor einem Livematch, dessen Ausgang er nicht kennt. Bei 3:6 hat Tschesnokow drei Satzbälle, aber Stich attackiert ihn so aggressiv, dass er alle vergibt. Der Vorhandfehler bei 7:6 und eigenem Satzball ärgert ihn zwar, aber als der Stich auf dem Platz nach dem zum 9:7 verwandelten zweiten Satzball die rechte Faust nach oben reißt, wird auch in Eppendorf auf dem Bürostuhl kurz gejubelt. Coach Lewis sitzt derweil in der Box und nickt seinem Schützling wohlwollend zu.
Stich und Lewis lernten sich 1988 kennen, als der damals 20 Jahre alte Hamburger für Iphitos München in der Bundesliga antrat, wo der nur acht Jahre ältere Neuseeländer Cheftrainer war. „Mark war kein großer Spieler, aber als Trainer war er absolut klasse. Er hatte eine tolle Art zu führen und zu analysieren“, sagt Stich. 1990 begann Lewis, mit seinem Schützling auf Tour zu gehen, 1991 holten sie gemeinsam den Wimbledon-Titel, nach den US Open 1993 trennten sich ihre professionellen Wege. Nach dem Triumph am Rothenbaum sprangen sie in den privaten Pool des gastgebenden Clubs an der Alster – aber nicht, ohne vorher die Schuhe auszuziehen. Gute Manieren galt es zu pflegen, da waren sich beide ähnlich. Dass sie bis heute ein freundschaftliches Verhältnis pflegen, überrascht nicht. An diesem Wochenende, wenn Stich in Newport (US-Bundesstaat Rhode Island) in die Hall of Fame des Tennis aufgenommen wird, reist Lewis aus Auckland an, um die Laudatio zu halten.
Er hortet keine Erinnerungsstücke
Die Rede auf dem Hamburger Centre-Court, die Stich bis heute peinlich ist, rückt näher. Er spielt nun besser als sein Gegner, auch wenn das Match weiterhin nicht auf allzu hohem Niveau steht. Bei 5:3-Führung fängt das TV-Bild auf der DVD zu flimmern an. Das Wichtigste aber sieht man wieder in guter Qualität. Stich vergibt drei Matchbälle bei Aufschlag Tschesnokow, serviert selbst zum Match und holt den letzten Punkt bei 40:30 und dem fünften Matchball mit einem gelungenen Vorhandvolley. Nicht gerade charakteristisch für das Match, aber das stört niemanden. Ärgerlicher ist, dass der Sieger, nachdem er seinen Schläger hoch in die Luft geworfen hat, in seine Box rennt, um sein Team zu herzen, statt dem Unterlegenen am Netz zu gratulieren. „Das ist mir erst später klar geworden, aber Andrej hat es mir verziehen, als er gesehen hat, wie viel mir dieser Sieg bedeutete“, sagt er.
Fast greifbar wird diese Bedeutung, als Michael Stich zum Mikrofon greift, um die obligatorischen Dankesworte zu sprechen. Keinen Satz bringt er heraus, ohne dass die Stimme bricht, mehrfach muss er sich Tränen aus den Augen wischen. Es ist eine sehr sympathische, ehrliche Rede eines jungen Mannes, der sich gerade einen Lebenstraum erfüllt hat. Aber wer es nicht gern hat, im Mittelpunkt zu stehen, der kann nachfühlen, warum der gereifte Stich auf die Terrasse geht, während die Rede läuft.
Dafür haben sich nun neben Karen Krüger auch noch die beiden Stiftungsmitarbeiterinnen Daniela Hendricks und Alexandra Bartholomaiou vor den Laptop gesetzt. Und spätestens als Michael Stich auf dem Court „allen Müttern noch einen schönen Muttertag“ wünscht, ist auch an der Heilwigstraße die Rührung groß.
242.000 Dollar Preisgeld, umgerechnet rund 336.000 D-Mark, war der Erfolg wert. Geld, das Stich wie immer nicht für unnützen Luxus ausgab, sondern klug anlegte. Die einzige materielle Belohnung, die er sich nach einem Turnier gönnte, war 1996 bei den French Open eine Uhr, an der er auf dem Weg zur Anlage in Paris jeden Tag vorbeigelaufen war. Er ist auch keiner, der Erinnerungsstücke hortet. Das einzig Greifbare, das ihm geblieben ist vom Triumph beim Heimturnier, ist der Siegerpokal, der im Haus des Vaters in einer Vitrine steht. Einen der Schläger seines Ausrüsters Fischer aus der Reihe mit der Seriennummer MS 369, die er zu jener Zeit spielte, hatte er auch aufbewahrt. Er wurde ihm allerdings vor einigen Jahren, zusammen mit ein paar anderen Relikten, aus seinem Ferienhaus in Südfrankreich gestohlen.
Die Dankesrede ist vorbei, der Applaus der Zuschauer verebbt, Michael Stich ist zurück und sieht noch, wie er im Interview mit Gerhard Delling zugibt, dass er nicht der bessere, sondern der glücklichere Spieler gewesen sei. „Schön zu sehen, dass ich das damals auch schon mitbekommen habe. Spricht dafür, dass ich ein Realist bin“, sagt er. Dann muss er los; fast vier Stunden Zeit für einen einzigen Termin einzuplanen, das ist für einen wie ihn Luxus. Und, war es so schlimm wie befürchtet? „Bis auf die Frisur und die Klamotten ging es. Aber noch mal muss ich das nicht haben.“
Michael Stich wünscht sich, dass in diesem Jahr, in dem er zum letzten Mal am Rothenbaum als Turnierdirektor fungiert, endlich wieder ein Deutscher den Titel holt. Damit er die Vergangenheit hinter sich lassen – und die Zukunft beginnen kann.